Sabine von der Wellen

Eine unglaubliche Welt


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hatte das ganze Haus nach ihr abgesucht und bemerkt, dass die Tüte mit der Katzenmilch nicht mehr an dem Platz lag, an dem er sie am Abend zuvor hingelegt hatte. Da war ihm ein schrecklicher Verdacht gekommen.

      Er war damals mit pochendem Herzen und einer schrecklichen Angst um seine Schwester zu seinen Eltern gegangen und hatte ihnen von der Katze erzählt, die er bei Andreas gesehen hatte und die wohl irgendwo ihre Jungen versteckt hielt, die sie ihm zeigen wollte. Er deutete an, dass Nina sie vielleicht suchen gegangen war, weil er ihr von dem Tier erzählt hatte.

      Er war daraufhin von seinem Vater ins Auto gezerrt worden und der fuhr mit ihm die Strecke ab. Die ganze Fahrt über hatte Gerrit sich die Beschimpfungen seines Vaters anhören müssen, die immer mehr mit bösen Worten bespickt wurden, je weiter Gerrit seinen Vater in Richtung Wald führte.

      „Was, so weit bist du gestern gefahren?“, hatte sein Vater gerade getobt, als sie auf die Straße einbogen, die direkt am Wald vorbeiführte, und sie Ninas Fahrrad an einem Baum gelehnt dort stehen sahen, wo die Katze Gerrit in den Wald zu locken versucht hatte.

      Er wird niemals den Blick vergessen, den sein Vater ihm in diesem Augenblick zuwarf.

      Sie waren ausgestiegen und hatten Ninas Namen in den Wald gerufen. Gerrits Vater war weit in den Wald hineingelaufen, ohne von Nina etwas zu sehen oder zu hören.

      Auch die Feuerwehr und Polizei, die sein Vater zur Verstärkung angefordert hatte, fanden Nina nicht. Auch die Katze blieb verschwunden. Es gab noch nicht einmal verwertbare Spuren, die überhaupt darauf hinwiesen, dass Nina den Wald betreten hatte. Auch die Theorie von der kinderlockenden Katze wurde bald mit einer wegwerfenden Handbewegung abgetan und eine neue Theorie schien sich zu erhärten. Demnach hatte ein Autofahrer sie an der Stelle mitgenommen, an der man ihr Fahrrad gefunden hatte. Warum sie allerdings so weit gefahren war, wusste keiner zu sagen. Vielleicht auf der Suche nach einer Phantomkatze, von der ihr Bruder ihr erzählt hatte.

      Aber mit wie viel Nachdruck das Tier versucht hatte, Gerrit in den Wald zu locken, das weiß nur er selbst. Niemals wieder wurde er das Gefühl los, dass eigentlich er es hätte sein sollen, der der Katze damals folgen sollte - und nicht seine Schwester Nina.

      Er hätte an ihrer Stelle verschwinden sollen, wie all die anderen Jungen.

      Der Katze auf der Spur

      Über dem Ort liegen erneut Trauer und Schrecken. Wieder ist ein Kind verschwunden und wieder findet man keine Spur von ihm. Gerrit hatte die letzten Basketballtrainings ausfallen lassen. Er kann einfach nicht mehr dort hingehen, seit Thomas Mehring verschwunden ist. Er fühlt sich schuldig, weil er selbst noch nicht den Mut gefunden hat, nach der Katze zu suchen, um ihr bis zum Ende zu folgen. Er fürchtet sich davor, was er entdecken wird und was ihm dann bevorsteht.

      Doch seine Träume lassen ihn nachts kaum mehr zur Ruhe kommen. Er hat niemanden, mit dem er reden kann und es gibt niemanden, der ihn versteht. Seine Eltern scheinen immer weniger am Leben teilnehmen zu wollen. Tief in seinem Inneren glaubt er, dass sie ihm die Schuld an Ninas Verschwinden geben und dass sein Schicksal sie deswegen auch nicht mehr interessiert.

      Weihnachten verlief noch trostloser als im letzten Jahr. Er bekam zwar Schlittschuhe, die er sich eigentlich immer gewünscht hat, doch der See, der den Ort schmückt, war in diesem Winter bisher nicht einmal zugefroren. Das erscheint ihm wie eine Bestrafung.

      Sylvester vergeht wie jeder andere Tag. Es gibt kaum jemanden im Ort, der diesen Tag feiern, geschweige denn um Mitternacht den nächtlichen Himmel mit lauten Raketen und bunter Lichterpracht erhellen will.

      Ankum scheint in einem trostlosen und verängstigten Dornröschenschlaf gefallen zu sein. Kein Kind darf mehr allein auf die Straße gehen und viele werden nach den Ferien sogar täglich in die Schule gebracht und wieder abgeholt.

      Gerrits Eltern gehen nach wie vor ihrer Arbeit nach und allmählich ist er froh, dass sie erst spät abends nach Hause kommen. Denn nichts ist ihm unangenehmer, als sie so traurig und weltentrückt zu sehen. Das erhöht nur seine Schuldgefühle.

      Seine Mutter sitzt abends wieder stundenlang auf Ninas Bett, den Blick starr ins nirgendwo gerichtet. Sein Vater verkriecht sich im Keller und baut angeblich an einem Modelschiff, das nie fertig zu werden scheint. Sie sind zu Marionetten geworden, wie so viele andere Eltern in Ankum auch.

      Aber so achtet auch niemand darauf, dass er an den Nachmittagen immer öfter sein Fahrrad schnappt und durch die Gegend fährt. Die, die ihn sehen und das für Unverstand halten, sagen nichts. Es scheint fast so, als wären manche froh, dass er es ist, der als Köder allein durch die Gegend fährt und somit die eigenen Kinder verschont bleiben.

      Ja, als Köder! Gerrit sieht sich mittlerweile auch schon so.

      Er hat Angst! Doch etwas in ihm treibt ihn voran. Er will die Katze finden, sich vergewissern, dass es sie immer noch gibt und sie daher immer noch der Schlüssel zum Verschwinden der Kinder sein kann. Und was, wenn er sie findet? Er weiß es nicht.

      So wird es Frühjahr. Die Sonderkommission der Polizei arbeitete bisher erfolglos an der Aufklärung der Fälle. Immer und immer wieder wurden Befragungen durchgeführt, die nichts erbrachten. Auch Thomas Mehring bleibt verschwunden.

      Im April, als die ersten warmen Sonnenstrahlen das Land zum Leuchten bringen, fährt Gerrit auf seinem Fahrrad zu seiner Tante Angelika. Sie wohnt in der Lerchenstraße, gleich neben dem Imbiss. Seine Mutter hatte ihm ein paar Tischdecken mitgegeben, die er seiner Tante bringen soll.

      Als er an ihrer Tür klingelt, reißt sie diese in großer Erwartung auf und nimmt ihm freudig strahlend die Decken ab.

      „Ach Gerrit, das ist aber nett, dass du die vorbeibringst. Ich hatte das ein klein wenig gehofft.“

      Breit grinsend zieht sie ihn ins Haus, wobei ihr langes, wallendes Gewand um sie herum zu schweben scheint.

      Tante Angelika trägt, seit sie in Japan Urlaub machte, nur noch seltsame Gewänder in grell bunten Farben. Sie wirkt darin immer wie ein Papagei. Dazu steckt sie ihr Haar zu einem Knoten auf, der kein Härchen entwischen lässt und aus dem immer irgendwelche seltsamen Stäbe in bunten Farben staken. Ihre schwarz gefärbten Haare glänzen stets ölig und ein seltsamer Geruch von Orangen und Vanille umgibt sie.

      „Kannst du mit mir zu den Fischteichen fahren, bei denen deine Mama immer die geräucherten Forellen kauft? Ich bekomme heute Abend Besuch und will sie mit dieser Köstlichkeit überraschen. Aber leider weiß ich nicht genau, wo das ist. Du weißt das doch bestimmt.“

      „Nah klar!“, antwortet er seiner Tante und freut sich, dass jemand seine Hilfe braucht. Es tut gut, wenigstens einmal als wichtig angesehen zu werden.

      So lässt Tante Angelika auch alles stehen und liegen und geht mit ihm hinaus zu dem alten, klapprigen Golf, der sie schon seit mehr als fünfzehn Jahre durch ihr Leben begleitet. Tante Angelika ist der Meinung, dass sie niemals ein anderes Auto fahren kann.

      „Wenn ihn mir der TÜV eines Tages stilllegt, dann werde ich auf die Busse umsteigen müssen“, sagte sie einmal.

      So fahren sie bald auf einer langen, geraden Straße aus dem Ort heraus. Gerrit kennt die Strecke mittlerweile wie im Schlaf. Hier führt der Fahrradweg entlang, den er in den letzten Monaten so oft auf der Suche nach der Katze abgefahren war.

      „Dort, bei der nächsten Einfahrt gegenüber dem Gasthaus müssen wir rechts abbiegenden“, erklärt er, und seine Tante fährt auf den Schotterweg.

      „Das nennst du Straße?“, murrt sie und wirft ihm einen misstrauischen Blick zu. „Meinst du wirklich, dass wir hier richtig sind?“

      Doch Gerrit braucht nicht zu antworten. Hinter der nächsten Biegung erblickt man schon das glänzende Wasser der ersten Tischteiche.

      „Ach Gerrit, du bist einfach toll! Das hätte ich ja nie gefunden!“ Tante Angelika wirft einen schmatzenden Luftkuss in Gerrits Richtung.

      Der kann die Hitze in seinen Wangen regelrecht spüren. Schon lange hatte ihn keiner mehr gelobt. Er hatte