Wilhelm Thöring

Die Bärin Roman


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da wir einen Backofen haben, kann ich auch wieder etwas für euch zaubern! Na, Köstlichkeiten sind das nicht – aber wir sind ja bescheiden geworden, nicht wahr?“ Zuerst legt sie reichlich Holz in die Glut, dann schiebt sie das Blech in den Ofen. Sie setzt sich daneben, auf den Stuhl mit den abgesägten Beinen, zieht das Marlenchen auf den Schoß und erzählt den Kindern, wie es bei ihren Eltern zuging, als sie selbst noch ein Kind war.

      Im Flur hört sie den Großvater. Und noch bevor er in die Stube tritt, ruft er, dass er die Urschel brauche. Sie müsse sofort, ohne Aufschub, mit ihm gehen!

      Die Großmutter findet, dass er stört. Die Jungen spielen zu ihren Füßen mit leeren Streichholz-und amerikanischen Zigarettenschachteln, die Enkeltochter schmiegt sich an sie und kann nicht genug von dem hören, was sie zu erzählen weiß. Es ist gemütlich und warm in der Küche, und sie ist voller Duft von dem gebackenen Kleiekuchen. „Was gibt’s denn jetzt schon wieder?“

      „Ich habe Bettgestelle und Kissen! Die sind sogar noch bezogen. Im Kleiderschrank habe ich auch noch Laken und Bezüge gefunden! Dass sich dafür noch keiner interessiert hat! Die Urschel muss mir helfen. Wo steckt die denn?“

      Die vernagelte Tür zum Balkon geht auf. „Hier bin ich.“

      „Komm mit!“ sagt der Vater. „Wir können nicht warten, bis andere die Sachen wegschnappen.“

      Durch den Regen schleppen Vater und Tochter die Bettgestelle in ihre Wohnung. Vier Betten haben sie, das reiche, meint die Tochter. Von den Eltern habe jeder sein eigenes Bett, für die beiden Jungen reiche das dritte, und sie werde Marlenchen zu sich nehmen oder es auf der Matratze auf dem Fußboden schlafen lassen. Dazu habe sie feines Bettzeug zum Wechseln, ja, allmählich werde es wie früher, bevor die Bombe ihr Haus getroffen habe. Wenn sie nun noch Strom und elektrisches Licht bekommen könnten... „Herz, was willst du mehr!“ ruft sie der Mutter zu.

      „Mehr zu essen brauchen wir.“ Die Mutter zeigt auf die am Boden liegenden Jungen. „Die sind schwer satt zu kriegen. Und Feuerholz brauchen wir auch! Wenn es weiter so kalt bleibt, dann wird bald jeder Span aufgebraucht sein.“ Und mehr zu sich sagt sie: „Unten auf der Straße werden die Schwachen und Kranken umfallen wie die Fliegen. Und die kleinen Kinder auch! Das ist immer so gewesen.“ Als sie gestern die letzte Ration Mehl gekauft habe, da hätten die Leute vom Kohlenklauen gesprochen, erzählt sie. Aber hier gibt es keine Bahn, schon gar keine, die Kohlen durch die Weltgeschichte fährt. Es wäre doch schade, wenn sie von den Möbeln das eine oder andere in den Ofen stecken müssten! Der Tochter fällt auf, dass die Mutter, die mit den Enkeln zu tun hat, und die sich jetzt mit den Dingen umgeben kann, die sie einmal besaß, nicht mehr von ihren eigenen Sorgen und Ängsten spricht! Und den Bruno erwähnt sie auch nicht mehr. Ob sie nicht mehr an ihn denkt?

      Dicht beim Fenster, dass er abkühlen kann, steht ihr Kleiekuchen, ein brauner, flacher Fladen, der so hart ist, dass nicht einmal die Tochter davon essen will, weil sie um ihre Zähne fürchtet. Die Großmutter weiß sich zu helfen: sie hat eine Blechtasse mit Malzkaffee vor sich auf dem Tisch und wird ihn Stück für Stück darin einstippen.

      Plötzlich fahren sie zusammen: Unten im Flur ruft jemand. Sie sind darüber dermaßen erschrocken, dass sie die Kinder wie zum Schutz auf den Schoß nehmen und sich so still verhalten, als wäre im ganzen Haus nicht eine Menschenseele versteckt.

      „Es ist eine Frau“, flüstert Ursula in Achims Haare. „Eine Frau ist keine Gefahr. Ich sehe nach!“

      „Bist du verrückt? Du bleibst sitzen!“ Die Großmutter hat nach dem Feuerhaken gegriffen. „Ein Weib ruft, und ein Kerl mit einer Keule steht im Winkel und schlägt zu.“

      Wieder wird gerufen, und diesmal ist es Ursula Andreaes Name. „Ich gehe!“ Ursula entriegelt die Tür und nimmt der Mutter den Feuerhaken weg und geht in den Flur. Gleich danach steht sie mit einer fremden Frau in der Stube. Es ist die Kriegswitwe mit den fünf Kindern. Obwohl es dunkel ist, ihre Blässe ist zu erkennen, sie leuchtet geradezu von innen heraus. Sie geht zu den beiden Frauen und gibt ihnen die Hand und stellt sich vor: „Mein Name ist Gresshage. Käthe Gresshage. Ihre Tochter wird mich noch kennen. Wir waren sozusagen Nachbarn, als sie noch drüben im Keller wohnte...“

      Die Großmutter gießt Käthe Gresshage eine Tasse Kaffee ein und legt ihr ein Stück vom flachen, harten Kuchen neben die Tasse, den Frau Gresshage nicht isst, sondern für ihre Kinder einsteckt. Sie sei in Sorge, erzählt sie, ihr Zweitjüngstes, der Berni, sei vor einigen Tagen von einer Mauer gefallen, und jetzt liege er da und wimmere und weine Tag und Nacht.

      „Ich weiß keinen Rat mehr! Was soll ich machen?“ klagt sie und wischt mit dem Ärmel über ihre Augen.

      Die anderen wissen es auch nicht. Nach längerem Nachdenken rät der Großvater: „Gehen Sie zum Doktor Morgenthal. Der lässt wieder Patienten kommen. Was der als Bezahlung nimmt, das weiß ich nicht. Aber wenn ich kann, werde ich Ihnen dabei helfen...“

      Frau Gresshage schluchzt auf und küsst dem Großvater die Hand. „Ich sag’s ja: Die braune Bande hat vieles, sie hat fast alles zugrunde gerichtet, beim Allmächtigen und den wirklich guten Menschen – da ist es ihnen nicht gelungen...“

      Als Frau Gresshage gegangen ist, fragt die Tochter: „Wie willst du ihr helfen, Vater? Wir haben doch selbst nichts!“

      „Nun, durch meine Touren, durch den Schwarzmarkt...“ Lächelnd hebt er eine Schulter. „Da werde ich auch für den Doktor etwas finden. Er muss ihr nur sagen, was er gebrauchen kann. Sie ist ein armes Mensch... Fünf Kinder! Da kann ich meine Ohren nicht auf Durchzug stellen.“

      „Weil sie dir die Hand geküsst hat?“ neckt die Tochter ihn. Der Großvater bläst verächtlich die Luft aus. „Quatsch!“

      Die Großmutter schlägt vor, auch unten an der Haustür einen Riegel anzubringen, dann würde sie sich in diesem Haus sicherer fühlen.

      „Das ist kein Problem“, sagt Großvater Gottfried. „Es gibt aber andere Probleme: Was ist, wenn jemand zu uns will? Besuch wie eben? Oder wenn einer von uns nach draußen gegangen ist, und die Kinder versperren die Tür? Wir haben keine Klingel! Soll er rufen? Steine gegen die vernagelten Fenster schmeißen? Das geht nicht. Und wie ist es, wenn einer von unseren Jungen aus dem Feld heimkommt? Was hilft es, dass wir überall Nachrichten an die Wände geschrieben haben, wo sie nach uns suchen sollen, wenn wir sie aussperren?“

      Die Großmutter hat sich wieder am Herd zu schaffen gemacht. Der große Topf ist mit Wasser gefüllt, und jetzt, da es kocht, rollt sie Mehlklöße zwischen ihren Handflächen und lässt sie ins kochende Wasser gleiten, das sich augenblicklich weiß färbt.

      „Milch haben wir keine“, ruft sie über die Schulter. „Und doch gibt es heute Abend Milchsuppe. Wer kann das schon: Milchsuppe kochen ohne Milch? Das kann nur jemand, der so alt geworden ist wie ich“, sagt sie zu den Kindern. „Und der von klein auf Kriege und Hungerzeiten kennt!“

      „Ja, Mutter, die Kinder sind ohne Schaden durch diesen Krieg gekommen“, sagt Ursula. „Einen neuen darf es nicht geben. Zwei Kriege, am Anfang des Lebens und gegen Ende des Lebens, wie ihr beide es erlebt habt, das ist zu viel! Das muss doch einmal durchbrochen werden! Ich hoffe, dass alle aus dem gelernt haben, worunter wir noch lange werden leiden müssen.“

      Die Großmutter, die in ihrem Topf rührt, spricht gegen die Wand: „Ein zuchtloser König richtet Land und Leute zugrunde; wenn aber die Mächtigen klug sind, so gedeiht die Stadt.“ Und als sie das gesagt hat, hebt sie den Topf vom Herd und stellt ihn mitten auf den Tisch, wo sie eine wackelige, abgeplatzte Kachel liegen hat. Das verkürzte Tischbein ist vom Großvater repariert worden, so dass die Holzplatte, die darunter lag, weggenommen werden konnte. Die Großmutter blickt mit gefalteten Händen zu den Kindern hin, die immer noch nicht wissen, was sie von ihnen erwartet, doch dann falten sie ihre Hände und warten, dass das Tischgebet gesprochen wird.

      Ursula Andreae lehnt am Türrahmen. Die Sonne steht so tief und wirft ihr Licht in die Stube, als stünde sie direkt hinter der kleinen Fensterscheibe. Wie muss es erst sein, wenn die Fenster von oben bis unten Scheiben haben und kein Licht mehr ausgesperrt wird! Drüben im Keller gab es nur Dämmer und Staub, der das wenige, durch die