Sabine von der Wellen

Eine unglaubliche Welt


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Teiche und an einem sieht man einen Mann mit einem Kescher und Stiefeln, die ihm bis zu den Oberschenkeln reichen, fischen.

      Unschlüssig sieht Tante Angelika sich um, bis sie schnurstracks und mit wehendem Gewand auf ein kleines Häuschen zuläuft.

      „Ich bleibe beim Wagen“, ruft Gerrit ihr nach. Er möchte lieber sehen, was der Mann mit dem Kescher aus dem Teich zieht. Doch er kann aus dieser Entfernung nicht ausmachen, was der so eifrig aus dem Wasser zu fischen versucht.

      Bald darauf kommt seine Tante freudig strahlend zurück. Sie hat eine Tüte unter dem Arm und wuselt Gerrit durch das Haar. „Nah, können wir wieder?“

      Sie steigen in den alten, klapprigen Golf und fahren über den Schotterweg zur Hauptstraße zurück. Mit auf dem weichen Untergrund durchdrehenden Reifen biegt Tante Angelika auf die Hauptstraße ein, was Gerrit grinsend quittiert. Genau ihnen gegenüber liegt auf der Anhöhe das alte Gasthaus und oben auf der Mauer, neben einem alten, verrosteten Kinderkarussell, sitzt … die Katze!

      Gerrit blickt erschrocken auf die kleine Gestalt, die scheinbar genauso zurückgafft. Es reißt ihn fast von seinem Sitz, als er durch das Heckfenster versucht, das Tier nicht aus den Augen zu verlieren. Aber seine Tante fährt mit durchgetretenem Gaspedal in einem irren Tempo nach Ankum zurück. Dabei pfeift sie gut gelaunt vor sich hin.

      Die Katze verschwindet damit schnell aus Gerrits Sichtfeld und sein Herz klopft ihm bis zum Hals. Ein merkwürdiger Gedanke macht sich in ihm breit, der ihn plötzlich erschrocken zusammenfahren lässt. Ein neues Kind ist dran!

      Nein, diesmal wird er das nicht zulassen.

      „Tante Angelika, hast du die Katze bei der Kneipe gesehen?“, sprudelt es aus ihm hervor.

      Mit gerunzelter Stirn sieht seine Tante ihn argwöhnisch an. „Nein, welche Katze?“ Ihre Augen verengen sich und Gerrit muss beunruhigt feststellen, dass sie ihn seltsam mustert. So sagt er lieber nichts mehr, denn ihm fällt im selben Augenblick ein, dass sie es gewesen war, die seinen Eltern damals den Psychologen empfohlen hatte. Bei ihm musste er zehn Sitzungen absitzen, in denen er alles über sich und sein Verhältnis zu seiner um ein Jahr jüngeren Schwester Nina erzählen sollte. Außerdem versuchte er herauszufinden, ob in Gerrits tiefstem Inneren ein übermäßiger Wunsch nach einem Haustier vorhanden ist, der die Geschichte mit der Katze heraufbeschwor.

      Gerrit kam sich damals vor wie auf der Anklagebank. Doch alle anderen schienen von diesem Arzt begeistert zu sein und meinten auch, dass sich danach Gerrits „Zustand“ schon sehr gebessert hätte.

      So ein Quatsch! Dabei hatte er doch nur allen begreiflich machen wollen, dass die Katze etwas mit dem Verschwinden seiner Schwester zu tun haben könnte und dass sie ihn damals regelrecht zum Wald gelockt hatte.

      Dieser oberschlaue Doktor meinte dazu nur, dass er sich diese Hirngespinste ausdenkt, um Ninas Verschwinden besser verkraften zu können und er eine Katze in den Vordergrund seiner Verdrängung rücken lässt, weil das besser zu verkraften ist und weniger Angst macht.

      Aber sein Schlusspladoie war eindeutig.

      „Schließlich locken Katzen keine Kinder in einen Hinterhalt und lassen sie dann auch noch so unauffindbar verschwinden“, war sein abschließender Kommentar in seinem Bericht und Gerrit musste ihm widerwillig recht geben, sonst hätte er noch ein paar Sitzungen mehr aufgebrummt bekommen.

      Nun scheint Tante Angelikas Blick zu sagen: „Ist es wieder soweit? Müssen wir Dr. Meer wieder aufsuchen? Armer Junge!“

      Bei ihr zu Hause angekommen, schleppt sie ihn ohne Wenn und Aber mit ins Haus und braut ihm einen heißen Kakao.

      Gerrit will schnell wieder los, sich auf sein Fahrrad schwingen und die Katze suchen. Aber irgendwie hat Tante Angelika wohl das Gefühl, ihm noch einiges Gutes tun zu müssen.

      Der Kakao ist unglaublich heiß und die nun vor ihm abgestellten Plätzchen riesengroß.

      „So mein Junge. Nun trink erst mal in Ruhe deinen Kakao und iss die Plätzchen. Du wirst mir viel zu dünn!“ Sie lächelt ihm zu und trinkt selbst einen schrecklich riechenden Tee aus undefinierbaren Wurzeln und Blättern.

      Gerrit verbrüht sich zweimal den Mund und gibt es somit auf, das Zeug so heiß hinunterzuwürgen. Doch er schiebt sich zwei Plätzchen in den Mund, damit seine Tante ihn dann auch wirklich gehen lässt. Doch erst endlos lange zwanzig Minuten später entlässt sie ihn endlich.

      „Du fährst sofort nach Hause, ja?“, ruft sie ihm noch hinterher und Gerrit winkt ihr zu, ein: „Nah, klar!“, rufend.

      Wie ein Wahnsinniger kurvt er über die Straßen aus dem Ort heraus. Auf dem Fahrradweg durch Tütingen gibt er alles, was er an Kraft aufbringen kann und sieht bald schon das alte Gasthaus vor sich auftauchen.

      Der Schweiß läuft ihm den Rücken hinunter, als er seine Geschwindigkeit noch einmal erhöht. Er hofft inständig, dass die Katze noch an ihrem Platz sitzt.

      Und dann sieht er sie. Erst als kleiner Punkt und dann immer größer werdend. Sie sitzt noch immer an dem Karussell, an dem er sie vom Auto aus gesehen hatte. Doch sie sieht nicht zu ihm, sondern zu einem kleinen Mädchen, dessen Eltern wohl in der Gaststätte zum Essen eingekehrt sind.

      Die Katze erhebt sich gemächlich und stolziert zu dem Mädchen, die sie gleich auf den Arm nimmt und streichelt.

      Gerrit ist wie von Sinnen. Ohne nachzusehen, ob ein Auto kommt, rast er über die Straße, fährt den steilen Weg hoch, der zu dem Gasthaus führt und springt noch während der Fahrt vom Fahrrad, das scheppernd in einem Busch landet.

      Er rennt über die gepflasterte Terrasse und sieht das Mädchen, das gerade die Katze herunterlassen will, an der Tür stehen.

      „Das ist meine Katze!“, schreit er und kommt keuchend vor dem Mädchen zum Stehen.

      Die sieht ihn nur ängstlich an. „Ist ja schon gut. Ich wollte sie doch nur mal streicheln.“

      „Die kann man nicht streicheln!“, zischt er aufgebracht und erkennt sofort, was für einen Unsinn er da redet.

      Die Katze sieht Gerrit mit ihren grünen Augen seltsam an, so als wundert sie sich darüber, dass ausgerechnet er zu ihr kommt.

      Schnell nimmt Gerrit dem Mädchen die Katze ab und lässt sie, als wäre sie aus heißem Eisen, zu Boden gleiten. Irgendwie hat er Angst vor dem Tier und will sie nicht einmal auf dem Arm behalten.

      Das Mädchen hebt die Nase und stolziert beleidigt durch die Tür in das Gasthaus.

      „Du hast Glück gehabt“, denkt Gerrit und sieht ihr nach. Dann wendet er sich der Katze zu, die ihn immer noch anstarrt. „Na los, du Vieh! Zeig mir, was du mir damals schon zeigen wolltest“, flüstert er nur hörbar für die Katze, die sich sofort erhebt und in Bewegung setzt, als hätte sie ihn verstanden.

      Gerrit läuft zu seinem Fahrrad und folgt ihr. Tatsächlich hat er das Gefühl, als weiß sie genau, dass er ihr folgen wird. Sie dreht sich kein einziges Mal nach ihm um.

      Wieder überquert er die Straße, fährt ein Stück den Fahrradweg entlang und biegt dann links in den schmalen, geteerten Weg ein. Angst beschleicht ihn, ob er wohl das Richtige tut.

      Die Katze läuft in einem schnellen Gang die Straße entlang, vorbei an Häusern, bei denen Gerrit einen Moment glaubt, es wäre besser, wenn er jemandem eben Bescheid sagt. Doch er hat Angst, dass das Tier ihm dann davonläuft. Das will er auf gar keinen Fall riskieren.

      Er wünscht sich, dass jemanden in einem der Gärten ist, den er auf sich und die Katze aufmerksam machen kann. Doch da ist niemand und außerdem hatte er der Polizei damals erzählt, dass seine Schwester der Katze auf diesem Weg gefolgt sein könnte.

      Die hatten aber nichts herausgefunden, außer dass der arme Gerrit offenbar eine Schraube locker hat und vom Wunschdenken getrieben, dass eine Katze mit dem Verschwinden seiner Schwester zu tun hat, sich Geschichten ausdachte.

      Gerrit sieht schon bald die Querstraße und den dunklen Wald, der sich vor der nun schnell untergehenden Sonne dieses Apriltages