Wilhelm Thöring

Die Bärin Roman


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gefallen lassen, Urschel“, murmelt die Großmutter. „Dein Haar war wie lauter Gold...“

      „Marlenchens Haar ist verstaubt, Mutter. Früher, wenn ich es mit Kamille gespült habe – dann war auch ihr Haar wie reines Gold!“ Sie stellt das Bündel mit den Sachen neben die Tür. „Wir haben alles verloren, sagen wir, und doch werden wir uns mit diesem Kram einen Ast abschleppen! Was wir in der kurzen Zeit nicht alles zusammengetragen haben!“

      „Vaters Werkzeug ist schwer“, meint die Großmutter.

      „Ja, es ist auch mehr wert als Lebensmittelmarken“, sagt er.

      Für alle ist auf dem Matratzenlager kein Platz, so wird die Großmutter bei den Enkeln schlafen, der Vater und die Tochter wollen am Tisch sitzen bleiben. Das gehe schon für eine Nacht, meinte Urschel. Im Bunker hätten sie sich manche Nacht noch ganz anders behelfen müssen.

      Und als es dunkel geworden ist, sitzen Vater und Tochter einander am wackeligen Tisch gegenüber, den Kopf auf den Armen und warten auf den Schlaf.

      Vier Räume gehören zur Wohnung hinter der ehemaligen Parteizentrale‚ dazu eine Küche und ein schmales Bad. Auch ein Balkon klebt an der Außenwand, von dessen Gitter ein Teil weggeschossen worden ist. Wortlos ging Großmutter Emma, als sie die Wohnung betreten hatte, durch alle Zimmer. Vor einem Fenster ohne Scheiben blieb sie stehen, um über die Trümmer nach jenem Haus zu sehen, das sie aus tiefem Herzen verabscheute. Sie betrachtete die Gegend, als wollte sie sich einprägen, wo sie fortan zu Hause sein würde. Nachdem sie lange genug die Ruinen angestarrt hatte, ist sie noch einmal durch alle Zimmer gegangen, und dabei prüfte sie in der Küche und im Bad die Wasserhähne – ja, die Leitungen sind unbeschädigt geblieben, die Hähne funktionieren und sie hat Wasser in der Wohnung! Als ihr Mann den ersten Stuhl hereintrug, setzte sie sich darauf, zog die Enkeltochter auf den Schoß, wiegte sie und begann leise zu summen. Ihrer verwunderten Tochter rief sie zu: „Doch, doch, hier ist es gut, Urschel! Hier bleibe ich! Ich habe das Gefühl, dass es mit mir wieder bergauf gehen wird!“

      Als Erstes hat der Großvater die Wohnungstür mit einem Riegel gesichert. Ursula Andreae machte sich über den Schmutz in der Wohnung und im Flur her, und auch die beiden Jungen mussten ihr dabei helfen, wobei der kleinere, der Achim, hinderlich war und nur Spielereien und Unfug im Kopf hatte, so dass sie ihn fortschickte. Notdürftig ist als nächstes eines der vielen Fenster abgedichtet worden, dass kein Wind hereinblasen kann. „In diesem Raum werden wir schlafen“, entschied Ursula Andreae. „Und morgen vernageln wir die anderen Fenster, dass sie alle dicht sind. Hier drinnen wird es nicht so hell sein wie draußen, aber wir haben es trocken und nicht so zugig wie drüben in der Räuberhöhle!“

      Die Großmutter meinte staunend: „Man merkt, dass du lange Zeit ohne Mann bist, Urschel. Nein, wie entschieden du die Dinge angehst!“

      Die Tochter lachte darüber, spuckte in die Hände und wuchtete den Eimer mit dem zusammengekehrten Schutt auf den Balkon und schüttete alles in die Tiefe.

      An diesem ersten Tag in der neuen, in der richtigen Wohnung, wie die Kinder dazu sagen, ist es sehr spät geworden, bis sich auch die Erwachsenen hinlegen konnten. Jetzt hat jeder seine eigene Matratze und es braucht niemand mehr bei den unruhigen Kindern zu schlafen, weil der Vater in einer anderen Wohnung noch gute und feste Matratzen gefunden hat. Auch Decken hat er mitgebracht, dazu Kopfkissen und allerlei Küchengeräte und einen Waschkessel.

      „Was sollen wir damit?“ hat Großmutter Emma gefragt. „Wir haben keinen Herd, um Wasser heiß zu machen.“

      „Nein, heute haben wir noch keinen Herd, Mutter, aber morgen“, gab er zur Antwort. „Es wird alles so kommen, dass du nichts mehr vermisst!“

      Anderntags haben er und Ursula aus einer zerstörten Wohnung in der Nachbarschaft einen Herd samt Ofenrohren, Töpfen und Pfannen geholt und ihn in die Küche gestellt. „Hier kannst du wieder nach Herzenslust kochen“, sagte der Großvater zu seiner Frau und ist, nachdem der Herd angeschlossen war und er ihn geprüft hatte, gegangen, um Bretter und Teerpappe zum Abdichten der Fenster zu besorgen.

      Da noch alle Fensterrahmen vorhanden sind, ist es für Gottfried Straeten nicht schwierig, die zugesägten Bretter vor die Fenster zu nageln. Einen Teil im unteren Bereich lässt er frei, da will er eine Scheibe einsetzen, dass der Raum nicht ganz ohne Tageslicht ist. Und nach einer Woche hat er auch das bewerkstelligt. Zufrieden seine Pfeife rauchend sitzt er in der Stube und freut sich über den Sonnenschein, der durch das kleine Rechteck auf den Fußboden fällt.

      „Woher hast du nur den Tabak“, wundert sich die Tochter. „Ist deine Tabaksdose so etwas wie das Töpfchen im Märchen, aus dem ohne Ende süßer Brei quillt?“

      Der Vater zwinkert ihr listig zu. Dann, nachdem er ein paar tiefe Züge genommen hat, sagt er: „Schachern, Urschel! Tauschen!“

      „Tauschen? Was haben wir denn, um es gegen Tabak einzutauschen?“

      „Schau dich nur einmal in den Trümmern um! Da kannst du noch so manche Herrlichkeit finden! Und dann ab damit auf den Schwarzmarkt!“

      „Vater! Gibt es hier wirklich einen Schwarzmarkt!“ Fast schreit es die Tochter, als hätte der Vater ihr gestanden, dass er Ungeziefer habe. Später fragt sie: „Und was tauschst du da?“ „Von der Christbaumkugel bis zur Kaffeemühle und der verbeulten Kaffeekanne – alles! Auch Bilderrahmen, Lampenschirme und Klamotten aus dem Lumpensack. Noch nehmen sie, was du bringst.“

      „Und Lebensmittel?“

      Nein, Lebensmittel habe er keine gesehen, sagt er. Tabak sei das höchste. Meistens werden andere Dinge getauscht, Werkzeuge, Küchengeräte, halbwegs tragbare Kleidung, auch Schmuck habe er schon gesehen. Er habe gehört, dass es anderswo Schwarzmärkte von ganz anderem Format gebe! Da würde mit Schokolade und Bohnenkaffee gehandelt und sogar mit Nylons!

      „Wenn du einmal etwas Besonderes brauchst, Urschel, ich werde es dir besorgen. Fensterglas ist in der ganzen Stadt nicht zu kriegen, wahrscheinlich gibt es im ganzen Land kein Glas mehr. Unsere Fensterscheiben, die habe ich auch da aufgetrieben, Urschel!“

      Ja, es ist ein Segen, dass die Eltern zu ihr gezogen sind! Wo wäre sie, wenn der Vater nicht gekommen wäre? Unter der tropfenden Decke, zwischen dem Schutt im Keller, wo der Wind ihr durch jeden Spalt Staub und Dreck ins Gesicht blies. Wo vielleicht nebenan noch Leichen unter dem Schutt liegen... An einem kalten, regnerischen Tag Ende April lugte ein heruntergekommener, fremder Mensch in ihre Behausung und fragte nach Leuten, deren Namen sie nie gehört hatte. Es gehe um seine Frau und die beiden Kinder, die haben hier oben im Haus gewohnt. Ob die fortgezogen seien? Sie wisse es nicht, hat sie dem Menschen gesagt. Sie kenne niemanden mit diesem Namen. Jetzt wohne sie hier mit ihren drei Kindern. Und alles, was sie in ihrem Raum stehen habe, das habe sie in diesem Haus gefunden. Der Mann hat sich angehört, was sie zu sagen hatte, und die ganze Zeit hat er sie angesehen, als verheimlichte sie ihm etwas. Dann ist er gegangen. Unten auf der Straße stand er längere Zeit und betrachtete den Schutthaufen, in dem er einmal mit seiner Familie zu Hause war. Vielleicht hätte er noch Steine weggeräumt und nach ihnen gesucht – aber sie und ihre drei Kinder waren ja da und wohnten in einem der Keller.

      Am Abend, als sie im Dunkel zwischen den Kindern auf ihrem Matratzenlager auf den Schlaf wartete, da fiel ihr wieder die Familie jenes Mannes ein, die unter einem Schuttberg oder hinter einer der Mauern liegen könnte, vielleicht an der Stelle, wo sie mit ihren Kindern Nacht für Nacht geschlafen hat, und sie wusste nichts davon. Auf einen erholsamen und die Kräfte stärkenden Schlaf wartete von denen keiner mehr, weil der endlose Schlaf, der vollkommene, sie bereits vor langer Zeit eingeholt hatte. Und plötzlich begann sie zu frieren und sich zu fürchten, und ihre Zähne schlugen aufeinander, dass sie vom Fleck weg nach draußen hätte laufen können, wenn es möglich gewesen wäre.

      Ja, der Vater ist ein Segen, denkt sie voller Inbrunst. Gott schütze ihn und die Mutter, und lass es so werden, dass wir alle wieder fröhlich sein können!

      Anderntags ist es kalt, in der Nacht hat starker Regen eingesetzt. Der Vater hat sich davon nicht abhalten lassen, wieder auf Tour zu gehen, wie er zu seinen Erkundungsgängen sagt. Gestern hat er einen Beutel Kleie aufgetrieben, die die Großmutter mit