Wilhelm Thöring

Die Bärin Roman


Скачать книгу

nun andere und klopften Steine. Wahrscheinlich sind es Flüchtlinge, die von einem Ende der Welt zum anderen gezogen sind, um im Keller eines zerbombten Hauses auszuschlafen oder zu sterben.

      Schweigend und gedankenverloren sitzt die Großmutter auf ihrem niedrigen Stuhl neben dem Ofen und spaltet Feuerholz zu dünnen Spänen, mit denen der Großvater seine Pfeife anzündet. Unten auf der Straße, die nur noch ein schmaler Pfad zwischen mannshohen Schutthaufen ist, hört sie die Jungen schreien. Auf ihrem Bett liegt Marlenchen. Sie ist eingeschlafen. Wieder einmal ist sie eingeschlafen, denkt die Großmutter. Ein Kind in ihrem Alter dürfte lebhafter sein. Die Jungen waren lebhafter und verschliefen nicht den halben Tag. Aber Marlenchen... Sie wird das Kind besser im Auge behalten müssen!

      Die Ruhe in der Stube wird durch den Großvater gestört. Keuchend schleppt er eine Kiste herein und stellt sie vorsichtig auf den Boden. Die Großmutter sieht nicht auf. „Na, was schleppst du denn wieder an?“

      „Komm her und sieh.“

      Mühsam erhebt sie sich, und als der Großvater ein Brett anhebt und sie nicht gleich sehen kann, was es ist, sagt er zu ihr: „Ja, dann fass doch einmal hinein.“

      Sie holt eines von den Pfeifenspänchen und leuchtet damit in die Kiste und fährt erschreckt zurück. „Was ist das?“

      „Ein Festtagsbraten, Mutter, ein Kaninchen, das bald Junge haben wird.“

      „Ein Kaninchen!“ Enttäuscht geht die Großmutter wieder an ihren Platz zurück. „Was du uns alles ins Haus bringst! Und wo willst du das Tier lassen?“

      „In der Stube drüben, in der die Fußbodenbretter fehlen. Sie steht leer, niemand benutzt sie. Also machen wir einen Kaninchenstall daraus!“

      „Ja, ja, heute sind’s Kaninchen, morgen ist es ein Schwein“, sagt sie und wippt auf ihrem niedrigen Stuhl vor und zurück. „Wir haben selbst nichts zu beißen. Womit willst du es füttern?“

      „Mit Karnickelsalat!“ lacht der Großvater auf sie herunter. „Der wächst überall. Und Zeit, um welchen zu suchen, Mutter, die habe ich reichlich. Dabei können mir auch einmal die Jungen helfen!“

      „Kommt das auch vom Schwarzmarkt?“, fragt die Tochter.

      Der Vater, der sich auf die Kiste gesetzt hat, blickt eine Weile schweigend zu ihr auf. Dann nickt er unmerklich und sagt: „Natürlich. Woher soll es denn sonst kommen? Glaubst du, es wäre mir nachgelaufen? Oder dass ich bei meinen Touren klauen gehe?“

      „Na, meinetwegen. Du machst sowieso, was du willst. Das Fenster drüben ist noch offen, der Wind bläst herein. Aber es ist ja nur ein Karnickel, das es in dem zugigen Zimmer aushalten soll. Mich fragst du ja nicht!“ Mit abwehrenden Armbewegungen gibt Ursula dem Großvater zu verstehen, dass das Gespräch für sie beendet ist.

      Anderntags stehen in der leeren Stube mehrere Käfige für das Kaninchen und seine fünf Jungen. Und fortan ist der Großvater mit einem Sack zu sehen, in dem er Löwenzahn und Gras sammelt für seine stummen Kostgänger, wie er zu den Kaninchen sagt. In der ersten Zeit saßen Ursulas Kinder stundenlang in diesem kalten und zugigen Zimmer vor den Käfigen, bis sie hinausgejagt wurden, weil sie sich den Schnupfen holten.

      Heute ist wieder Frau Gresshage gekommen. Sie ist mit ihrem Berni bei Doktor Morgenthal gewesen, erzählt sie, und er habe ihr gesagt, es sei für ihn selbstverständlich, dem Kind zu helfen, es wenigstens von seinen Schmerzen zu befreien. Der Doktor habe Bernis Schulter einrenken müssen, erzählt sie weiter, das habe dem Jungen sehr weh getan, und er habe gebrüllt, dass es ihr eiskalt den Rücken heruntergelaufen sei, aber ihm sei geholfen worden.

      „Hat er dafür was haben wollen?“ fragt die Großmutter.

      Frau Gresshage lächelt still vor sich hin, dann sagt sie: „In solchen Zeiten, sagte der Doktor, müssen wir zusammenstehen, weil wir einander brauchen. Und dann sagte der Doktor auch noch, wir sollen alle zum Gesundheitsamt gehen und uns gegen Krätze behandeln lassen. Nein, nicht auf dem Amt in der Stadt, das liegt ja in Trümmern! Wir aus diesem Viertel müssen in die ‚Kaffeemühle’, Sie wissen doch, in den kleinen kreisrunden Erdbunker draußen am Rand des Luisenparks. Alle müssen hin, Männer und Frauen und auch die Kinder. – Sagen Sie, Frau Andreae: Wie kommt der Mensch an Krätze?“ Sie schüttelt sich. „Die hat bestimmt das fremde Volk mitgebracht, das jetzt überall die Straßen verstopft und das in jeden Winkel kriecht.“

      „Wer sich nicht richtig sauber hält, der kriegt Krätze!“ weiß die Großmutter. „Und wir Hiesigen können uns ebenso wenig sauber halten wie die, die mit ihren Handwagen unterwegs sind! Mit Läusen und Flöhen ist es nicht anders!“

      „Hören Sie auf!“ ruft Frau Gresshage und schüttelt sich wieder. Sie legt beide Arme um den Körper, als wäre ihr kalt geworden. „Bei dem Wort Krätze juckt es mich gleich am ganzen Körper. Und dann kommen Sie auch noch mit solchem Zeug: Läuse und Flöhe!“

      „Wann müssen wir dahin?“ fragt die Großmutter.

      „Heute, morgen... Wann sie wollen oder können.“

      „Gut, dann lassen wir uns mal behandeln.“ Sie schiebt den Ärmel hoch und betrachtet ihren Arm. „Noch habe ich keine Krätze, aber Vorsorge ist besser als heilen. Sagt man nicht so bei den Ärzten?“

      Noch am selben Tag ist Ursula Andreae zur „Kaffeemühle“ gelaufen und hat sich erkundigt, was zu tun sei. Nichts sei zu tun, sie müsse nur kommen. Am Nachmittag sei der Andrang groß, da wäre es besser, wenn sie als Mutter von drei Kindern mit ihrem Nachwuchs am Vormittag käme, sagte man ihr.

      Sie ist am nächsten Vormittag gegangen. Es regnete, ein kalter Ostwind blies. Vor dem Erdbunker drängten sich die Menschen, vorwiegend Mütter mit ihren Kindern. Auch ein paar Männer waren darunter und Alte. Sie standen im Windschatten und warteten darauf, in den Bunker gerufen zu werden. Wer behandelt aus der Tür kam und nach Hause durfte, der lachte nur und winkte ab und floh gleichsam aus der „Kaffeemühle“.

      Nachdem Ursula Andreae sich und die Kinder angemeldet hat, müssen sie warten. Weil es kalt ist, dürfen sie drinnen bleiben. Und es dauert nicht lange, bis sie aufgerufen werden. „Die Frauen und Mädchen nach links! Die Jungen gehen nach rechts!“, kommandiert eine abgemagerte bebrillte Frau, die immer, wenn sie jemanden aufruft, ihre Hände in die Kitteltaschen steckt. Auch der Raum ist kalt und rings an den Wänden stehen Menschen mit gesenkten Köpfen. Alle sind nackt, und viele glänzen vor Nässe und versuchen, ihre Blöße zu bedecken. Sie sind darauf bedacht, in den Bereich eines der wenigen Heizöfchen zu gelangen, um so schnell wie möglich trocken zu werden und nach draußen an die frische Luft zu kommen.

      Mitten im Raum steht eine unförmige Zinkwanne, die fast bis an den Rand mit einer trüben, milchigen Brühe gefüllt ist. Dahinein muss der zu Behandelnde steigen. Der Arzt hinter der Wanne taucht seinen dicken Quast in die Brühe und pinselt die Menschen vom Kopf bis an die Beine mit der Brühe ab, wobei die Magere ihm behilflich ist, indem sie den zu Behandelnden dreht, seine Arme weit in die Höhe zieht, damit seine Achseln bepinselt werden können, oder sie zieht zu diesem Zweck auch einmal die Gesäßbacken eines Dicken auseinander. Aber Dicke sind so gut wie nicht zu sehen.

      „Fertig! Nicht abtrocknen, sondern antrocknen lassen!“ kommandiert sie und winkt den nächsten in die Wanne. Die Jungen ließen diese Prozedur still an sich geschehen, aber das Marlenchen brüllte, dass die Ärztin, die die Frauen behandelte, ungehalten den Quast eintauchte und dem Kind damit einen Schwall Brühe über den Kopf goss. „Was brüllst du?“ giftete sie. „Dir passiert nichts. Schrei, wenn du draußen bist! Unsere Nerven werden hier schon genug strapaziert!“

      Die Magere gibt den Jungen zu verstehen, dass sie sich wieder anziehen dürfen. Draußen fragt Achim, dem vor Kälte die Zähne klappern: „Warum haben die uns angestrichen?“

      „Weil jetzt alles schöner wird in Deutschland“, sagt die Mutter. „Und da müssen auch wir schöner werden!“

      „Du, da stand ein Mann... So groß!“ Achim zeigt mit beiden Händen, wie groß das gewesen ist, was er gesehen und ihn beeindruckt hat. Die Mutter tut so, als hätte sie nichts gehört