Wilhelm Thöring

Die Bärin Roman


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kommt Lehrer Baldur Kiesel gelaufen; er schwingt seinen Arm wie eine verletzte Gans ihren Flügel. „Natürlich der Andreae!“, brüllt er. „Lesen kann er nicht. Sich aber so etwas Hirnverbranntes ausdenken – ja, das kann nur der Andreae!“ Und unter dem Grölen und Feixen der anderen Schüler schleift Baldur Kiesel seinen sich sträubenden Sorgenschüler Wolfgang Andreae mit seinem baumstarken Arm ins Lehrmittelzimmer, wo er sich über eine Bank legen muss.

      „So macht man das mit solchen widerborstigen Kreaturen wie du eine bist, Andreae. Merke dir das! Und morgen bin ich bei deiner Mutter...“ Immer wilder werdend drischt Lehrer Kiesel los, weil er von seinem Schüler keinen Laut hört.

      Baldur Kiesel ist nicht zur Mutter gegangen.

      Eines Tages um den Totensonntag herum heißt es: Lehrer Kiesel ist krank geworden. Sein Fehlen schürt wilde Vermutungen. Er sei strafversetzt worden, erzählen die einen, weil er so leicht aus der Haut fahre und die Schüler mit allem geschlagen hätte, was ihm in die Hände fiel. Andere wissen, man habe den Kiesel gefeuert, er wäre kein Lehrer, sondern Ausbilder beim Militär gewesen. Es geht auch dieses Gerücht: Kiesel heiße gar nicht Kiesel; diesen Namen hätte er angenommen, um seine Vergangenheit als Ortsgruppenleiter zu vertuschen, und die, das weiß man, werden überall gesucht, verurteilt und eingesperrt. Weiter wird von ihm erzählt, dass er nicht nur Menschen verraten und ans Messer geliefert habe – nein, an Kiesels eigenen Fingern würde Blut kleben! Eigenhändig hätte er in einem südlichen Land Männer erschossen, weil er die für Partisanen und Kollaborateure gehalten habe, obwohl sie es gar nicht gewesen seien. Ja, der Kiesel hätte es faustdick hinter den Ohren gehabt! Jetzt fehlt er in der Schule und darüber sind die meisten Schüler froh.

      An einem Wintermorgen haben Wolfgang Andreae und ein anderer Schüler nach sieben Uhr in der Schule zu sein und den unförmigen Kanonenofen, der fast bis an die Klassendecke reicht, vorzuheizen. Beide haben Papier und Holz mitgebracht und es entzündet, aber der Ofen zieht nicht, der Klassenraum ist voller Qualm. Während beide davor kniend in das schwelende Flämmchen pusten, kommt eine Frau als Nachfolgerin für Lehrer Kiesel in den Raum.

      „Damit werdet ihr wohl kein Glück haben“, sagt sie hinter den Jungen. „Wir haben Nebel, der drückt in den Kamin.“ Sie reißt zwei Fenster auf. „Lieber ein bisschen frieren als entzündete Augen bekommen und angekratzte Stimmbänder“, erklärt sie. Sie ist eine große, gebückte Person mit starken O-Beinen und einem flächigen Gesicht, aus dem die Nase wie der Schnabel einer Eule hervorspringt. Vom Fenster aus sieht sie den beiden Jungen zu. „Macht ihr das jeden Morgen?“

      „Nein, wir sind heute dran.“

      „Ach, wenn wir doch ein bisschen Petroleum hätten oder Benzin...“, denkt die Lehrerin laut nach, dann dreht sie sich um und schaut aus dem Fenster.

      Die beiden Jungen bleiben vor dem Ofen hocken, sie trauen sich nicht, das Klassenzimmer zu verlassen. Wolfgang schielt verstohlen zur neuen Lehrerin: Wird sie auch schreien und Gegenstände nach den Schülern werfen, die etwas nicht begriffen haben? Wird sie die Klasse anbrüllen, dass sie diesem Sauhaufen noch Zucht und Ordnung einprügeln werde? Oder zuschlagen wie Kiesel, dass der Stock zersplittert? So vertrauensvoll wie Mascha Wasowa sieht sie nicht aus, denkt Wolfgang, sie ähnelt mehr der Mutter, der Frau Gresshage und vielen anderen Frauen. Durch das Treppenhaus eilt ein Lehrer mit der Glocke, dann steht er auf dem Schulhof und läutet. Der Lärm draußen ebbt ab, wenig später ist es still. Die Tür zum Klassenzimmer fliegt auf, und die Schüler drängen herein und jammern, weil es kalt und rauchig ist. Sie sehen die Frau am Fenster stehen und wagen es nicht, sich zu setzen. Langsam wendet sich die neue Lehrerin der Klasse zu: „Guten Morgen!“

      „Guten Morgen, Fräulein...“ antwortet ihr ein unsicherer Chor.

      „Setzt euch.“ Sie schreibt ihren Namen an die Tafel. „Das ist mein Name. So heiße ich.“

      Jemand in der ersten Bankreihe buchstabiert ihn laut: „A-n-t-o-n-i-n-i...“

      „Richtig!“ Frau Antonini wiederholt ihren Namen. Wenn sie über die Klasse hinsieht, dann könnte in jedem das Gefühl aufkommen, dass sie nur ihn ansehe. Frau Antonini erklärt: „Antonini – das ist ein italienischer Name, aber ich bin keine Italienerin, ich bin eine Deutsche.“ Sie macht eine Pause und blickt wieder über die Köpfe, und man könnte meinen, dass ihre Nase gleich zuhacken wird. „Ich werde mich bemühen, gerecht zu sein und jeden von euch ernst zu nehmen. Wer etwas nicht verstanden hat, der soll zu mir kommen, ich bin dazu da, es ihm zu erklären“, sagt sie. „Von euch erwarte ich, dass ihr untereinander kameradschaftlich bleibt, niemanden anschwärzt, wenn er Unerlaubtes getan hat. Das sind ganz schlechte Manieren! Macht euch nicht über den Mitschüler lustig, der eine Aufgabe nicht sofort begreift. Keiner von uns hat es gerne, wenn er ausgelacht und gehänselt wird. Ich auch nicht!“ Sie zeigt noch einmal auf ihren Namen an der Tafel. „Ich heiße: Antonini! Die drei letzten Buchstaben gehören auch zu meinem Namen!“ Sie wandert ein Stück weit in den Mittelgang. „Herr Kiesel wird nicht mehr an diese Schule zurückkommen“, erklärt sie. „Für die nächste Zeit bin ich eure Klassenlehrerin. Ich hoffe, dass wir gut miteinander auskommen...“ Einige Schüler stoßen ihre Banknachbarn an und freuen sich, solche Worte aus dem Mund eines Lehrers zu hören. Vor Frau Antonini braucht niemand Angst zu haben; mit ihr wird eine bessere Zeit anbrechen.

      An diesem Morgen will es im Klassenzimmer nicht richtig hell werden, und die Kinder in den hinteren Reihen haben Mühe, Frau Antoninis Namen an der Tafel zu lesen, darum lässt sie singen. Sie sammelt Vorschläge, was sie gerne singen würden, und schreibt die Lieder an die Tafel.

      Singen – Kiesel hat nie singen lassen. Und es gibt auch niemanden in der Klasse, der sich Kiesel singend vorstellen kann. Ja, die Schüler atmen bei Frau Antonini auf, vor allem jene, die die kurze Zeit unter Kiesel zu leiden hatten.

      Das Jahr geht in wenigen Wochen zu Ende. Beinahe jeden Morgen hängt Nebel zwischen den Trümmern und zieht durch die leeren Ruinenfenster und die kahlen Baumkronen, die ebenso von Bomben und Granaten gezeichnet sind wie alles andere ringsum. Durch den Nebel sind die gespenstischen Straßen noch geisterhafter, so dass auch mancher Mann sich schon am späten Nachmittag nur ungern ins Freie wagt. Die Frauen hinter den Fenstern gruselt es, und sie wundern sich über das, was sie gelegentlich zu sehen bekommen. Denn mit zunehmender Dunkelheit kommt lichtscheues Gesindel, kommen Diebe und Schrottsucher aus ihrem Versteck und streunen durch die Trümmer. Die Großmutter sagt, in jeder Gestalt, die um diese Zeit durch die Straße strolcht, sehe sie einen Halunken. Und noch mehr wundert sie sich darüber, dass vereinzelt Frauenspersonen unterwegs sind, vor allem aufgedonnerte und aufdringliche, die die Nähe der Männer suchen, sie ansprechen, sie am Ärmel festhalten und in ein Versteck zu zerren versuchen. „Der ehrbare Mensch, ja, der wird überfallen und ausgeraubt“, schimpft sie. „Aber diese Weibsstücke kommen ungeschoren davon. Weiß der Himmel, wann es wieder so zugehen wird, wie es zuzugehen hat!“

      Hinter den Fenstern des gegenüberliegenden Hauses sieht sie Männergestalten huschen. Jetzt reißen sie auch da Rohre und Kabel aus den Wänden und schleppen sie fort. Einmal stand jemand vor ihrem Haus und betrachtete es so eingehend, dass sie alle auf die Straße liefen, und jeder von ihnen trug eine Waffe in der Hand, worauf der Fremde sich gemächlich davonmachte. Der Bruno, der in den letzten Wochen selten zu Hause war, wird gebeten, nicht einfach ins Haus zu kommen, sondern auf der Straße zu pfeifen und zu rufen. Dann tritt der Vater auf den Balkon und ruft ihm zu, er werde aufschließen. Damit wird dem herumlungernden und spionierenden Gesindel gezeigt: Seht euch vor, hier sind Männer im Haus, sogar ein junger und kräftiger! Denn bei den vernagelten Fenstern ist nicht gleich zu sehen, dass das Haus bewohnt ist.

      „Für euch und für mich ist es einfacher, wenn ihr euch einen Hund anschafft“, schlug der Bruno vor. „Einen großen und scharfen Wachhund. Mit ihm lebt ihr sicherer!“

      „So, und wovon soll das Tier leben?“ fragte die Großmutter und schüttelte über so viel Unverstand den Kopf. „Es ist nicht einmal für uns genug da! Für das, was ein Hund frisst, könnten wir es wie der Nikolai Wasow machen und uns ein Schwein halten!“ Plötzlich schlägt sie die Hände zusammen. „Einen Hund!“, ruft sie aus. „Unsere Wohnung ist sauber, Bruno. Wir haben keine Wanzen und Flöhe in den Betten, und keiner von uns hat Läuse.