Wilhelm Thöring

Die Bärin Roman


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im Haus, täglich am Tisch zu sehen, das wird schwer für sie sein, das ahnt sie. Ja, sie hat sich gewünscht, dass der Bruder unversehrt heimkehrt, aber an ihn dachte sie anders als an Reinhold. Und wenn sie an Bruno dachte, dann dachte sie in Wahrheit an ihren Mann. Irgendwie kamen in ihrer Vorstellung immer beide gleichzeitig vor: der Bruno für die Mutter, aber Reinhold für sie. Jetzt ist nur der Bruno heimgekehrt.

      Der Vater ist gekommen. Sie hört ihn sprechen, leise und unaufgeregt, und ebenso leise antwortet Bruno ihm. Ein wenig lauter fragt er nach ihr: „Wo ist denn die Urschel?“ Die Mutter gibt Antwort. Lange muss sie nicht warten, da steht der Vater bei ihr im Kaninchenzimmer.

      „Wird es dir hier nicht schon zu kalt?“, fragt er.

      Ursula möchte ihm antworten, aber da ist etwas, das ihr die Kehle zuschnürt, dass sie nicht sprechen kann. Er legt seinen Arm um ihre Schulter, und bei seiner Berührung durchläuft sie ein Zittern, wie beim Schüttelfrost, sie lässt den Kopf nach vorne fallen und weint in ihren Schoß.

      Der Vater legt sein Kinn auf ihren Kopf. Sie riecht ihn, er riecht nach Tabak und Kernseife. Früher benutzte er täglich ein Duftwasser, und das hat sie sehr gerne gerochen. Keiner roch wie ihr Vater, der das Vornehme und Edle geradezu ausströmte. Jetzt riecht er wie sie, wie die Kinder und die Mutter und alle anderen – sie riechen nach Kernseife, nach Armut.

      „Diese Stunde, Ursula, wird auch für dich kommen“, sagt er. „Bald schon. Die können doch nicht über Jahre die Soldaten festhalten. Das ist viel zu teuer. Ihr Geld ist durch den Krieg aufgebraucht, wie können sie da solche Mäuler füttern?“

      Ganz langsam wiegt der Vater sich, und sie muss sich mitwiegen. Lange steht er so bei ihr, bis sein Rücken schmerzt. Er streckt sich und sie hört, wie seine Knochen knacken. Bevor er zu den anderen zurückgeht, tätschelt er ihre Wange und meint: „Urschel, ein wenig Geduld wirst du wohl noch aufbringen müssen. Auch für dich wird es gut werden. Ganz bestimmt. Einer muss ja zuerst kommen. Nun ist es der Bruno...“

      Dankbar lächelt Ursula zu ihm auf, ja, das will sie gerne glauben, sie nickt: ja, heute der Bruno, morgen der Reinhold. Nachdem der Vater gegangen ist, bleibt sie noch eine geraume Weile sitzen und beschäftigt sich mit den anzustrickenden Ärmeln. Dann packt sie entschlossen alles zusammen und geht in die Stube, wo die Eltern mit Bruno immer noch um den Tisch sitzen und ihm lauschen, was er vom Kriegsende zu erzählen hat, wie er es erlebte.

      Eine Weile hört sie ihm zu, dann ruft sie die Kinder, scheucht sie ins Badezimmer und ist für die nächste Zeit mit ihnen beschäftigt. Als das getan ist, kommt sie wieder an den Tisch. Sie fragt: „Wo wird der Bruno schlafen?“

      „Natürlich in meinem Bett“, sagt der Vater.

      „Und wo schläfst du?“

      „Mit dem Kopf auf dem Tisch. Darin, das weißt du, habe ich Erfahrung“, meint er augenzwinkernd. „Und morgen früh, da gehe ich gleich nach einem fünften Bett auf Tour.“ Er verbessert sich: „Nach dem fünften und dem sechsten. Ich glaube fest daran, dass die Familie bald wieder vollzählig ist! Ja, es wird noch so weit kommen, dass hier so etwas wie ein Hotelbetrieb entsteht“, lacht er. „Na, da kriegt ihr Frauenspersonen noch allerhand zu tun!“

      Nun, da die Schwester dazugekommen ist, ist der Bruder wortkarg geworden. Wenn er den Mund aufmacht, dann gibt er Antwort auf eine Frage, die an ihn gestellt wurde, sonst starrt er nur auf die Flecken im Linoleum der Tischplatte. Er wirkt fremd und störend unter den Eltern und der Schwester. Auch die Mutter ist stiller geworden, sie hat wohl alles aus ihrem Sohn herausgefragt; das und die Wiedersehensfreude haben sie müde gemacht. In der Stube ist es dämmerig geworden, fast ist es dunkel. Der Vater zündet die Karbidlampe an und die Mutter füllt Eimer für Eimer den Waschkessel, damit der Sohn sich baden kann. „Erst wirst du den äußeren Dreck abwaschen, Junge.“ Und als das getan ist, beugt sie sich zu ihm und meint: „Du hast wohl mehr als nur Dreck und Staub abzuwaschen.“ Sie geht wieder an den Ofen, um ordentlich Holz nachzulegen.

      Der Bruno sieht an sich herunter. „Das, Mutter, sieht man nicht. Ja, wenn man das andere auch wie Dreck und Staub abwaschen könnte! So einfach geht das nicht, Mutter. Der andere Dreck ist zäh, der sitzt tiefer, der klebt nicht nur an Kopf und Füßen. Der klebt hier drinnen.“ Bruno schlägt seine Faust gegen Schläfe und Brust. „Davon sauber zu werden, das dauert.“

      Jetzt meldet sich die Ursula, die nicht hören mag, wie der Bruder zur Mutter von Schuld spricht. „Es ist ganz unmöglich, dass der Vater am Tisch schläft. Wir sind drei Erwachsene. Wenn jeder ein Kind zu sich ins Bett nimmt, dann braucht sich keiner von uns die Nacht am Tisch um die Ohren zu schlagen!“

      „Ich kann nicht mit einem Kind schlafen!“ wehrt sich der Vater. „Wenn ich am Tisch schlafe, dann bin ich ausgeruhter, als wenn mir einmal ein Kopf, dann ein Knie in den Bauch gestoßen wird. Nein, nein: ich schlafe hier!“ Er lässt seine flache Hand auf die Tischplatte fallen. „Und morgen, Urschel, hat auch der Bruno sein Bett. Ich weiß, wo ich danach suchen muss! Nicht nur der Bruno bekommt sein eigenes Bett, auch die Jungen. Und eins ist für...“ Er spricht vor der Mutter und dem Bruder nicht aus, wem er das Bett besorgen will. Er sagt: „Wie es mit Matratzen aussieht, das weiß ich nicht. Dann werden wir uns eben mit Strohsäcken behelfen. Als Kind hatte ich auch nur einen Strohsack!“

      Ursula hilft der Mutter, Brunos Badewasser in die Wanne zu schütten. Das hat der Bruno tun wollen, aber die Mutter hat es nicht zugelassen. So mager, so schwach, wie er sei, da könne sie nicht zusehen, wie er sich mit dem Wasser abmühe.

      Der Bruno lässt sich Zeit im Bad, so dass die Großmutter fürchtet, er sei in der Wanne eingeschlafen. Einige Male hat sie an der Tür gehorcht, aber sie getraute sich nicht, zu klopfen oder zu fragen. Wartend ist sie auf ihren Platz neben dem Ofen zurückgegangen, und wenn der Großvater sie ansieht, dann blickt sie etwas verschämt weg. Ursula ist ins Bett gegangen. Der Vater sitzt am Tisch und kämpft gegen den Schlaf an. Er möchte nicht vom Sohn mit Armen und Kopf auf der Tischplatte gesehen werden. Die stinkende Karbidlampe mit ihrem kalten Licht hat er weit von sich geschoben, so dass sein Gesicht im Dunkel liegt. Er wartet wie die Mutter darauf, dass der Bruno endlich aus dem Bad kommt. Als drinnen etwas umgestoßen wird, erhebt sich die Großmutter, um dem Bruno das Bett aufzudecken. „Na endlich“, murmelt sie.

      Da steht der Bruno auch schon in der Tür, das Handtuch hat er um die Lenden geschlungen. „Das Bad hat dir gefallen, Bruno, du hast dir viel Zeit gelassen. Das Wasser ist wohl kalt geworden“, sagt die Mutter und streckt die Hand nach ihm aus, als wollte sie ihn zu seinem Bett führen. Der Bruno bemerkt das nicht, er bleibt zwischen Küche und Flur stehen, weil er nichts sehen kann. „Wo seid ihr? Ihr habt es sehr dunkel.“

      Die Mutter fasst nach seinem Arm. „Hier bin ich, Junge. Du musst ins Bett, wenn du dich nicht erkälten willst.“

      „Nach dem, was ich hinter mir habe, Mutter, werde ich mich hier in der Wohnung nicht erkälten. Im Wasser war es so gemütlich, dass ich gleich eingeschlafen bin.“

      Ja, das versteht die Mutter. Leise öffnet sie die Stube, in der ihr Bett steht und schüttelt noch einmal das Oberbett auf. Sie legt ihm ein Flanellhemd hin, das der Großvater an kühleren Tagen trägt. „Zieh das an, Bruno. Das ist wärmer als dein Soldatenhemd. Ein Nachthemd für dich habe ich nicht. Brauchst du noch eine Decke dazu? Es ist nicht warm hier.“

      „Mutter, ich bin es schon lange nicht mehr gewohnt, in einem Bett zu schlafen. Ein Deckbett hatten wir nicht – uns hat der Himmel zugedeckt...“

      „Mein armer Junge! Jetzt hat das Elend ein Ende, und alles wird besser.“ Wie gut, dass es dunkel ist und der Bruno nicht sehen kann, dass sie wieder weint. Ihr ist danach, ihn in die Arme zu nehmen, aber das würde er nicht verstehen. Um etwas zu sagen, brabbelt sie vor sich hin: „In dieser Ecke schlafe ich... Hier zieht’s nicht durchs vernagelte Fenster... Da drüben schläft der Vater... Du erinnerst dich? Der Vater braucht immer frische Luft, auch heute noch... Gute Nacht, mein Junge.“

      „Gute Nacht, Mutter.“

      Die Mutter ist noch einmal zu ihm gegangen und hat nachgesehen, ob er gut zugedeckt ist, dann hat sie sich ausgezogen. Wie gut sie sich in der Dunkelheit zurechtfindet, wundert sich