Wilhelm Thöring

Die Bärin Roman


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Spülsteins fehlt, hat Frau Gresshage einen Eimer darunter gestellt, den sie einfach aus dem Fenster gießt, wenn er vollgelaufen ist. Dass sie noch alle Kinder bei sich hat, das ist ein Wunder, findet Ursula. In diesem nassen und stinkenden Behelf müssen die Kinder krank werden und die Mutter auch.

      „Erschrecken Sie nicht“, warnt Frau Gresshage. „Hier gibt es viele Mäuse. Sie sind dreist geworden und flüchten kaum, wenn sich jemand rührt.“ Sie schiebt Ursula einen Stuhl hin, den sie mit ihrem Ärmel abwischt. „Es gibt Tage, da können die Kinder sie einfach tottreten.“

      Auf dem Herd summt der Wasserkessel. Frau Gresshage nimmt den Deckel von der Herdplatte und rückt den Kessel in die Flamme. Sehr vorsichtig schüttet sie aus einer Blechdose, die sie im oberen Schrank verwahrt, Kaffeebohnen in ihre Handfläche und lässt sie in die Kaffeemühle gleiten. Und während sie die Körner mahlt, sagt sie: „Nach der Zeit mit Zichorie und gebranntem Roggen – jetzt kann ich richtigen Kaffee trinken. Der schmeckt besser als Zichorie und das andere Zeug.“ Nach einer Pause wendet sie sich Ursula direkt zu: „Sagen Sie selbst: Sind wir nicht eine amputierte Generation? Und unsere Kinder sind es auch. Eine Hälfte hat man uns genommen, jetzt müssen wir mit dem fertig werden, das uns geblieben ist. Keiner hat mich gefragt, ob ich dieses Leben führen will, keiner! Andere haben es so bestimmt. Und jetzt kann ich zusehen, wie ich zurechtkomme!“ Sie unterbricht das Mahlen und sieht Ursula Andreae streng an. „Bei allem fehlt der Mann, fehlt der Vater. Wen haben meine Jungen zum Vorbild? Mich, die Mutter, eine Frau! Der, nach dem sie sich ausrichten sollten, der fehlt!“

      Frau Gresshage macht eine Pause, auch im Drehen der Kaffeemühle, und als sie weiterspricht, schlägt sie ihre Augen nieder wie jemand, der nur ungern preisgibt, was ihn bewegt. „Bei mir liegt so vieles im Argen... Sie, Frau Andreae, haben Ihren Vater und den Bruder, die Ihnen zur Seite stehen...“ Frau Gresshage spricht in Stößen, und in der gleichen Weise dreht sie ihre Kaffeemühle. Ihr bleiches Gesicht streckt sich etwas vor, und sie fragt: „Was ist daran verwerflich, wenn eine Frau sich einen Mann ins Haus holt? Wir haben außer Hausarbeit nichts gelernt. Und jetzt sollen wir uns als Ungelernte mit unseren Kindern durchs Leben schlagen, sollen sie ins Leben führen und Mann und Vater ersetzen.“ Sie schlägt mit der Hand gegen das Mahlwerk. „Ich sag’ es frei heraus: Mir hilft manchmal einer von den Besatzungssoldaten. Nun, er darf sich nicht erwischen lassen, Sie wissen ja, dass das verboten ist. Aber er kommt und hilft mir heimlich. Was glauben Sie, woher ich den Bohnenkaffee und meine Kinder manchmal ihren Riegel Schokolade, die Kekse und den Kakao haben? Ich kann in den Besatzungssoldaten, in den Amerikanern oder Engländern keinen Feind sehen. Meine Feinde, das sind...“ Ihr bleiches und hohlwangiges Gesicht senkt sich über die Schublade mit dem gemahlenen Kaffee, dessen Geruch sie genießerisch einatmet, bevor sie ihn in die Kanne schüttet. „Meine Feinde, Frau Andreae, das sind die braunen Hunde, die uns ins Elend gestürzt und sich dann davongemacht haben! Käme mir einer davon unter die Finger, glauben Sie mir, ich könnte ihn eigenhändig mit einem Ziegelstein erschlagen... Es wird über mich geredet, dass der Soldat zu mir kommt. Na, und? Ich habe nicht nur für mich zu sorgen – ich habe auch noch meine Kinder. Und selbst wenn ich mich auf etwas einlasse, was die anderen unanständig finden – es geht allein um meine Kinder, Frau Andreae.“

      Alles, was Frau Gresshage sagt, wird wie unter großem Druck herausgepresst. Ihre Art zu sprechen erinnert Ursula an das Bellen ihres Hundes. Sie rührt sich nicht auf ihrem Stuhl. Vom Duft des Kaffees wird ihr schwindelig, und sie fürchtet, dass sie ihn nicht vertragen wird. Die ganze Zeit hat sie still zugehört, was Frau Greeshage zu erzählen hat; jetzt betrachtet sie deren Kinder, die wie aufgereiht an der Wand hocken und sie aus großen Augen anblicken und sich vielleicht fragen, warum die Mutter der fremden Frau von ihrem kostbaren Kaffee zu trinken gibt.

      Ursula Andreae fragt: „Sie sprachen davon, nach dem Grab Ihres Mannes zu suchen. Wie wollen Sie in die Sowjetunion kommen und nach ihrem Mann forschen?“

      „Sowjetunion? Nicht da, er ist bei Breslau umgekommen.“ Frau Gresshage hat zwei Tassen auf den Tisch gestellt, sie selbst trinkt aus der, die keinen Henkel mehr hat. „Ja, da gehört Sahne zu und Zucker! Beides gibt’s für uns nicht mehr. Und auf dem Schwarzmarkt – wer kann das bezahlen? Die Friedchen Klosseck nimmt für ein Pfund Kaffee weit über fünfhundert Mark. Und ob der von dieser Qualität ist... Trinken Sie, trinken Sie! Der Ted wird schon für Nachschub sorgen! Er ist ein freundlicher Mensch, der Ted, und etwas Deutsch spricht er auch, ein ulkiges Deutsch! Im nächsten Frühjahr, sagt er, will er sich nach einer besseren Wohnung für mich und die Kinder umsehen. Vielleicht in der Nähe seiner Unterkunft, da ist es leichter für ihn, kurz zu uns herüberzuhuschen.“

      Wenn Frau Gresshage von ihrem Ted erzählt, dann glüht es in ihren Augen, wie Ursula es nie bei ihr vermutet hätte. Hin und wieder vergisst sie, dass sie Besuch hat: Ihre Gedanken wandern weit weg, und auf ihrem sonst harten Mund zeigt sich ein glückliches Lächeln. Dann fällt ihr wieder ein, dass sie nicht allein ist, und sofort verschließt sich ihr Gesicht. Müde bläst sie in ihre Tasse; Frau Gresshage ist ein aufgebrauchter und verhärmter Mensch, der vom Leben nichts mehr erwartet, sondern nur noch dafür auf der Welt ist, den fünf Kindern ein paar Annehmlichkeiten zu schaffen und sie großzuziehen. Wenn sie einmal auflebt und Gefühle zulässt, dann in den Armen von Ted. So wie manchmal ein Sonnenfleck über ihren Fußboden huscht, so huscht ab und an ein dünnes Lächeln über Frau Gresshages Gesicht. „Sie wissen, dass es für die Besatzungssoldaten verboten ist, mit deutschen Frauen anzubandeln. Der Ted schert sich nicht darum! Wenn er mit einem unsicheren Kantonisten Patrouille fährt und nicht will, dass ich ihm zuwinke oder an seinen Jeep laufe, dann klemmt er sich eine Zigarette hinters Ohr! Stellen Sie sich das vor: Eine Zigarette im Mundwinkel, die andere klebt wie ein Bleistift hinter seinem Ohr!“

      Frau Gresshage findet das so komisch, dass sie laut darüber lachen kann. „Da heißt es für mich: aufpassen, ob die Luft rein ist! Vielleicht haben sie auch schon die Bestimmungen gelockert – ich weiß es nicht. Trinken Sie noch...“

      „Ich bin keinen Bohnenkaffee mehr gewohnt, Frau Gresshage, mir wird schwindelig. Ich muss wohl an die Luft gehen. Ihr Kaffee riecht nicht nur gut, er schmeckt auch so, aber mein Kopf streikt oder mein Magen...“ Ursula Andreae drängt nach draußen. In der Tür sagt sie, dass sie sich öfter besuchen sollten. Sie werde wiederkommen, ganz bestimmt!

      „Es tut gut, sich jemandem anvertrauen zu können!“, ruft Käthe Gresshage hinter ihr her. „Danke für Ihren Besuch!“

      „Weihnachten gehen wir alle in die Kirche!“, bestimmt die Großmutter und klatscht ihren Teig auf den Tisch, dass es im Fußboden dröhnt. „Wenn die Kleinen mitgehen, Bruno, dann gehst auch du einmal mit!“

      Der Bruno sitzt vor der kleinen Fensterscheibe. Seit Tagen ist es neblig, und dieses Wetter drückt aufs Gemüt, findet er, es macht müde und reizbar. Und obwohl er einmal sagte, er werde nie mehr das Verlangen nach Schnee verspüren – jetzt wünscht er sich eine kalte und klare, eine freundliche weiße Welt. Hinter seinem Rücken walkt und knetet die Mutter den zähen dunklen Teig, aus dem sie Weihnachtsgebäck herstellen will. Bis jetzt hat er geschwiegen, aber er mag sich ihr Gerede nicht mehr anhören. Wäre das Wetter besser, dann wäre er schon lange nach draußen gelaufen. Wenn sie wieder anfängt, dann wird er gehen. Er möchte es ihr sagen, aber schweigt.

      „Wir haben endlich Frieden“, hört der Bruno sie murmeln. „Wir haben überlebt und sind heil geblieben – sollten wir da nicht in die Kirche gehen? Ja, ich bin selbst sehr nachlässig darin geworden. Früher hat keiner von der braunen Horde mich vom Kirchgang abhalten können, ich bin immer gegangen! Gütiger Himmel, was habe ich für Umwege gemacht! Und jetzt kann ich alle Tage gehen, und ich gehe nicht! Möge Gott mir verzeihen... Dass wir unser Leben behalten haben, dass uns kein Arm oder Bein weggeschossen wurde, das ist nicht unser Verdienst, nein...“ Wieder klatscht sie den Teig auf den Tisch, dass der Bruno den Verdacht hat, sie lasse ihren Ärger, der ihn treffen sollte, an diesem Klumpen aus. „Ja, ja, auch wenn wir Not leiden – aber wir haben doch endlich Frieden. Seit gut einem halben Jahr Frieden! In die Kirche wird gegangen, da gibt es kein Wenn und Aber! Haben wir nicht alle gelobt: Wenn wir überleben, dann werden wir uns ändern, werden uns an den erinnern, der uns bewahrt hat.

      Die einen saßen im Bunker oder im Luftschutzkeller und hatten die Bomben über sich, die anderen