Sabine von der Wellen

Eine unglaubliche Welt


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      Er trinkt seinen Kakao aus und setzt sich zurück. Dieses Jahr fragen sie nicht mal, was er sich zu Weihnachten wünscht. Aber er wünscht sich auch nichts. Auf jeden Fall nichts, was man kaufen kann. Wie hätte er auch erklären sollen, dass ihm etwas Wärme, einmal in den Arm nehmen, mal wieder ein gemeinsames Fußballspiel ansehen oder einfach nur wieder die Teilnahme seiner Eltern am Leben unterm Tannenbaum am liebsten wäre?

      „… seit gestern in Ankum verschwunden“, dringt ein Nachrichtenfetzen aus dem Radio an sein Ohr und er horcht augenblicklich auf. Sein Herzschlag setzt einen Moment aus.

      „Er wurde zuletzt auf einem Fahrradweg außerhalb des Ortes gesehen, der in Richtung Tütingen führt. Er trug eine schwarze Jacke mit gelben Streifen und eine blaue Jeans und fuhr ein blaues Mountainbike. Dies ist bereits der achte Fall in den letzten drei Jahren. Sieben Jungen und ein Mädchen werden im Raum Ankum vermisst und die Polizei steht vor einem Rätsel. Wer sachdienliche Hinweise geben kann oder ein blaues Mountainbike gefunden hat, wende sich bitte an die örtliche Polizei oder an jede andere Dienststelle.“

      Gerrit erstarrt vollends. Er nimmt schnell die Hände vom Tisch, damit keiner bemerkt, wie sie zu zittern beginnen. Verstohlen schaut er in die Gesichter seiner Eltern, die sich leichenblass einen Blick zuwerfen. Die Welt scheint stehen zu bleiben. Gerrit kommt es so vor, als seien alle Geräusche verstummt. Seiner Mutter treten Tränen in die Augen und er weiß, dass er einem annähernd netten Weihnachten nun endgültig lebe wohl sagen kann.

      Er springt auf und verlässt die Küche. Auf der Treppe nimmt er zwei Stufen auf einmal. Er hat das Gefühl, nur noch weg zu wollen. In seinem Zimmer angekommen, knallt er die Tür hinter sich zu. Das ist scheinbar das einzige Geräusch im ganzen Ort.

      Er wirft sich auf sein Bett und schlägt mit den Fäusten auf seine Bettdecke ein.

      Verdammt, es ist wieder passiert! Wieder ist ein Kind aus dem Ort spurlos verschwunden und er hatte nichts bemerkt. Er war wieder nicht zur rechten Zeit am rechten Ort gewesen. Er hatte wieder eine Chance verpasst, endlich zu tun, was getan werden muss.

      Gerrit mag gar nicht daran denken, dass es vielleicht diesmal einer seiner Klassenkameraden sein könnte oder der Junge von nebenan.

      Er weiß genau, was nun passiert. Bald wird die Polizei wieder jeden Winkel in Ankum auf den Kopf stellen und die Wälder durchkämmen. Die Erwachsenen werden sich auf dem Kirchplatz versammeln, um große Suchaktionen zu starten. Flugzeuge mit Wärmebildkameras werden über den Ort knattern und die Menschen müssen trostlos und erschüttert zusehen, weil wieder nichts gefunden wird. Abermals werden einige Familien ihre Sachen packen und für immer fortziehen. Wieder darf kein Kind mehr allein vor die Tür gehen. Wieder gibt es eine Familie, die bleich und starr zu Hause sitzt und mit ihrem Schicksal hadert. Wieder gibt es ein Kind weniger.

      Gerrit seufzt auf. Wenn ihm doch nur jemand glauben würde! Vielleicht wäre dieser Junge dann noch bei seiner Familie. Aber ihm glaubt keiner. Alle halten ihn für verrückt.

      Wenn er doch nur beweisen könnte, dass diese verdammte Katze …

      Durch das aufgekippte Fenster hört er eine Anzahl von Autos, die sich in der Straße und den nahen Nebenstraßen postieren. Autotüren werden zugeschlagen und Befehle gegeben. Jetzt kommen sie wieder und suchen den Jungen, als würde einer aus dem Ort Kinder zum Frühstück verspeisen.

      Es ist schon seltsam, dass es sich auch diesmal wieder um einen Jungen handelt, den sie suchen. Nina war das einzige Mädchen, das verschwunden ist.

      „Hoffentlich keiner, den ich kenne“, betet Gerrit im Stillen. Er starrt in stummem Entsetzen auf seine geballten Fäuste. Erneut überkommt ihn das ungute Gefühl, dass er der einzige ist, der dem Verschwinden der Kinder auf die Spur kommen kann. Doch er hat schreckliche Angst. Wenn sie nun alle tot sind, dann wird er es auch sein, sobald er sich auf die Suche nach ihnen macht. Doch was ist schrecklicher? So zu leben wie bisher und zuzusehen, wie immer mehr Kinder sich einfach in Luft auflösen oder endlich etwas zu unternehmen.

      Aber er ist doch selbst fast noch ein Kind. Warum sind die Erwachsenen nicht in der Lage, der Sache auf den Grund zu gehen?

      Er hatte versucht, ihnen klar zu machen, dass vielleicht diese Katze der Schlüssel zu allem ist. Doch die hatte niemand außer ihm je gesehen und darum glaubte ihm keiner, dass dieses Tier mit dem Verschwinden der Kinder zu tun haben könnte. Die Erwachsenen halten alle für tot und als er versucht hat, ihnen seine Träume zu schildern, in denen er Nina lebend sieht, brachte man ihn kurzerhand zu einem Psychiater, der ihn „ach so gut“ verstand und alles für die Auswirkung des schrecklichen Traumas hielt, das durch das Verschwinden seiner Schwester heraufbeschworen worden war.

      Es klingelt an der Tür und Gerrit erhebt sich schwerfällig von seinem Bett. Er tritt an das kleine Fenster und sieht hinaus.

      Einige Polizeiwagen stehen an der Straße. Im Nachbarhaus verschwinden gerade zwei uniformierte Männer durch die Haustür.

      Es klingelt erneut und Gerrit verlässt sein Zimmer. Er weiß, dass seine Eltern nicht aufmachen können. Sie werden bestimmt wieder viele Stunden einfach nur dasitzen und zu keiner Reaktion fähig sein.

      Er öffnet unten die Haustür und sieht auf zwei verlegen dreinblickende Polizeibeamte. Einer ist der Dorfpolizist Knut, bei dem Gerrit vor zwei Wochen noch die Fahrradprüfung bestanden hatte.

      „Hallo Gerrit. Sind deine Eltern auch zu Hause?“

      Gerrit nickt nur.

      „Wir müssen leider alle Häuser durchsuchen. Könntest du deinen Vater oder deine Mutter holen?“

      „Ich glaube nicht“, meint Gerrit nur und öffnet weit die Tür.

      Die Polizeibeamten sehen an ihm vorbei direkt in die Küche, wo seine Eltern immer noch wie Wachsfiguren dasitzen.

      „Gerrit, es tut uns schrecklich leid! Aber wir müssen alle Häuser durchsuchen“, meint der Polizist und wendet betroffen den Blick ab.

      Es ist nicht das erste Haus, in das er an diesem Morgen geht und in dem spürbare Totenstille herrscht. Es ist schrecklich, gerade die Häuser durchsuchen zu müssen, aus dem auch schon ein Kind verschwunden ist. Doch man hatte ihm diese Häuser zugeteilt, weil er die Leute gut kennt. Kein toller Job!

      „Wer ist es?“, fragt Gerrit betreten und weiß gar nicht so recht, ob er das überhaupt wissen will.

      „Thomas Mehring“, meint der mittelgroße Polizeibeamte hinter dem Dorfpolizisten Knut. Dabei sieht er betroffen auf seine Schuhe. Noch nie hatte er so etwas wie hier erlebt. Schon wieder ist ein Kind verschwunden und schon wieder gibt es nicht die leiseste Spur oder einen Verdacht. Noch nie war die Polizei so machtlos gewesen. Das achte Kind in den letzten drei Jahren, und keines der Verbrechen wurde je aufgeklärt.

      Gerrit nickt kurz und sein Magen scheint einem Fußballspieler auszuweichen, der ihn für einen Ball hält.

      Thomas Mehring! Der Junge aus seiner Basketballmannschaft, der erst vor drei Wochen neu zu ihnen ins Team gestoßen war. Ein außerordentlich guter Spieler! Gerrit hatte sich am letzten Montag beim Training noch die Flasche Wasser mit ihm geteilt. Und nun …?

      „Kommen Sie doch einfach rein und machen Sie ihre Durchsuchung. Meine Eltern werden schon nichts dagegen haben.“

      Die beiden Polizeibeamten starren mit unsicherem Blick auf die Gestalten in der Küche und treten ins Haus. Dann teilen sie sich auf und sehen in jeden Raum, vom Dachboden bis zum Keller.

      Gerrit geht unterdessen in sein Zimmer zurück und blickt aus tränenverschleierten Augen niedergeschlagen an die Wand. Thomas Mehring! Er war so ein guter Spieler!

      Er sieht ihn vor sich, wie er ihm breit grinsend die Flasche gereicht hatte. Sein Trikot sah genauso dreckig und verknittert aus, wie Gerrits und seine Knie waren genauso aufgeschürft gewesen. Er hatte dunkles, wirres Haar, das sich wohl nur triefend Nass bändigen ließ.

      „Was gibt es dieses Jahr bei dir zu Weihnachten?“, hatte er Gerrit gefragt.

      „Keine Ahnung.“

      „Ich