Wilhelm Thöring

Die Bärin Roman


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Der Bruno gibt ihr eine merkwürdig klingende Antwort, worauf die Großmutter ihn anfährt: „Dass du dich an diesem Abend besäufst, Bruno! Schande über dich! Und Sie, Sie bringen ihn mir auch noch ins Haus! Hätten Sie ihn doch gelassen, wo er das gefunden hat, wonach er suchte! Unsere erste Friedensweihnacht, die habe ich mir anders vorgestellt!“ Eine fremde, weibliche Stimme versucht, etwas zu erklären. Die Großmutter ist still, der Großvater antwortet der Fremden so ruhig und bedächtig, dass niemand wagt, den Mund aufzutun und etwas dagegen zu sagen. Für längere Zeit kann Ursula nichts mehr hören, dann wird die Wohnungstür krachend zugezogen, und sie bekommt mit, wie die Eltern sich leise besprechen. Es dauert lange, bis die Großmutter die Tür zur Schlafstube öffnet und seltsam verärgert sagt: „Nun kommt einmal herüber. Ihr seid beschert worden.“

      Der Tochter flüstert sie zu: „Es war der Bruno, der gekommen ist. Jetzt ist er wieder fort.“

      In der Zimmerecke neben der Balkontür steht ein kleiner Tannenbaum auf einem Stuhl, ein Tannenbaum mit einigen Lichtern und Flitterschmuck aus buntem, glänzendem Papier. Die Kinder drücken sich fassungslos an die Mutter und starren dieses Wunder an, und die Großmutter lehnt sich mit feuchten Augen an den Türrahmen und wischt ihr Gesicht. Auch die Mutter weint. Sie weint ohne einen Laut, nur ihre Schultern werden wie von einer unsichtbaren Hand geschüttelt. Schließlich sagt der Großvater, der sich an den Tisch gesetzt hat: „So weint doch nicht. Das hier ist keine Beerdigung, es ist Weihnachten. Danach habt ihr euch doch gesehnt, Mutter, Urschel! Uns wird kein Alarm, kein Flieger stören...“

      „Nein, die nicht, die nicht, aber...“, antwortet die Großmutter bitter. „Da gibt es anderes...!“

      Sie schluckt ein paar Mal und seufzt, dann scheint sie sich gefasst zu haben, denn sie schlägt vor, ein Weihnachtslied zu singen. Die Mutter sträubt sich, ihr sei nicht nach Singen zumute.

      „Willst du wie alle anderen Abende am Tisch sitzen? Es ist Weihnachten, und zu Weihnachten, Urschel, wird gesungen!“, entscheidet sie. „Wir singen: ‚Vom Himmel hoch, da komm ich her’. Das ist ein Lied, das auch die Kinder verstehen. Wir haben es heute Abend schon in der Kirche gesungen...“ Mit ihrer brüchigen Stimme beginnt sie zu singen, und nach und nach fallen die Mutter und der Großvater ein, und sogar der Wolfgang erinnert sich an die eine oder andere Liedzeile.

      Nach der dritten oder vierten Strophe ist ihnen der Text entfallen, da nimmt die Großmutter das Marlenchen an die Hand und führt es an den Tannenbaum. „Das ist für dich, mein Kind.“ Sie zeigt auf eines der drei Häuflein, die mit einem Handtuch zugedeckt sind. Darunter sitzt Marlenchens Stoffpuppe! Die vermisste und unauffindbare Stoffpuppe ist wieder da! Jetzt sitzt sie in neuen Kleidern zwischen einem Schal und ein Paar Handschuhen auf einer Milchsatte mit dunkelbraunen Keksen und schwarzen, splitterigen Bonbons, als säße sie auf dem Töpfchen. Dann holt die Großmutter Achim, zuletzt den Wolfgang. Der Achim hat einen bunten Blechpapagei bekommen, der auf einem Gestell sitzt und bei der leisesten Berührung zu schaukeln anfängt.

      „Du bist groß, bist ein Schulkind“, sagt die Großmutter und zieht das Handtuch von Wolfgangs Häufchen: „Für dich ist etwas Kostbares abgegeben worden. Sieh einmal!“ Es ist ein Buch, das über seine Satte gelegt worden ist, halb Bilderbuch, halb Lesebuch, mit kurzen, zweizeiligen Versen. „Das kannst du lesen, das kannst du auch auswendig lernen...“

      Jedes Kind hat seine Satte mit den abgezählten Süßigkeiten, die auch alle gleich groß sind. Als Überraschung liegt bei beiden Jungen der Pullover, dessen Ärmel von der Mutter neu angestrickt wurden, sowie ein Paar lange Strümpfe und neue Leibchen. Die Mutter besteht darauf, sie sogleich anzuziehen. „Es ist Weihnachten“, sagt sie. „Da dürft ihr ruhig adrett aussehen. Ihr bleibt ja in der Stube und geht nicht nach draußen – also werden die feinen Sachen auch nicht schmutzig gemacht.“

      Sie kann es kaum erwarten, die Jungen in den ausgebesserten Pullovern zu sehen und hilft ihnen beim Umziehen. Dann tritt sie ein paar Schritte zurück, um sie zu begutachten. „Es passt, und gut seht ihr darin aus!“, ruft sie und schiebt beide vor die Großmutter, dass auch sie sie betrachten kann.

      „Wie das kratzt“, jammert Achim und er fährt mit beiden Händen in die Strümpfe.

      „Was kratzt?“

      „Die Strümpfe.“

      „Quatsch! Die kratzen nicht. Du bist es nur nicht gewohnt, solche Strümpfe zu tragen. In ein paar Stunden hast du dich daran gewöhnt“, sagt die Mutter und wendet sich dem Wolfgang zu. „Gefallen sie dir, Wolfgang?“

      „Es stimmt, was der Achim sagt: Die Strümpfe kratzen.“

      „Jetzt fang du auch damit an!“, ruft die Mutter gereizt. „In diesen Zeiten muss man nehmen, was man kriegt! Da kann niemand wählerisch sein! Wir sind es auch nicht!“ Mit ihrem Kinn deutet sie zu den Großeltern. „Ja, wisst ihr denn, was wir aushalten? Großmutter, Großvater und ich?“

      Die Jungen verlieren kein Wort mehr über diese Angelegenheit, sie sitzen mit ihren Geschenken in der Ecke, aber sie spielen nicht. Als die Großmutter nach ihnen sieht, da bemerkt sie, dass sie still vor sich hin weinen.

      „Warum weint ihr?“, fragt sie so leise, dass die Mutter nichts hören kann.

      „Weil die Strümpfe kratzen.“

      „Lass mich einmal sehen!“ Sie schiebt eine Hand in Achims Strumpf, und als sie sie herauszieht, ist sie blutverschmiert. „Was ist das? Achim? Du blutest ja!“

      Beide Jungen haben sich die Oberschenkel blutig gekratzt. Wütend stapft die Großmutter auf die Tochter zu. „Ursula, willst du den Jungen das Weihnachtsfest verderben?“, fährt sie sie an. „Sieh einmal!“ Sie streckt ihr die blutverschmierte Hand hin. „Die kratzen sich die Haut vom Fleisch. In diesen Strümpfen können sie nicht herumlaufen, das ist Dreck: Die fassen sich wie ein alter Sack an.“ Sie geht wieder zu den Jungen. „Hört zu: Ihr zieht das sofort aus!“

      „Soll ich die vergeblich herbeigeschafft haben?“, fragt die Mutter. „Was habe ich dafür hergegeben!

      Auch wenn sie ein wenig hart sind – sie werden sich daran gewöhnen...“

      Nein, Ursulas Protest hilft nichts; in diesem Haus oder in dieser Stunde hat die Großmutter das Sagen, und beide Jungen dürfen sich von diesem kratzigen Zeug befreien. Endlich ist es für sie noch Heiligabend geworden.

      Der Heilige Abend ist vergangen, Mitternacht ist vorüber; die Kinder schlafen seit zwei Stunden, und auch die Erwachsenen sind müde und wollen ins Bett, als der Bruno zurückkommt. Wie es aussieht, ist er mittlerweile nüchtern geworden. Wieder hängt er am Arm von Regina Stieglitz, seinem Mädchen, und beide sind verlegen und grinsen die Großmutter an, nachdem sie sie hinter der Karbidlampe im Dunkeln entdeckt haben. Kleinlaut gehen sie zuerst zu ihr und reichen ihr die Hand und wünschen frohe Weihnachten, dann zum Großvater, zuletzt zur Ursula. Die ist verärgert darüber, dass der Bruder diese fremde Person mitten in der Nacht ins Haus bringt. Dadurch, dass die Großmutter für alles Verständnis zeigt, was er sagt und tut und alles entschuldigt, denkt der Bruno nicht über sein Verhalten nach und macht, was ihm gerade in den Sinn kommt, findet Ursula. Vor allem das ärgert sie: dass die Großmutter sich sofort versöhnlich zeigt. Mit ihr, der Tochter, wäre sie anders umgegangen. Und so nimmt sie sich vor, ihren Unmut nicht zu verbergen. Einer muss den beiden zeigen, was er von diesem rücksichtslosen Überfall hält.

      „Unseren Festbraten haben wir aufgegessen“, scherzt die Großmutter versöhnlich. „Brot mit Hagebuttenmarmelade, das kann ich euch noch geben.“

      Regina lehnt dankend ab, nein, nein, sie seien gekommen, um sich für den unpassenden Überfall vorhin zu entschuldigen. Der Bruno habe nach Hause gewollt, um mit der Familie in die Kirche zu gehen, sagt sie, und das sei die volle Wahrheit. Aber dann habe er doch ein oder zwei Glas Schnaps zu viel getrunken, und er sei plötzlich umgekippt und habe nicht mehr gehen können.

      „Bruno, wie bist du denn an den Schnaps gekommen?“, will die Großmutter wissen.

      Das Mädchen wird rot. „Mein Vater hat welchen gebrannt“, gesteht sie und sieht sich um, als könnte sie von jemandem gehört werden,