Wilhelm Thöring

Die Bärin Roman


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verletzt und verstümmelt weiterzuleben haben? Keiner. Ganz zu schweigen von den inneren Verletzungen, die kein Mensch sieht! Die Davongekommenen dürfen sich freuen und dankbar sein, dass sie ihr Leben retten konnten!“

      Ursula fragt: „Ob Reinhold eine ähnliche Chance hat? Ihn haben sie auch an die Ostfront geschickt... Vielleicht hat er das machen können, was dir eingefallen ist, Bruno.“

      Bruno bezweifelt das, aber er sagt: „Der Reinhold ist gewitzt. Ich bin überzeugt: Der wird die erstbeste Gelegenheit nutzen, um zu türmen, Urschel. Darauf sind die Schlaumeier ja alle aus!“

      Ja, Ursula will das glauben und sie lächelt, um zu zeigen, dass sie voller Zuversicht ist. Der Vater, der die ganze Zeit geschwiegen hat, meint: „Wir sollten das Kaninchenzimmer für dich herrichten, Bruno. Du brauchst einen eigenen Platz. Den Karnickeln werde ich eine Bleibe auf dem Balkon bauen. Dann stinkt es auch nicht mehr in der Wohnung.“

      „Auf dem Balkon?“ ruft die Großmutter. „Auch im Winter sollen die armen Tiere draußen in der Kälte bleiben? Wir haben manche Nacht noch leichten Frost!“

      „Und wie ist das mit den wilden Kaninchen?“ fragt die Tochter.

      „Ach, das sind eben wilde“, antwortet die Großmutter. „Die kennen es nicht besser.“

      Der Vater hat mit dem Herrichten des Zimmers für Bruno nicht lange gewartet. Aus einem der halbzerstörten Häuser hat er Fußbodenbretter herausgerissen und den Boden des Kaninchenzimmers ausgebessert. Der lange Riss, der in der Wand dieses Zimmers klaffte, wurde vorerst mit Lappen zugestopft. Er werde ihn zuschmieren, wenn er dafür Material bekomme, sagte er. Als Unterlage für Brunos Bett haben die beiden Frauen Säcke zusammengenäht und mit Stroh gefüllt, das der Vater aus dem Pferdestall des Kohlenhändlers geholt hat.

      „Geholt, Vater?“ fragt die Tochter belustigt.

      „Ja, geholt! Die beiden Pferde haben nichts dagegen einzuwenden gehabt. Ich habe ihnen gesagt, dass es für den Bruno ist!“

      In den nächsten Tagen hat sich der Bruno, wie es verlangt wird, bei den Behörden zurückgemeldet, und die schickten ihn umgehend zum Gesundheitsamt, dass er untersucht, entlaust und von der Krätze befreit würde, wenn er welche hätte.

      Kapitel 2

      Es ist Sommer geworden, und die strenge Kälte des letzten Winters, die bis ins Frühjahr hinein dauerte, die ist nun vergessen. An die Schuttberge auf den Straßen und an die leeren, zerlöcherten Häuser haben sich die Menschen gewöhnt. Gottlob, wir haben überlebt und uns in dieser ungeordneten Welt und dem ungeordneten Leben eingerichtet, so gut es geht, trösten sie sich und sagen: Wir sind überzeugt, dass es einmal besser werden wird, denn so kann es nicht für alle Zeit bleiben. Wer kann ein ganzes Volk knechten und kurzhalten und als Fußabtreter unter sich dulden? Irgendwann hat alles einmal sein Ende gefunden. Das kannst du in der Bibel nachlesen: Ein Menschenleben lang zog Israel durch die Wüste, dann durfte es wieder in normalen und geordneten Verhältnissen leben, sagt Pastor Mildenberg.

      Auf den Trümmerbergen versuchen Frauen, die Kriegsspuren zu beseitigen. Schmale Schienen sind gelegt worden, und in Loren wird der Schutt fortgeschafft. Andere hocken dazwischen und putzen Steine, das Klirren und Knirschen ihrer Beile und Hämmer geht von früh bis in den späten Abend und ist zur Melodie eines neuen Beginns geworden.

      Auch Ursula Andreae reinigt Steine. Ihre Hände sind rau und rissig geworden, und wenn sie jemandem die Hand gibt, dann spürt er eine derbe Männerhand. Anfangs ging sie krumm, und sie musste sich aufstützen, wenn sie sich erhob. Jetzt ist sie flink und behände, als hätte sie ihr ganzes Leben lang nichts anderes gemacht als Steine geputzt. Ab und zu steht der Vater bei ihr und berichtet, was er auf seinen Touren gesehen oder erlebt hat. Ihn scheint der Schwarzmarkt zu locken, der im Stadtviertel einen Aufschwung erlebt, dass mancher an nichts anderes denkt als daran, wie er daraus Nutzen ziehen kann. An diesen Orten bekomme man beinahe alles, wonach einem der Sinn stehe, weiß er zu berichten, aber nur, wenn man etwas dagegen zu bieten habe, das einen entsprechenden, oft einen weitaus höheren Gegenwert habe.

      „Willst du da mitmischen?“ fragte die Tochter ihn einmal.

      „Ich bin doch nicht verrückt und lass mich auf meine alten Tage einsperren! Wen die schnappen, mit dem gehen sie ganz schön rüde um! Ne, Urschel, ich bleibe bei meinen Touren. Damit geht’s uns doch nicht schlecht, oder?“

      Nein, schlecht geht’s ihnen nicht, aber gut... Sicher, mancher lebt elendiger als sie und weiß nicht, wie er den Tag überstehen soll oder ob er das nächste Wochenende noch erleben wird. Da sind sie besser dran! Sie haben nicht nur Kaninchen auf dem Balkon, sondern seit einem Monat auch fünf Legehennen. Der Vater hat mit dem Bruno den Balkon so verkleidet, dass die Verschläge für die Tiere von der Straße aus nicht zu sehen sind. Am Luisenpark haben sie einem alten Mann, der seine Hühner in der dritten Etage eines zerbombten Hauses versteckt hielt, alle Hennen gestohlen. Als er die Tiere füttern wollte, da lagen nur noch deren Köpfe im Stall. Vom Bulgaren Nikolai Wasow, der sich zwei Häuser weiter in einer Parterrewohnung eingerichtet hat, wird erzählt, dass der im Bad in der oberen Wohnung ein Schwein hält! Und Abend für Abend steigt er hinauf, um vor der Tür seines Schweinestalls zu schlafen, damit ihm niemand diese Kostbarkeit klauen kann. Es heißt auch, er habe immer ein langes Fleischermesser bei sich, und seine Frau Mascha schlafe, statt mit ihrem Nikolai, mit einem Beil im Bett.

      „Ja, es geht aufwärts“, sagt jetzt auch die Großmutter, wenn jemand sie nach ihrem Ergehen fragt. „Du lieber Himmel, man mag gar nicht daran denken, wie es im Frühjahr noch gewesen ist, als wir im Irrenhaus und später im Keller gehaust haben! Da sieht es heute doch anders aus! Eine trockene und warme Stube, in der es schön ist zu sitzen, fließendes Wasser... Doch das Beste ist, dass es keine Sirenen mehr gibt, die uns in den Bunker scheuchen und auch keine Bomben über dem Kopf, stattdessen Nachtruhe und sicheres Schlafen... Was will man mehr! Ja, und der Sohn ist aus dem Krieg heimgekehrt und hat sich wieder eingelebt. Arbeit hat er noch keine, aber das wird sich auch bald ändern! Wenn man sich nur bescheiden kann und ein wenig Geduld aufbringt!“

      In den letzten Tagen, seitdem es heiß geworden ist, ist die Großmutter Emma Straeten auch wieder öfter auf der Straße zu sehen. Sie steht bei der Tochter oder wandert zu den anderen Frauen, um mit ihnen zu plauschen und etwas zu erfahren. Sie fühle sich wohl in dieser Wohnung, und sie werde sie nicht mehr verlassen, sagt sie, obwohl sie sich anfangs mit Händen und Füßen gesträubt habe, in die Nähe dieses verfluchten braunen Hauses zu ziehen. Wenn es Zeit ist, eine Mahlzeit vorzubereiten, dann geht sie in ihr Reich zurück, wie sie zu der Wohnung sagt. Und bei diesem oder jenem fügt sie auch schon einmal hinzu: Ein Großreich haben sie uns genommen, aber ein kleines, friedliches, das haben wir gefunden. Und da bin ich gerne!

      Sorgen macht sich die Mutter um Bruno. Der langweilt sich und weiß nichts anzufangen mit der vielen Zeit. Wenn man mich doch wieder arbeiten ließe, klagt er, dann wäre ich zu etwas nütze. Aber so! Der Vater schlug vor, er könne ihn auf seinen Touren begleiten oder das eine oder andere reparieren. Doch vor Arbeiten im Haus drückt er sich, und für Vaters Touren sei er auch nicht zu gebrauchen. Geht mir weg! Für so etwas bin ich nicht geschickt genug, redet er sich heraus. Ich brauche andere Arbeit, richtige Arbeit. Dann träumt er am offenen Fenster den Wolken nach und denkt wohl an die Jahre, die ihm genommen worden sind oder was er im Feld erlebt hat.

      Die Ursula bemerkte einmal der Mutter gegenüber: „Was dem Bruno fehlt, ist nicht nur Arbeit, dem fehlt auch eine Frau.“

      „Eine Frau? Du bist nicht gescheit! Was du so denkst! Der Junge ist immer noch vom Krieg gezeichnet, so etwas vergisst man nicht von heute auf morgen. Er ist schwach und immer noch so mager... Und da kommst du ihm mit einer Frau!“

      „Ich komme nicht mit einer Frau, ich meine nur, dass ihm ein Mensch fehlt, der ihm hilft, die schlimmen Erlebnisse zu verarbeiten.“

      „Er hat mich. Was braucht der Bruno eine Frau! Und was heißt schlimme Erlebnisse? Haben wir nicht auch Schlimmes erlebt?“

      „Dir hat keiner ein Gewehr an den Kopf gehalten!“

      „Haben sie das mit ihm gemacht?“

      „Frage