Wilhelm Thöring

Die Bärin Roman


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ihn. Er kann nicht dasitzen, die Hände in den Schoß legen und in den Tag stieren... Er muss immer etwas zu werkeln haben. Na, dann wird er uns mit irgendeinem Einfall überraschen.“

      Wieder und wieder prüft Gottfried Straeten mit leuchtenden Augen das Werkzeug, das der Enkel aus dem Kellerloch geholt und die Tochter vor ihm auf dem wackeligen Tisch ausgebreitet hat. Das sei ein Vermögen und mehr wert als der übliche Plunder, den die Menschen gewöhnlich aus den Trümmern ziehen, sagt er. Werkzeug, wenn es in die richtigen Hände komme – das sei die beste Versicherung fürs Überleben. Einen unbezahlbaren Schatz habe der Junge zusammengetragen! Er solle nur herausholen, was herauszuholen sei, er könne alles gebrauchen! Unermüdlich hat der Wolfgang sich durch den Spalt in den Keller gezwängt, in dem er am Vormittag Hammer und Rohrzange gefunden hat. Sogar einige Konservendosen mit Schrauben und Nägeln hat er zutage gefördert, und darüber hat der Großvater sich ebenso gefreut wie über Hämmer und Zangen, Meißel, Schraubenzieher, den nagelneuen Hobel und die verschiedenen Sägen. Wolfgang, du bist ein gescheiter und brauchbarer Junge, hat der Großvater zu ihm gesagt, und er werde nicht lange warten, um damit für die Großmutter, für Mutter und Geschwister eine ordentliche Wohnung herzurichten. Und dabei brauche er eine tüchtige Hilfe, einen geschickten Mann wie den Wolfgang brauche er. Seitdem hielt sich der Junge in der Nähe des Großvaters auf, aber als nichts geschah, ist er enttäuscht spielen gegangen.

      „Was du dem Jungen erzählst! Wo willst du eine Wohnung herrichten?“ fragte die Großmutter. Und als der Großvater erzählte, was er gefunden habe und wo diese Wohnung liege, und dass sie sie gleich heute beziehen sollten, da seufzte sie und winkte ab. In diese Gegend lasse sie sich nicht mit zehn Pferden hinziehen, rief sie.

      „Heutzutage können wir uns weder eine geeignete Wohnung noch die passende Gegend dazu aussuchen! Ich sage dir: Das, was ich gefunden habe, das ist eine günstige Gelegenheit, und wir müssen sie beim Schopfe packen!“ mault Gottfried Straeten, ohne sie anzusehen, auf die geschundene Tischplatte hinunter. „Gleich morgen früh geht’s los, sehr zeitig, bevor ein anderer sich in das Nest setzt. Willst du wie eine Ratte monateoder jahrelang in einem solchen Loch wie diesem hausen? Morgen ziehen wir hinüber! Für sechs Personen ist es hier zu eng. Heute darfst du noch auf diesem Matratzenlager schlafen, aber morgen packen wir alles zusammen und gehen!“

      „Beim braunen Haus! Früher, ja, da habe ich immer einen großen Bogen um dieses Haus gemacht“, erklärt die Großmutter der Tochter. „Und jetzt will der Vater gleich dahinter seine Zelte aufschlagen...“

      „Dahinter ist nicht darin!“ empört sich der Großvater. „Du musst heutzutage froh sein, Mutter, wenn du überhaupt ein Dach über dem Kopf hast! Es ist auch nur vorübergehend, ein Provisorium, aber ein besseres als das, aus dem wir kommen, auch ein besseres als das, in dem wir hier leben. Du musst ja nicht bis in alle Ewigkeit hinter dem braunen Haus wohnen bleiben! Das Haus an sich ist nicht schrecklich, und die, die dieses Haus zum Schrecken gemacht haben, die sind verschwunden und über alle Berge...“

      Die Großmutter seufzt, ja, es stimmt, was der Großvater sagt, aber sie weiß nicht so recht. Sie hat sich geschworen, niemals in den Schatten dieses Hauses zu kommen, geschweige denn, es zu betreten. Wenn sie sonntags zur Kirche ging, dann musste sie an der Parteizentrale vorbei, und immer stand einer von den aufgeblasenen Kerlen in seiner braunen Kluft, in Stiefeln und geschweiften Hosen, das Sturmband unterm Kinn, auf der Straße und versuchte, die Leute vom Kirchgang abzuhalten. Manches Mal kam sie nach Hause und sagte: „Heute habe ich wieder eine Sünde auf mich geladen: Ich habe darum gebetet, dass nicht immer unsere Häuser, die überhaupt nicht überflüssig sind, getroffen werden, sondern dass endlich einmal der braune Kasten von einer Bombe in die Luft gejagt wird! Es würgt in meinem Hals, wenn ich schon von Weitem diese braunen Kettenhunde sehe! Um nicht immer an ihnen und diesem scheußlichen Schuppen vorbeizumüssen, könnte ich unser geliebtes Viertel verlassen!“

      Die Tochter meint: „Der Vater hat recht, Mutter: Das Haus an sich ist niemals schrecklich gewesen, es war das Pack, das sich da eingenistet hatte.“

      Mit brüchiger Stimme entgegnet die Mutter: „Ich weiß gar nichts mehr. Wie ein Zigeuner ziehe ich von einem Ende der Stadt zum anderen... Heute hier, morgen da! Ich möchte irgendwo in Frieden bleiben können.“

      Der Vater ist noch ungeduldiger geworden. „Ich habe dir gesagt, Emma, dass es eine taugliche Wohnung ist: Dach und Wände sind dicht, bis auf einen Raum gibt es noch überall Fußböden... Was fehlt, das sind die Fensterscheiben. Aber die fehlen überall, und die lassen sich reparieren. Alle Wasseranschlüsse funktionieren, du hast Wasser in der Küche und im Bad! Ja, auch das gibt es noch. Kein Wasserschleppen mehr, keine Sitzungen auf dem Eimer, bis du einen Krampf im Hintern kriegst... Und dann – Mutter, es stehen sogar Möbel da, gute Möbel. Was willst du mehr? Du solltest einmal mitgehen und es dir ansehen!“

      Nein, die Mutter will nicht. Beschwichtigend tätschelt die Tochter die Hände der alten Frau. „Der Wolfgang hat dem Vater Werkzeug beschafft. Er wird für dich die Wohnung so herrichten, dass du dich wie in einer Villa fühlen wirst... Lange können wir hier nicht bleiben. Es zieht und regnet durch, und wenn wir Frost haben, dann glitzert er auf den Steinen bis in den hintersten Winkel. Sieh nur die Kinder an: Seit langem haben sie laufende Nasen, sie sind käsig und husten immerzu, und es wird nicht lange dauern, und wir haben uns den Tod geholt! Nein, wir werden dieses Loch morgen verlassen! Und noch etwas, Mutter: Wer weiß, was außer dem Werkzeug noch alles ganz nahe bei uns unter den Trümmern liegt und die Ratten anzieht.“

      „Du denkst doch nicht an Leichen?“

      „Doch, Mutter.“

      Die Mutter schlägt die Hände vor ihr Gesicht. Still, mit bebenden Schultern weint sie eine Weile vor sich hin. Als sie allein sind, sagt sie zur Tochter, es sähe in ihr aus wie ringsum in den Straßen: Nur Schutt und Asche trüge sie in sich, Finsternis und Trostlosigkeit. Dazu die Sorge um ihren Jüngsten. Einen Sohn habe sie geopfert, der liege in russischer Erde, aber der Bruno, ihr Jüngster. Wenn sie doch wüsste, was mit ihm ist! Nichts anderes wäre mehr in ihr. Nur Angst und Sorgen füllten ihren Kopf und ihr Herz! Die letzte Zeit zwischen dem kreischenden, dem zänkischen und missgünstigen Pack habe sie ausgehöhlt. Sogar ihre Körperkraft, auf die immer Verlass gewesen sei, habe sie unter jenen Menschen verloren. Sie sei wohl krank geworden, denn es falle ihr manchmal schwer, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Leer sei sie und aufgebraucht und müde von den Jahren und Ereignissen, so dass der Wunsch, sterben zu können, an manchen Tagen überhand nehme. Und jetzt habe sie wohl einen solchen Tag erwischt, sagt sie.

      „Mutter, lass deinen Kopf nicht hängen! Du hast deine Hölle hinter dir, jeder andere hat seine hinter sich! Auch wenn alles am Boden liegt, tiefer geht es nicht mehr – es kann nur aufwärts gehen! Ganz tief in mir ist der Glaube, dass Reinhold und Bruno eines Tages vor unserer Tür stehen, und dann wird wieder alles so sein, wie es einmal war...“

      „Ach, Gott gebe es...“ seufzt die Mutter. „Hätte ich deine Gewissheit, Kind, und Vaters Stärke! Er ist stark geblieben und immer noch voller Unternehmungsgeist. Bei mir ist das anders geworden. Und das will er oft nicht einsehen. Der Vater meint, es müsste mir alles noch so von der Hand gehen wie vor zehn Jahren... Ich bin siebenundfünfzig, Urschel, aber ich fühle mich, als wäre ich achtzig! Warum bin ich zum Leben verurteilt, warum?“

      Jetzt bekommt auch die Tochter feuchte Augen; mit gesenktem Kopf sitzt sie der Mutter gegenüber und weiß darauf nichts zu sagen.

      Gegen Abend – der Großvater sitzt mit den Enkelsöhnen vor der Tür und erklärt ihnen, warum fremde Menschen Bomben auf das Land geworfen und Frauen und Kinder, Männer und Tiere getötet haben – packt Ursula Andreae alle Dinge, die sie in dieser Höhle zusammengetragen hat, in eine Decke und verknotet sie.

      „Das brauchen wir morgen früh nicht zu tun“, sagt sie zu ihrer Mutter, die bei der Enkeltochter auf dem Lager liegt. „Gleich, wenn die Sperrstunde aufgehoben ist, werden wir umziehen, Mutter. Weg von der Schuttwüste hier. So sind wir noch nie umgezogen: Mein Buckel als Umzugswagen!“ Sie lacht. „Hätten wir mehr Krempel, der Umzug wäre nicht so einfach. Das ist, als würde man von einer Kaffeetafel aufstehen...“

      Die Großmutter schweigt. Sie blickt auf die kleine Marlene