Wilhelm Thöring

Die Bärin Roman


Скачать книгу

nicht der Junge, der von ihr weg in den Krieg gezogen ist. Es ist möglich, dass er Schreckliches erlebt hat, über das er nicht reden will. Vielleicht klebt doch Blut an seinen Händen, obwohl er es bestritten hat und er ist deswegen so seltsam geworden und unzufrieden und stiert stundenlang in die Luft. Ein Gewehr trägt keiner wie einen Fingerring mit sich herum; Bruno hat es getragen, um damit auf Menschen zu schießen. War es nicht so, dass derjenige, der viele Feinde ins Jenseits beförderte, geehrt wurde und einen Orden nach Hause trug? Nun, wenn Bruno auf Menschen geschossen hat, dann war es Notwehr, weil der andere ihm das Gewehr an den Kopf gehalten hat. Was blieb ihm da übrig als abzudrücken? Nein, nein, Bruno ist ein grundanständiger Mensch, der handelt nicht leichtfertig und tötet, wer ihm über den Weg läuft! Ich bin seine Mutter, ich weiß es! Vielleicht mache ich mir auch unnütze Gedanken. Würde er nicht gleich aufbrausen, dann würde ich schon einmal danach fragen. Ach, es ist alles so gekommen, wie es kommen musste, und das andere wird auch kommen, wie es kommen muss! In den ersten Nächten konnte er nicht in einem warmen, weichen Bett schlafen, und jetzt ist er nicht herauszukriegen. Er wird auch mit dem fertigwerden, worüber er nicht sprechen mag.

      Sie sammelt die Möhrenabschnitte zusammen und trägt sie auf den Balkon zu den Kaninchen. Unten steht Bruno bei Rosi Vederle, dieser leichtsinnigen und liederlichen Person, die sich darauf versteht, den Männern den Kopf zu verdrehen und Geld oder anderes aus ihnen herauszupressen. Wenn er nach oben kommt, dann wird sie ihn vor diesem Weib warnen müssen, denn die Frauen auf den Trümmern erzählen sich unglaubliche Geschichten von der Vederle.

      Zum Räumen der Schuttberge sind Besatzungssoldaten mit Bulldozern eingesetzt worden. Seit dem frühen Vormittag rattern und dröhnen sie durch die Straße, und mancher kommt vor die Tür gelaufen, um zu sehen, was sie anstellen. Da stehen sie Spalier und applaudieren: Jetzt wird es allmählich schöner werden in der Stadt und besser, mutmaßen sie, und das Normale und die Ordnung werden wieder die Oberhand gewinnen.

      Mehr Aufmerksamkeit als die schweren Bulldozer haben zwei Schwarze, die unter der Aufräumkolonne sind: Wenn sie lachen, und sie lachen gerne, dann zeigen sie so leuchtende Zähne, als würde ein Licht sie anstrahlen! Beim ersten Sehen waren die Frauen ängstlich, jetzt sind sie begeistert, vor allem Rosi Vederle, die den Soldaten zuwinkt, die mit einem Schwarzen scherzt und ihm sogar eine Tasse Kaffee hinaufreicht. Nachdem er vorsichtig davon gekostet hat, hat er sich vor Ekel geschüttelt und ihn in weitem Bogen ausspuckt, und er wirft ihr die Tasse zu, dass sie von oben bis unten bekleckert ist. Solchen Kaffee tränken die Sieger nicht, wird die Rosi belehrt. Da musst du mit Bohnenkaffee kommen oder mit anderem guten Zeug! Doch die Rosi scheint sich über die Flecken zu freuen, zeigt sie jedem, der sie sehen will, als wären ihr Nettigkeiten auf Rock und Bluse geschrieben worden.

      Alle Soldaten sind freundlich und höflich zu den Frauen, und nach wenigen Tagen haben die ihre Zurückhaltung den Soldaten gegenüber aufgegeben. Ursula fällt es schwer, in diesen Männern Feinde zu sehen. Endlich beginnen sie etwas Gescheites, nachdem sie vor Monaten noch Bomben herbeigeschafft haben. Solche Bulldozer, wie sie hier eingesetzt werden, die schaffen in einer Stunde mehr als hundert Arme in einer Woche, wundert sie sich. Ehe man sich’s versieht, sind etliche Meter Schutt beiseitegeräumt und die Straße ist sauber; da braucht nur mit dem Reisigbesen nachgegangen zu werden.

      Eines Tages kommt Ursula aufgebracht nach oben, nachdem sie vor der eigenen Tür ein wenig Schutt beiseitegeschafft hat. „Geh einmal auf den Balkon, Mutter, und guck dir das an!“

      „Na, was gibt’s denn, das ich mir ansehen soll?“

      Die Tochter reißt die Balkontür auf und die Mutter lehnt sich vorsichtig über die Verkleidung. „Ich sehe nichts.“

      „Nichts? Sieh dir den Bulldozer mit dem Schwarzen an. Da drüben! Der Schwarze hat Hilfe bekommen! Und was für welche!“

      Die Großmutter sieht Rosi Vederle ausgelassen neben dem schwarzen Soldaten auf dem Bulldozer sitzen, mit wehenden Haaren und einer Zigarette im Mundwinkel, sie ist leuchtend geschminkt und sehr darauf bedacht, ringsum wahrgenommen zu werden. Und als sie Emma Straeten auf ihrem Balkon entdeckt, winkt sie ihr fröhlich zu. „Was hast du von der erwartet?“ fragt sie die Tochter. „Dass die wie eine läufige Hündin um die Soldaten scharwenzelt, das habe ich schon lange bemerkt. Ihr hustendes und verrotztes Blag lässt sie in einem Kellerloch zurück, dass es wie ein Nachtschattengewächs aussieht – aber sie macht Schönwetter bei den Soldaten! Raucht und lässt sich wohl Schokolade schenken... Was ich dir sage, Urschel: Sie werden ihr noch etwas anderes schenken! Etwas, für das sie Windeln waschen muss!“ Und damit wendet sie sich ab und kehrt in die Küche zurück. Beim Mittagessen sagt sie zum Vater, sie habe das Gefühl, durch den Krieg sei jegliche Ordnung zerstört worden. Die Häuser lassen sich wieder aufbauen, ob es aber möglich sei, die Ordnung in den Menschen, in ihren Herzen und Köpfen wiederherzustellen, daran habe sie große Zweifel. Es gebe keine Zucht, keine Regeln mehr. Jeder mache, was ihm gerade in den Sinn komme. Schamlosigkeit bleibe Schamlosigkeit, so wie Diebstahl und Mord das bleiben, was sie sind.

      Schweigend hat der Vater sie reden lassen. Er sitzt über seinem Teller und blickt nicht auf. Und als sie mit ihren Belehrungen zu Ende ist, starrt er auf seinen Löffel und sagt: „Du hast ja recht, Mutter: Totschlag und Mord, das sind große Sünden. Einem anderen etwas aus den Händen zu reißen und damit wegzulaufen, ist auch eine Sünde für den, der nicht um sein Überleben kämpft. Wer bestraft werden muss, der soll seine Strafe bekommen. Weißt du, Mutter, dann habe ich auch Sünden auf mich geladen und habe Bestrafung verdient: Ich habe, damit wir leben können, Möbel und vieles andere aus fremden Wohnungen weggetragen. Ist das kein Diebstahl?“

      Die Großmutter ist verdutzt. Ihr fällt nichts ein, sie weiß nicht, was sie ihm darauf entgegnen soll und legt den Löffel hin. Ja, sie schiebt sogar ihren Teller in die Tischmitte, wie ein Kind, das satt oder trotzig ist. Ein wenig triumphierend verzieht der Vater die Mundwinkel zu einem Lächeln. Er sagt: „Beruhige dich, Mutter. Zu dem, was heute üblich ist, hat ein katholischer Bischof Verständnis gezeigt und es zugelassen...“

      „Ich bin nicht katholisch“, sagt die Mutter.

      Der Vater lacht. „Nein, das bist du nicht. Aber wenn die Kirche ein weites Herz zeigt, dann sollten wir auch ein...“

      „Für Schamlosigkeit, für Laster wird sie kein weites Herz haben“, unterbricht die Großmutter ihn. „Vater, wenn ein Weibsbild einem Neger auf den Schoß kriecht, und die Kinder stehen dabei und gucken zu – für so etwas kann niemand Verständnis haben, auch kein noch so weitherziger Bischof! Woher sollen die Kinder lernen, was man tut oder lässt, was man sagt oder wann man den Mund hält, wenn nicht von den Eltern! Was sind das für Vorbilder? Geh nur auf den Balkon und sieh es dir an...“

      „Lass sie. Sie muss das mit sich selbst abmachen.“

      Stumm beenden sie die Mahlzeit. Und als sich einmal die Blicke von Mutter und Tochter treffen, zwinkert die Tochter ihr zu: Da hast du recht, das geht zu weit!

      Der Vater ist wieder gegangen, die Frauen stehen beim Abwasch. Die Mutter fragt: „Weißt du, wo die Vederle ihr Kind versteckt?“

      „Wo? Ich denke, in ihrer Wohnung.“

      „Da hockt das arme Wurm tagelang in diesem Loch, während die Mutter sich vergnügt...“

      „Vielleicht ist sie deshalb bei den Amerikanern, weil die ihr Brot zustecken oder Fleisch und Süßigkeiten für ihr Kind.“

      Das mag die Mutter nicht glauben. „Die verschenken doch nichts“, weiß sie.

      „Dem Wolfgang und dem Achim haben sie auch Schokolade gegeben.“

      „Was haben die? Und du hast das zugelassen?“

      „Ich war nicht dabei. Die Jungen sagen, die Soldaten haben sie herangewinkt, haben ihnen befohlen, sich in einer Reihe aufzustellen, den rechten Arm zu heben und ‚Heil Hitler’ zu rufen. Und darüber, sagen sie, hätten die Soldaten sich totgelacht. Und zur Belohnung für diesen Spaß bekam jeder ein Stück Schokolade und Kaugummi.“

      Über diese Geschichte vergisst die Großmutter, die Teller abzuwaschen. Beide Hände hat sie im Spülwasser, und den Kopf zur Seite geneigt, betrachtet sie ungläubig die Tochter: