Wilhelm Thöring

Die Bärin Roman


Скачать книгу

etwas zu erwidern, verschwindet der Fremde, und die Großmutter läuft an die Tür und lacht so laut hinter ihm her, dass es die Leute auf der Straße hören können. Ja, sie scheut sich nicht, ihn vom Balkon herunter zu verhöhnen.

      „Zuchtloses Zigeunerpack!“, wiederholt die Großmutter. „Mit den Amerikanern poussieren... Urschel, der verwechselt dich mit jemandem... Vielleicht ist es sein Weib, das so etwas macht! Eine bodenlose Frechheit, das dem Kind ins Gesicht zu schreien... Ach, der Bruno kommt. Wie war’s, mein Junge?“

      Der Bruno wirft seine Jacke auf den Stuhl. Er lässt Wasser in die Hände laufen und trinkt, und die Großmutter steht daneben und wartet, dass er vom Pferdestall der Eisengießerei erzählt.

      „Was war hier los? Was wollte der Kerl?“

      „Bruno, stell dir vor...“ Ursula erzählt dem Bruder, was vorgefallen ist.

      „Und ihr lasst das Miststück gehen? Den hätte ich die Treppe hinuntergeworfen“, sagt Bruno und versprüht etwas vom getrunkenen Wasser. „Soll ich ihm nach?“

      „Wie du einen auf die Folter spannen kannst!“, ruft die Großmutter ungeduldig. „Die ganze Zeit denke ich an nichts anderes als an dein Gespräch mit diesem Kalfaktor – und jetzt bist du da und machst darüber deinen Mund nicht auf!“

      „Ich habe keine Zeit, Mutter, ich muss sofort wieder weg.“

      „Hast du Arbeit bekommen?“

      „Das erzähle ich dir später. Ich habe keine Zeit!“ Nachdem er sein Gesicht gewaschen und sich gekämmt hat, wirft er seine Jacke über die Schulter und beeilt sich, aus dem Haus zu kommen. Wieder läuft die Großmutter auf den Balkon, und da sieht sie den Bruno mit einem Mädchen weggehen. Eine Hand hat er auf ihre Hüfte gelegt, mit der anderen schwenkt er übermütig seine Jacke durch die Luft. Lange sieht die Großmutter ihm nach, und als sie in die Küche zurückkommt, schlägt sie die Hände zusammen und seufzt: „Du lieber Himmel, was war das heute für ein Tag! Nichts als Aufregungen, nichts als Aufregungen...“

      Ursula hat sich in ihre Schlafstube zurückgezogen. Sie mag sich das Jammern der Großmutter nicht anhören, vor allem reizt sie, wie sie sich um Bruno sorgt, wie sie um ihn herumscharwenzelt. Ihretwegen hat sie nie ein solches Theater gemacht, denkt Ursula.

      Der Ärger über den Fremden, der in ihre Wohnung eindrang, um den Achim zu züchtigen, weil sie als Mutter eine zu lasche Hand bei der Kindererziehung zeige, der Ärger darüber ist über Großmutters Gewese um den Bruno verraucht. Jetzt hat sie von diesem fremden Strolch zu hören bekommen, was schon ihr Schwager Manfred Andreae einmal über alleinstehende Frauen äußerte, und was die Großmutter über Tage in Harnisch gebracht hatte. Sie wird es künftig öfter zu hören bekommen und ertragen müssen, dass Männer Witwen mit Kindern so einschätzen: Mit solchen Aufgaben seid ihr Frauen überfordert – nein: Um Kinder, vor allem Jungen, allein großzuziehen, dazu seid ihr unfähig!

      „Ich habe mit dir zu reden“, sagt die Mutter zum Wolfgang, der in seinem Essen stochert und darüber nachdenkt, wie er entwischen kann. Denn eingeweichtes Brot mit einem Salat, den die Mutter auf den Wiesen des Luisenparks gesammelt hat, das mag er nicht.

      Wenn die Mutter etwas mit diesen Worten beginnt, dann liegt Ungutes in der Luft. Ein Entrinnen ist nicht möglich, denn der strenge Blick der Mutter hält ihn an seinen Platz.

      „Ich habe dich in der Schule angemeldet. Ab August geht der Schulbetrieb wieder los.“ Und zur Großmutter hin sagt sie: „Das wird auch Zeit, dann kommt der Bengel endlich von der Straße!“

      Bruno lacht schadenfroh: „Jetzt fängt der Ernst des Lebens an, Bursche. Es wird auch Zeit, dass euch Zucht und Ordnung beigebracht wird! Da hat das Spielen und Schreien in den Trümmern ein Ende. “

      Was das bedeutet, das weiß der Wolfgang nicht, doch Brunos Bemerkungen machen ihm Angst, dass er blass wird, und kleinlaut wagt er zu fragen: „Und der Achim? Geht der mit?“

      Ursula schüttelt verwundert ihren Kopf: „Der kommt später in die Schule. Du weißt doch, dass er einen kaputten Rücken hat, und für die Schule ist er noch nicht kräftig genug.“

      „Dann will ich auch nicht. Ich will mit dem Achim gehen.“

      Die Mutter legt ihren Löffel auf den Tisch. Beide Ellbogen aufgestützt, betrachtet sie aus starren Augen ihren Ältesten, und plötzlich verfinstert sich ihr Blick und in drohendem, keinen Widerspruch duldenden Ton sagt sie: „Willst du Theater machen? Hier gibt’s kein: Ich will nicht! Du bist acht Jahre alt und müsstest schon in die dritte Klasse kommen! Das Spielen hat einmal ein Ende. Es ist so, wie der Onkel Bruno sagt: Die Spielerei ist vorbei, du bist alt genug, um ernsthaftere Dinge zu tun!“

      Die Großeltern sitzen ungerührt dabei. Als die Kinder wieder gegangen sind, meint der Großvater: „Warum bist du so streng mit ihm, Urschel? Wie soll der Junge begreifen, dass die unbeschwerte Zeit vorbei ist? Jahrelang hat er spielen können, wenn wir nicht wegen eines Angriffs im Bunker sitzen mussten! Und plötzlich kündigst du ihm etwas Ernsthaftes an, und das auch noch beim Essen!“ Der Großvater gestikuliert mit seinem Löffel und fügt hinzu: „Dein Ton dem Großen gegenüber hat sich verändert, Urschel. Du bist streng geworden, manchmal sogar hart.“

      „Vater, weißt du, was auf mir lastet?“

      „Das, was unzählige Kriegsmütter zu tragen haben.“

      Ohne es zu wollen, sagt sie: „Jungen brauchen eine straffe Hand, Vater.“ Und als sie das ausgesprochen hat, ärgert sie sich darüber, weil sie das auch von Reinholds Bruder gehört hat.

      „Meinst du? Deine Hand, Urschel, sehe ich aber nur beim Großen straff, sehr straff!“

      Und die Großmutter meint, und sie unterstreicht ihre Worte durch mehrmaliges Nicken: „Das habe ich schon einmal gehört! Hat dich das, was dein Schwager zum Besten gab, so sehr beeindruckt, dass du deine Ansicht geändert hast?“ Und weil die Tochter schweigt, fügt die Großmutter hinzu: „Der Junge hat Angst vor der Schule. Das hat er mir neulich gesagt, als ich mit ihm darüber gesprochen habe. Er fürchtet sich vor den Lehrern, vor den anderen Kindern...“

      „Ich bin immer gerne in die Schule gegangen, Mutter. Mir hat das Freude gemacht!“, unterbricht Ursula sie. „Angst vor der Schule!“, ruft sie höhnisch. „Wie kann er vor etwas Angst haben, das er nicht kennt? Er ist so anders... Von mir hat er das nicht!“

      „Urschel, es gab Zeiten, da musste ich auch Druck aufwenden und dich zur Schule zwingen. Hast du das vergessen?“

      Ursula lacht schrill auf und schlägt die Hände zusammen. „Ich und Angst vor der Schule? Mit wem verwechselst du mich? Die Schulzeit war meine angenehmste Zeit... Mutter, ich habe zu tun!“ Damit springt Ursula auf und läuft in ihre Schlafstube, wo sie Hemden für die Jungen näht, und lässt die Großmutter mit der Küchenarbeit allein.

      „Ja, so ist sie“, murmelt die Großmutter. „Wenn man den Finger bei ihr auf eine Wunde legt, dann läuft sie davon. So war sie schon als Kind. Und sie hat sich bis heute nicht geändert.“

      Der Vater hat vorgestern Fallschirmseide nach Hause gebracht, und daraus will sie den Jungen Hemden nähen. Zuerst soll der Wolfgang eines bekommen, so dass er beim ersten Schulgang ordentliche Kleidung trägt, denn einer alleinstehenden Frau wird nicht viel zugetraut. Wie sie ihren Aufgaben und Problemen zu Leibe rückt und sie bewältigt, darauf wird mit Argusaugen geachtet, so ist das. Noch weiß kaum jemand, dass sie Witwe ist, denn das könnte ihre Lage verschärfen und die Maßstäbe anheben. Hat sie nicht auch klare Vorstellungen von Kindererziehung, von Ordnung, von Regeln und Zucht? Fehlt ihr wirklich der Mann an der Seite, um ihre Kinder damit vertraut zu machen? Der Schwager ist davon überzeugt, und jener fremde Eindringling deutete es ebenfalls an.

      Ursula Andreae ist entschlossen, den anderen und auch sich selbst zu beweisen, dass sie ihren Mann im Leben stehen kann!

      An Wolfgangs erstem Schultag geht es turbulent zu. Der Junge hat das Deckbett über den Kopf gezogen und weigert sich, aufzustehen. Er wolle erst in die Schule gehen, wenn auch der Achim gehe, sagt er wieder und wieder. Dass er Angst