Wilhelm Thöring

Die Bärin Roman


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die Hände im Teig, sieht sie zu ihrem Sohn hin: „Bruno, könntest du mir diesen Gefallen tun?“

      „Was hast du davon?“, knurrt er. „Ob ich nun da sitze oder hier in der warmen Stube... Was hast du davon? Nichts! Du willst nur wieder einmal deinen Willen durchsetzen!“ Er dreht sich jäh zu ihr um. „Du weißt, dass ich nie dahin gegangen bin. Mir reichte ein für alle Mal der Konfirmandenunterricht mit den Gottesdienstbesuchen! Das reicht bis ans Ende meiner Tage! Und was du da eben von einem Versprechen gesagt hast: Ich, Mutter, habe nie so etwas versprochen. Niemandem. Auch nicht dem da oben!“ Er deutet gegen die Zimmerdecke.

      „Bruno, du bist hart!“, ruft sie. „Ja, hart bist du, undankbar und kaltherzig! Du erträgst es nicht mehr, bei uns zu sein. Wochenlang bekommt man dich nicht zu Gesicht. Wenn ich doch wüsste, was in dich gefahren ist, Bruno!“

      Der Bruno ist wütend aufgesprungen und hat den Stuhl umgestoßen. „Mutter, wenn du nicht willst, dass ich davonlaufe, dann sei still, bitte. Ich habe auch meine Schwierigkeiten: Arbeit ist nicht zu bekommen, und dann...“

      Die Mutter kommt an seine Seite und hebt den Stuhl auf. „Was ist: und dann, Bruno?“

      Bockig wendet er sich ab und vergräbt seine Hände in den Hosentaschen und schweigt. Die Mutter will ihm ins Gesicht sehen, und wieder fragt sie: „Bruno, was heißt: und dann?“

      „Ihr Frauensleute könnt einem ganz schön auf die Nerven gehen.“

      „Frauensleute?“, fragt die Mutter. Über ihr Gesicht huscht ein verstehendes Lächeln; das ist es also, sie weiß Bescheid. „Weißt du, Junge: Auch wenn es einmal nicht so kommt, wie wir es uns wünschen – davon, Bruno, stürzt nicht gleich der Himmel ein!“

      Beinahe fluchtartig rennt er aus dem Zimmer. „Mutter, du immer mit deinen Sprüchen!“, hört sie ihn schimpfen. Im Flur springt er mehrere Stufen gleichzeitig hinunter; vom Balkon sieht sie, dass er immer noch rennend die Joppe überzieht und in Richtung Luisenpark läuft.

      Zu seinem Ärger mit der Arbeit hat der Junge auch noch Kummer mit seinem Mädchen, denkt die Großmutter. Er sollte sie einmal mitbringen und uns vorstellen, das festigt die Beziehung. Beim Vater und mir war es nicht anders. Ja, ich werde sie einladen, vielleicht an einem Weihnachtstag. Huhn oder Kaninchen können wir nicht mehr bieten, die wurden von anderen gefressen. Aber es wird mir schon etwas einfallen! Obwohl Teig an ihren Händen klebt, hat die Mutter wegen der Kälte beide Arme um ihren Körper geschlungen. Sie sieht dem Bruno nach, bis er hinter den Ruinen verschwunden ist; erst jetzt geht sie in die Stube und an ihre Arbeit zurück. Neben dem Herd hat der Vater einen Arm voll Holz abgelegt, damit sie ordentlich feuern kann. Ein Blech wird sie mit Brezeln backen, ein zweites mit Fladen, die sie mit einer Tasse aus dem ausgerollten Teig stechen wird. Im Herbst hat sie Kürbiskerne gesammelt, damit wird sie das zweite Blech mit den kreisrunden Fladen verzieren, dass es aussieht, als wäre es Mandelgebäck. Und als der Vater durch den Türspalt späht, meint sie, dass zu Weihnachten Tannenduft gehöre, zumal zu diesem ersten nach dem Kriege, das sie in Friedenszeit feiern können.

      „Vater, sieh dich einmal im Luisenpark um“, schlägt sie vor. „Du kennst dich überall gut aus. Über einen Tannenstrauß werden Ursulas Kinder sich freuen, und wir freuen uns auch!“, fügt sie hinzu. Der Vater lacht und schließt leise wieder die Tür und steigt nach unten. Diesmal geht sie nicht auf den Balkon, um ihm nachzusehen.

      Gegen Mittag setzt am Heiligabend Regen ein. Vorsorglich hat der Großvater wieder reichlich Holz neben dem Herd aufgestapelt, und die Großmutter legt ordentlich nach, dass die Platten glühen. „Wenn wir uns sonst auch einschränken – heute muss es gemütlich sein“, hat sie gesagt. „Denn wir feiern Weihnachten, Weihnachten ohne Sirenengeheul, ohne Flugzeuggedröhn und zusammenkrachende Häuser. Eben Friedensweihnacht!“

      Als es zu dunkeln anfängt, haben Mutter und Großmutter die Zinkwanne auf zwei Stühle gestellt, haben sie mit Wasser gefüllt und ein Kind nach dem anderen gebadet. Danach wurden sie von der Mutter ins Bett gebracht, weil sich das vor dem Heiligen Abend so gehöre, hat sie ihnen auf ihr erstauntes Fragen geantwortet. Nachdem die Kinder gebadet waren, haben die Erwachsenen die Wanne auf den Boden gestellt und sich nacheinander darüber gewaschen. Von ihnen kann keiner hineinsteigen, weil sie zu klein ist. In der Stube ist es derart heiß, dass Ursula, die vor der Wanne kniet, die Balkontür einen Spalt geöffnet hat, und da entdeckt sie einen kleinen, etwas schiefen Tannenbaum, den der Großvater vor ihr und den Kindern versteckt hat. Da kniet sie über ihrem Badewasser und weint laut in ihre Hände, dass die Großmutter besorgt an die Tür klopft und fragt, was denn wäre.

      „Nichts! Es ist nichts, ich habe Wasser in die Nase bekommen!“, antwortet sie. Einen Moment lauscht sie, ob die Mutter noch hinter der Tür horcht, dann überlässt sie sich wieder ihrem Gefühl, verloren und – wie Käthe Gresshage es gesagt hat – amputiert worden zu sein. Bis vor kurzem hatte sie die Hoffnung, im nächsten oder übernächsten Jahr mit Reinhold Weihnachten feiern zu können. Jetzt weiß sie, was ihm widerfahren ist und dass sie künftig allein mit den Kindern sein wird, mit Reinholds Kindern. In den beiden Jungen und dem Mädchen wird er ihr nahe sein, in den Gesten, in der Art, die er den Kindern vererbt hat. In den vergangenen Monaten hat sie nicht in der Weise um ihn trauern und ihn beweinen können wie an diesem Abend, an dem sie vor ihrer Zinkwanne kniet und sich für das bevorstehende Fest reinigt. Diese Reinigung dauert lange, und als sie endlich fertig ist, fühlt sie sich ganz leer, wie ausgeschabt. Ursula Andreae hat sich nicht nur äußerlich gereinigt, sie hat mit dieser Reinigung wohl auch in ihrem Innern etwas Drückendes und Schweres abgewaschen. Hastig gießt sie das Badewasser Eimer für Eimer in den Ausguss, dann huscht sie an der Mutter vorbei in ihre Schlafstube und legt sich ins Bett. „Lass mir eine halbe Stunde Zeit“, sagt sie. „Ich habe das Verlangen, mich aufzuwärmen.“

      Gegen Abend, es ist schon lange dunkel, gehen alle in die Kirche, nur Bruno fehlt, und die Großmutter hofft, dass er vorausgegangen ist. Aber in der übervollen, in der dämmerigen Kirche kann sie ihren Sohn nicht sehen. Heute ist der ganze Kirchenraum für die Gottesdienste hergerichtet. Pastor Mildenberg hatte mit dem Auftauchen der Flüchtlinge einen Teil abtrennen und mit Stroh füllen lassen, um ihnen eine vorübergehende Bleibe zu bieten. An diesem Tag ist die Kirche wieder Kirche, vollgestellt mit Bänken, mit Kerzen auf dem Altar; seitlich davon steht eine fast bis an die Decke reichende Tanne mit einigen Strohsternen. Zwischen den Bänken und in den Ecken sind noch Reste vom Stroh zu sehen, aber wo die Flüchtlinge geblieben sind, das weiß keiner. Es geht das Gerücht, dass der Pastor sie alle in sein Pfarrhaus geholt habe, das vom Keller bis zum Dachboden mit Menschen vollgestopft sei. Pastor Mildenberg sieht alt aus, und er ist mager geworden, aber seine Stimme kommt der Gemeinde wie eine Posaune vor, die von der Kanzel herunter lautstark die Botschaft vom Frieden, von Versöhnung und Gottes-und Menschenliebe bis in den hintersten Winkel verkündet: Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen! Diese Worte ruft er immer wieder, so dass einige in der Gemeinde sie leise mitsprechen.

      Was für eine kräftige Stimme noch in diesem kläglich gewordenen Menschen steckt! Andächtig lauschen sie, die einen wischen ihre Augen, andere schnäuzen sich immerzu, wieder andere sitzen bewegt und nickend und versuchen Ordnung in ihren Kopf zu bekommen, der voller Gedanken und Erinnerungen ist.

      Während des Gottesdienstes laufen die Tränen über die Wangen der Großmutter, und die Mutter hält die ganze Zeit ihr Taschentuch an den Mund gepresst; nur der Großvater sitzt da, vornüber gebeugt, die Hände im Schoß, als halte er einen Schuh, der frisch besohlt werden müsse. Die Kinder langweilen sich und würden gerne etwas fragen, aber das sonderbare Verhalten von Großmutter und Mutter macht sie scheu und lässt es nicht zu. So schweigen sie und betrachten den riesenhaften Tannenbaum mit den sich drehenden und schaukelnden Strohsternen.

      Die Wohnung ist dunkel und immer noch sehr heiß, als sie nach Hause kommen, und vom Bruno ist auch hier nichts zu sehen. Sie essen ihr Weihnachtsessen, Stampfkartoffeln und eine süßsäuerliche Tunke, in der Reste einer Handvoll zerfaserter Backpflaumen schwimmen. Während der Abendmahlzeit sagt die Großmutter, dass alle, außer dem Großvater, sich zurückziehen sollten, weil das Christkind kommen werde. Als Ursula mit den drei Kindern in ihrer Schlafstube wartet, entsteht Unruhe und auch Lärm in der Stube nebenan, in der die Großmutter