Wilhelm Thöring

Die Bärin Roman


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es mit der Vorsorge auf sich hat. Oben steht sie an der Treppe und fragt durchs hallende Treppenhaus: „Na, wie war’s? Was machen die mit den Leuten?“

      „Die Füße werden gebadet, und du wirst angestrichen!“ rufen die Jungen zurück, die über das Unangenehme schon hinweg sind. Und als die Tochter ihr später schildert, wie es dort zugeht, ist die alte Frau entsetzt: „Und selbst wenn ich die Krätze hätte – so etwas mache ich nicht mit! Mich vor anderen ausziehen? Niemals! Ja, wo sind wir denn!“, empört sie sich.

      Nachdem sie sich beruhigt und eine Nacht darüber geschlafen hat, ist sie mit ihrem Mann am anderen Tag doch zur „Kaffeemühle“ gegangen.

      Pfingsten ist vorüber, und seit etlichen Tagen ist das Wetter schön und überaus warm. Die Leute erzählen sich, dass es vorerst so bleiben werde. Der Großvater ist seit dem Morgen schon auf Tour, und die Großmutter hat einen Stuhl in das Kaninchenzimmer getragen und sich in die Sonne gesetzt. Hier sehe ich so gut wie keine Trümmer, sagte sie zur Tochter. „Und wenn ich die Augen schließe, dann ist es, als wäre ich in Thüringen auf einem Berg. So warm, so still und friedlich war es, als ich meine Großmutter in einem engen Tal in Thüringen besucht habe. Wir saßen am Abhang eines Berges, unter uns der Ort zwischen Feldern und Grünem. Da habe ich zum ersten Mal Frieden und Glück erfahren, denn ich war noch ein sehr junges Ding, was habe ich von der Natur wahrgenommen? Feld und Wiese, das bedeutete mir nur Arbeit...“, erzählt sie und schließt die Augen und lässt den Windhauch über ihre nackten Arme streichen. Im Sommer sind Fenster ohne Scheiben recht praktisch, denkt sie. Da hast du immer frische Luft und fühlst dich, als wärst du in einem herrlichen Garten. Ursula ist gegangen, neben sich hört sie die Kaninchen durch ihren Käfig hoppeln. Manchmal schlägt der junge Bock mit den Hinterbeinen auf den Boden. Anfangs hat sie das erschreckt, jetzt weiß sie, dass sein Poltern nichts zu bedeuten hat. Einmal ist die Tochter an die Tür gekommen, und als sie die Mutter immer noch wie in Betrachtung auf ihrem Stuhl sah, ist sie wieder leise gegangen. Bis zum Mittag sitzt die alte Frau im Kaninchenzimmer, und irgendwann hat sie sich die Kinderkleidung vorgenommen, die der Großvater für die Enkel aufgetrieben hat, um sie auszubessern. Die Ärmel an den Pullovern sind verschlissen, so dass Ursula Andreae sie auflösen und neu stricken wird. Die Bündchen wird sie mit anderer Wolle vervollständigen.

      Ursula hat die vernagelte Balkontür geöffnet. Licht, so viel Licht in dieser Stube! Auch sie sitzt dicht bei der Tür und lässt sich von der Sonne bescheinen. Im Kaninchenzimmer mag sie nicht lange sitzen, da stinkt es. Der Großmutter macht das nichts aus, sie sagt selbst, sie könne nicht mehr gut riechen. Jetzt ist sie müde geworden und droht einzuschlafen. Vorhin wäre sie beinahe vom Stuhl gefallen.

      Im Flur hört sie schwere Schritte. Der Vater ist es nicht, der geht trotz seines Alters leichfüßiger. Jemand klopft leise an die Tür. Für ungebetene Gäste hat der Vater eine Dachlatte hinter die Tür gestellt und geraten: „Keine Hemmungen, schlagt nur zu! Wenn ihr es nicht macht, macht es der Ganove!“

      Lautlos huscht Ursula zur Großmutter ins Kaninchenzimmer. „Da ist jemand an der Tür“, flüstert sie.

      „Wir sind nicht da“, sagt die Mutter und schließt wieder die Augen. Ohne sich zu rühren fragt sie: „Hat er Laut gegeben?“

      „Nein. Es ist ein Fremder. Ein Mann. Mutter, so geht nur ein Mann, der schweres Schuhwerk trägt.“

      Und noch einmal sagt die Mutter: „Lass ihn gehen, wir sind nicht da!“ Aber sie dreht sich doch auf ihrem Stuhl um und beobachtet die Flurtür. Und als heftiger geklopft wird, steht sie auf und bewaffnet sich mit der Dachlatte.

      „Mach auf“, sagt sie. „Aber vorsichtig. Du nimmst den Schürhaken, ich die Latte. Leise, leise.

      Ich stelle mich hinter die Tür und sollte er...“ Sie lässt die Dachlatte durch die Luft sausen. „Dann kriegt er gleich eins über seine Rübe!“

      Auf Zehenspitzen schleichen sie an die Tür, und die Mutter baut sich dahinter mit erhobener Latte auf. „Mach auf!“ flüstert sie.

      Ursula Andreae fragt, den Mund dicht am Türspalt: „Wer ist denn da?“

      „Willst du mich nicht reinlassen?“, fragt der Fremde. „Ursula, mach auf, dann wirst du’s sehen!“

      Noch ein kurzer Blick zur Mutter, die ihr zunickt, dann öffnet Ursula, den Feuerhaken hinterm Rücken, entschlossen die Tür. Vor ihr steht ein verdreckter, ein verwahrloster Soldat. Die Mutter hat ihn sofort erkannt. „Bruno!“, schreit sie und lässt die Latte fallen. „Bruno! Bruno!“ Und aufschluchzend hängt sie an seinem Hals. Einmal hält sie ihn ein Stück von sich, um ihn betrachten zu können, dann schlingt sie wieder ihre Arme um ihn. Sie lacht und weint gleichzeitig, und immerzu flüstert sie seinen Namen.

      „Ihr steht hinter der Tür wie eine Räuberhorde“, sagt Bruno, der versucht, sich aus der Umklammerung der Mutter zu befreien. „Der Hitler hätte euch zwei auf den Feind loslassen sollen!“, lacht er. „Ihr zwei seid geradezu verwegen geworden. Vor euch muss man auf der Hut sein!“

      Die Mutter zieht den Sohn in die Wohnung, und jetzt erst entdecken sie die beiden Jungen auf der Treppe, die still zugesehen haben. Erst haben sie sich mit der Großmutter gefreut, aber als die zu weinen anfing, schämten sie sich und wollten gehen.

      Ihre Mutter mäkelt: „Was seid ihr nur für Wichte, ihr! Steht hinter dem Onkel Bruno und sagt nichts! Konntet ihr euch nicht denken, dass wir Angst bekommen haben, als es an der Tür klopfte? Wenn der Onkel Bruno ein Fremder gewesen wäre, der unsere Sachen wegtragen wollte! Warum habt ihr nicht gerufen?“ Darüber können die Jungen nur kichern. Sie wissen vor Verlegenheit nicht, was sie machen sollen. Sich gegenseitig stoßend stürmen sie wieder nach draußen.

      Mutter und Sohn sitzen am Tisch, und die Mutter hat seine Hände genommen und streichelt sie immerzu, dann hält sie sie fest und sieht ihn an und sagt: „Was du für harte Hände bekommen hast! Hart und rauh. Na, Bruno, jetzt bist du da! Gott sei Dank. Ja, Gott sei Dank!“ Und immer wieder zittert ihr Kinn und füllen sich ihre Augen mit Tränen.

      Ursula hat ihm Brote gemacht und Kaffee gekocht, und als Bruno den Malzkaffee riecht, sagt er zur Schwester: „Es ist wie in den Cafés vor dem Krieg. So etwas Feines habe ich schon lange nicht mehr gerochen...“

      „Was hast du denn getrunken?“ fragt die Mutter.

      „Was wohl? Wasser, egal, wo es sich fand.“

      „Ach, du armer Kerl. Einfaches Wasser!“

      „Mutter, was wunderst du dich? Hatten wir vielleicht Bohnenkaffee oder Wein?“, fragt die Tochter verständnislos. „Ich habe drüben im Keller wochenlang nichts anderes getrunken als Wasser. Der Muckefuck war für die Kinder. Und gehungert haben wir auch!“

      Bruno sieht sie aus den Augenwinkeln an. Die Schwester macht den Eindruck, als trüge sie angestauten Ärger mit sich herum. Sie ist ihm nicht um den Hals gefallen wie die Mutter, sondern hat ihm wie einem Fremden wortlos die Hand gereicht und ist, nachdem sie mit ihren Jungen gezankt hatte, unauffällig verschwunden.

      Nachdem sie den Bruder versorgt hat, geht sie mit ihren Strickarbeiten ins Kaninchenzimmer, wo sie ungestört arbeiten kann, wie sie den Bruder wissen lässt, denn der möchte sich wohl zuerst mit der Mutter aussprechen. Für sie beide bliebe noch genügend Zeit, sagt sie, und wenn etwas benötigt würde – sie arbeite nebenan und käme sofort herüber.

      Ursula Andreae sitzt untätig am Fenster. Ihre Arbeit liegt im Schoß. Wenn jemand ins Zimmer kommt, dann kann sie sie aufnehmen und Geschäftigkeit vortäuschen.

      Jetzt ist der Bruno gekommen, denkt sie, wie lange wird sie noch auf Reinhold warten müssen? Wenn sich eine Gelegenheit ergibt, dann wird sie den Bruder fragen, was mit den meisten anderen Soldaten passiert ist. Bruno muss etwas über sie wissen, denn er ist selbst Soldat gewesen. Wo sind die Desertierten geblieben? Jene, die nicht in ein Lager geschickt wurden, sondern die man laufen ließ? Und wohin wurden die gebracht, die gefangen genommen wurden? Sind sie noch im Lande? Oder sind sie ins Ausland verschleppt worden? Denn es können nicht Hunderttausende in Gefangenschaft gekommen sein. Leichter ließe sich etwas über Reinhold herausfinden, wenn sie nur wüsste,