Wilhelm Thöring

Die Bärin Roman


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Bruno?“

      „Damals war Krieg, Mutter. Und wie hätten die den Kindern Schokolade geben sollen? Die hatten nicht einmal Brot.“

      Den Besatzungssoldaten auf ihren Bulldozern traut die Großmutter so etwas nicht zu, aber sie findet Gefallen an dem Gedanken, dass der Bruno, dass deutsche Soldaten an russische Kinder Lebensmittel verteilt haben. Nach einer geraumen Weile meint sie: „Der Bruno, Urschel, der Bruno hat so etwas ganz bestimmt getan...“ Und es sieht so aus, als wollte ihr Kinn wieder zu zittern anfangen.

      In der folgenden Zeit sieht man immer mehr Frauen bei den Besatzungssoldaten auf den Bulldozern, und es ist bald niemand mehr da, der sich noch lauthals darüber empört.

      „Mutter, ich glaube, ich habe einen wichtigen Menschen kennengelernt“, verkündet der Vater. Er reibt seine rauen Hände, dass es klingt, als reibe er Schmirgelpapier aneinander. Selbst jetzt trägt er seinen steifen Hut. Was ihn gegen Kälte schütze, hat er der Mutter geantwortet, die ihm riet, diese Angströhre in den Schrank zu legen, das schütze ihn auch gegen Hitze, vor allem gegen eine gnadenlose Sonne, wie sie zur Zeit am Himmel stehe. Und etwas anderes habe er nicht zum Schutz für seinen Kopf.

      „So? Und wer ist dieser wichtige Mensch?“

      „Alois Grabenthin, ein Werkskalfaktor.“

      Die Mutter kichert: „Werkskalfaktor... In welchem Werk ist der Grabenthin Kalfaktor?“

      „In der Eisengießerei.

      „Kalfaktor? Was hat der denn zu tun? Die arbeiten doch gar nicht mehr, heißt es. Haben die Alliierten nicht alles abgebaut und fortgeschleppt?“

      „Für einen Menschen wie Grabenthin gibt es immer was zu tun, und wenn er Tag für Tag irgendeine Halle auskehrt! Ganz still, Mutter, steht der Betrieb nicht, und das wenige, was sie herstellen, das holen sich die Engländer oder Franzosen. Aber Grabenthin sagt, so kann es nicht lange bleiben. Deutschland muss wieder auf die Füße kommen. Das wollen auch die Alliierten. Die Produktion wird wieder angekurbelt, sagt er. Ich glaube, er hat recht, Mutter: Millionen Menschen lassen sich nicht in einen Hungerkäfig sperren! Es wird sich ändern, es muss sich ändern! Sollen sie nur nehmen, sagt Grabenthin, um so gründlicher werden wir nachher aufbauen! Alles besser, alles moderner!“

      „Ein Schlaumeier ist er, dein Grabenthin, der Herr Kalfaktor. Hatte wohl früher einen wichtigen Posten, bei dem er viel gelernt hat, was? Wie soll es besser und moderner werden? Geht dein Grabenthin zum Wahrsager und lässt sich aus dem Kaffeesatz lesen...“

      „Ja, spotte nur! Ich glaube ihm. Mir leuchtet ein, was er sagt“, meint der Vater und langt nach seinem Hut, um zu gehen. „Wenn es über dich kommt, Mutter, dann gefällt es dir zu zweifeln, zu widersprechen und schwarz zu sehen!“

      „So, das bin ich! So siehst du mich! Wäre ich so gutgläubig wie du, dann, dann...“ Sie weiß nicht, was dann wäre und lenkt augenblicklich ein: „Sag einmal, könnte der Grabenthin unserem Bruno nicht Arbeit verschaffen? Du siehst, wie der Junge sich vor Langeweile selbst nicht leiden kann. Ich finde, wenn der etwas zu tun kriegt, dann wird er umgänglicher.“ So ganz nebenbei sagt sie: „Die Urschel meint, ihm fehle eine Frau.“

      „Was fehlt dem?“ Der Großvater lacht laut, dann meint er: „Ich werde den Grabenthin fragen. Vielleicht eine Arbeit im Pferdestall... Er erzählte mir, dass er eine Hilfe bei den Pferden gebrauchen könne.“

      „Pferde? In der Eisengießerei haben sie Pferde?“

      „Mutter, Pferde werden überall gebraucht. Sogar unten in den Kohlegruben.“

      Die Großmutter murmelt vor sich hin: „Der Bruno als Pferdeknecht…“ Dann lauter: „Glaubst du, dass das eine Arbeit für den Bruno ist?“ Sie hat Zweifel. „Der Junge hat einmal Tischler gelernt. Aber Stallarbeit...“

      „Wenn Grabenthin ihn nehmen will, dann kann man das dem Bruno anbieten. Er selbst mag entscheiden. Ich gehe jetzt.“

      Ehe er die Küche verlässt, sagt er: „Wenn du Eier übrig hast, dann könnte ich damit auf den Markt gehen. Eier werden gerne genommen. Der Achim hat bald Geburtstag, sagt die Urschel. Er wünscht sich Obst, Apfelsinen, sagt er.“

      „Woher kennt der Junge Apfelsinen?“

      „Ich weiß es nicht, aber er würde gerne welche haben. Mutter, denk einmal darüber nach, ob du Eier zum Tauschen übrig hast, ein paar. Eier sind gefragt.“

      Als der Achim Ende Juli seinen Geburtstag feiert, liegen zwei Apfelsinen auf dem Frühstückstisch, so groß wie seine Faust, und die Großmutter kann es gerade noch verhindern, dass er hineinbeißt. „Achim, die müssen geschält werden, nicht wie Kartoffeln, sondern so...“ Sie ritzt die Schale ein, löst sie von der Frucht und legt ihm die blutroten Spalten auf einen Teller. „So, nun kannst du sie essen!“

      Aus Angst, dass der Wolfgang, der dabeisteht, auch zulangen könnte, zieht Achim sich mit dem Teller in eine Ecke zurück, und als er auf die erste Spalte beißt, brüllt er los und spuckt alles auf den Boden. „Sind die sauer!“, schreit er. „Das sind gar keine Apfelsinen. Die Soldaten, die haben richtige Apfelsinen, die schmecken! Das sind keine!“

      „Nun mal sachte!“ Die Großmutter nimmt den Teller und streut ihm Zucker darauf. „Das hier sind auch Apfelsinen. Blutapfelsinen, weil die so rot sind. Die isst man mit Zucker. Sag einmal: Lässt du dir von den Soldaten Apfelsinen schenken? Haben die denn welche?“

      „Bessere als deine.“

      „So, so. Was musst du denn tun, dass sie dir so etwas schenken?“

      „Die wollen meine Lieder hören.“

      „Was sind das für Lieder?“

      „Lieder vom Krieg. ‚Die Fahne hoch’ und ‚Bomben auf Engelland’, das hören sie am liebsten.“

      „Das wollen die hören?“, wundert sie sich. „Solche Lieder darf man nicht mehr singen, Achim.“

      „Doch, die Soldaten wollen sie hören, darum bekomme ich Apfelsinen, Schokolade, Bonbons und Kaugummi.“

      Vorsichtig und zögernd drückt der Achim die Apfelsinenspalten in den Zucker und leckt ihn ab. Zum nächsten Geburtstag wolle er keine Apfelsinen mehr, sagt er. Da werde er sich etwas anderes ausdenken.

      Ursula Andreae geht kaum noch zum Steineputzen auf die Straße, weil sie genug hat vom lasterhaften Gerede einiger Frauenspersonen, und weil sie im Winken, ja schon im Zulächeln der Soldaten auf ihren Bulldozern eine Aufforderung wittert, es wie andere Weiber zu machen und zu ihnen auf den Sitz zu klettern. Seit kurzem sitzt sie wieder öfter bei ihren Kindern, vor allem beim Marlenchen, das von früh bis spät am Schürzenzipfel der Großmutter hängt und ihr schon lange lästig ist. „Das Kind ist mir ständig um die Beine“, klagte sie. „Urschel, das Mädel ist wie ein junger Hund. Die bringt es noch dahin, dass ich stürze.“

      Ursula hat sich mit dem Marlenchen vor die offen stehende Balkontür gesetzt und rupft Lappen, aus denen sie für das Kind eine Puppe fertigen will. Müde geworden, stumm und gelangweilt, sieht das Mädchen zu, wie die Mutter Lappen für Lappen auseinanderrupft. „Bist du wieder müde?“, fragt die Mutter, doch das Kind antwortet nicht, es hat die Frage nicht gehört, so dass die Mutter noch einmal nachfragt, worauf das Marlenchen sich nur noch fester an die Mutter schmiegt. Mit dem Mädel stimme etwas nicht, hat die Großmutter gemeint, Ursula solle mit ihr zum Arzt gehen. Urschel, wie kann ein so junger Mensch nur immerzu abgeschlafft und müde sein! Das Kind ist nicht gesund! Ursula brauste auf und meinte, ihre Tochter sei so normal wie die beiden Jungen auch. Was die Großmutter als Krankheit ansehe, das sei nichts weiter als eine Sache des Temperaments.

      Sie betrachtet ihr müdes, stilles Kind und will es ein wenig aufmuntern. „Das kommt alles hier herein“, erklärt sie und hebt einen von Stopfflecken übersäten Damenstrumpf hoch. „Siehst du: Das wird der Bauch und das der Kopf.“ Nein, das Marlenchen zeigt kein Interesse, es vergräbt sein Gesicht in der Bluse der Mutter. „Und Arme und Beine, die machen wir auch aus diesem Stoff, Marlenchen.“ Die Mutter wedelt mit dem Stofffetzen. Das Kind schweigt.