Sabine von der Wellen

Eine unglaubliche Welt


Скачать книгу

Er bremst sein Fahrrad unschlüssig ab. Soll er der Katze wirklich weiter folgen?

      Die scheint sich nicht nach ihm umzusehen und rennt die Querstraße hinab. Bald wird er sie nicht mehr sehen können.

      Er gibt sich einen Ruck und treibt sein Fahrrad erneut an. Schnell folgt er dem Tier und holt bald wieder auf. Kurz darauf fährt er direkt am Wald vorbei, das graue Fell nicht aus den Augen lassend. Jeden Moment wird sie an die Stelle kommen, an der sie ihn damals vergeblich in den Wald locken wollte, und an der er und sein Vater Ninas Fahrrad gefunden hatten.

      Tatsächlich bleibt die Katze stehen und sieht ihn an.

      Gerrit fährt dicht an sie heran und steigt vom Fahrrad.

      „Hier haben wir damals Ninas Fahrrad gefunden. Wo hast du sie hingebracht?“, flüstert er der Katze zu und starrt wütend und ängstlich in die grünen Augen des Tieres. Sein Blick fällt auf einen der Baumstämme und er sieht in Gedanken das rote Fahrrad daran lehnen.

      Die Katze dreht sich um und hebt ihren buschigen Schwanz in die Höhe. Hoch erhobenen Hauptes stolziert sie weiter … in den Wald hinein.

      Gerrit sieht ihr blass hinterher. Er hat schreckliche Angst, ihr in den Wald zu folgen, weiß aber, dass er sie bald aus den Augen verliert, wenn er sich nicht beeilt.

      Weil es zu dämmern beginnt, kann er die Katze bald nur noch als Schatten ausmachen. So nimmt er allen Mut zusammen und folgt ihr.

      Doch nun achtet er darauf, dass er genügend Abstand zu ihr hält. Auch wandert sein Blick ständig umher, denn er befürchtet, dass dort irgendwo jemand auf ihn lauert.

      Die Katze führt ihn immer tiefer in den Wald hinein und Gerrit versucht sich den Weg zu merken, den er geht. Bis jetzt waren sie nur auf Wegen geblieben, was ihn einigermaßen beruhigt. Doch er weiß nicht, wie lange er jetzt schon hinter dem Tier herschleicht und er muss langsam dichter zu ihr aufschließen, um sie in dem immer dunkler werdenden Wald überhaupt noch sehen zu können.

      Plötzlich bleibt die Katze stehen, mauzt einmal und springt dann von dem Weg in das dichte Buschwerk des Waldes hinein.

      Gerrit macht einige große Sätze zu der Stelle hin, wo die Katze unter fast bis zum Boden reichenden Tannenzweigen hindurch verschwunden ist und starrt in das Unterholz. Er blickt durch den Wirrwarr von Baumstämmen, die von dichten Zweigen der ersten Tannenreihe fast verdeckt werden und überlegt, was er tun soll. Doch dann sieht er in einiger Entfernung die grünen Augen der Katze funkeln und beschließt, ihr weiter zu folgen. Er kriecht erst unter den bis zum Boden reichenden Ästen hindurch und kommt dann wieder auf die Füße. Die Fichten dahinter ragen auf dürren Stämmen zum Himmel empor. Farn und umgestürzte Bäume verbergen immer wieder den Weg der Katze und die in einigen Metern Höhe dichten Äste der Bäume verschlucken fast vollkommen das letzte Tageslicht.

      Gerrit folgt dem Schatten, der ab und zu vor ihm zu erkennen ist. Einen Augenblick sieht er noch die grünen Augen, die ihn anstarren, dann ist der Schatten verschwunden.

      Gerrit bleibt wie angewurzelt stehen. Wo ist die Katze plötzlich hin?

      Seine sowieso schon schrecklich angespannten Nerven vibrieren. Sein Magen beginnt sich zu drehen und zu wenden und will Tante Angelikas Kakao und Plätzchen nicht länger in sich behalten. Seine Augen können keine Gefahr ausmachen, aber alles in ihm schreit nach Flucht.

      Er muss sich zusammenreißen. Hier gibt es nichts, was ihm gefährlich werden kann. Er ist hier mit dieser Katze allein und was kann eine Katze ihm schon tun?

      Langsam schleicht er weiter. Seine Nerven sind wie Drahtseile gespannt und seine Augen weit aufgerissen, als könne er so besser und schneller alles sehen. Denn, obwohl er sich einzureden versucht, dass die Katze ihm nichts antun kann, irrt immer wieder der Gedanke durch seinen Kopf, dass den anderen Kindern doch auch etwas geschehen war.

      Er horcht angestrengt in die Stille des Waldes hinein, immer auf dem Sprung, jederzeit die Flucht zu ergreifen. Immer tiefer senkt sich die Dunkelheit über den Wald und nimmt ihm die Sicht. Doch er schleicht vorsichtig weiter und steht plötzlich vor einem dunklen, baumlosen Platz.

      Es braucht einige Zeit, bis er erkennt, dass es eine große, tiefe Mulde ist, die sich vor ihm auftut. Als er näherkommt, glitzert in etwa drei Meter Tiefe etwas auf und Gerrit weiß, dass es sich um ein funkelndes, grünes Augenpaar handelt.

      Die Katze!

      Der Junge sieht sich verängstigt um. Spinnenweben legen sich auf sein Haar und Schweißtropfen rinnen ihm in die Augen. Er wischt sie schnell weg und starrt wieder zu der Katze hinunter, die nun anfängt zu mauzen, als wolle sie ihn rufen. In dem Moment kracht es über ihm in den Bäumen und mit lautem Krächzen erhebt sich ein Eichelhäher in die Luft, um allen Waldbewohnern mitzuteilen, dass er einen Eindringling ausfindig gemacht hat.

      Gerrit erschrickt dermaßen, dass er sich umdreht und kopflos davonrennt.

      Er hört das jämmerliche Schreien der Katze, bleibt aber keine Sekunde stehen. Er rennt, als wäre der Teufel hinter ihm her und meint, dass ihm hundert Füße folgen. Doch das ist nur das Echo seiner eigenen panischen Schritte.

      Die Tannen mit den tief liegenden Zweigen ragen vor ihm auf und er stürzt sich im Tiefflug darunter her. Krachend landet er auf dem schlammigen Weg. Seine Hand schmerzt ihm, aber er springt sofort auf und rennt weiter, mit der anderen Hand die Spinnweben aus seinen blonden Haaren wischend. Immer wieder sieht er sich gehetzt um, doch es scheint ihm keiner zu folgen, außer den schrecklichen Schreien der Katze, die jammert, als würde sie über eine verloren gegangene Beute trauern.

      In dieser Nacht kann Gerrit lange nicht einschlafen. Er liegt in seinem Bett und starrt an die Decke. Er wird heute Nacht die Lampe brennen lassen müssen, denn er hat Angst vor der Dunkelheit. Schließt er die Augen, dann sieht er die Katze vor sich, die ihn mit ihren giftgrünen Augen aus dem dunklen Loch im Wald anstarrt. Dann beginnen seine Hände wieder zu zittern und ihm bricht der Schweiß aus, als hätte er die Grippe.

      Was soll er jetzt nur machen? Nie wieder will er der Katze folgen! Nie wieder!

      So liegt er da und grübelt vor sich hin. Wenn er nun der Polizei zeigt, wohin die Katze ihn gebracht hat? Werden sie ihm glauben? Werden sie dort etwas finden?

      Gerrit weiß es nicht. Doch eines ist ihm klar. Erzählt er jemanden von dem, was er noch vor ein paar Stunden erlebt hat, dann wird er keinen Schritt mehr aus dem Haus machen dürfen. Und was dann?

      Dann wird die Katze sich ein neues Opfer suchen. Eines, dass ihr unwissend folgen wird und in die Falle tappt.

      Was ist das nur für eine seltsame Mulde gewesen, in die diese Katze ihn locken wollte? Warum hatte niemand etwas von so einem Krater im Wald erwähnt?

      Die Suchkräfte hatten diese Gegend mehrfach nach den Kindern abgesucht. Nein, wenn dort eines der Kinder läge, dann hätte man es auch gefunden.

      Er wirft sich auf die Seite und starrt an die Wand. In seinem Kopf überschlagen sich die Gedanken. Was, wenn die Katze eigentlich doch nichts mit dem Verschwinden der Kinder zu tun hat? Vielleicht ist sie wirklich nur ganz harmlos und hat dort unten im Loch ihre Jungen versteckt? Wenn sie vielleicht doch nur seine Hilfe brauchte, weil eines der Jungen nicht mehr aus dem Loch herauskommt?

      Er wirft sich energisch auf die andere Seite und zieht die Decke frierend hoch. Alles in ihm sagt ihm, dass er sich nicht irren kann. In seinen Träumen sieht er immer wieder Nina mit dieser Katze auf dem Arm. Das kann doch nicht nur ein unbedeutender Albtraum sein? Es muss mehr sein. Wie soll er sonst je herausfinden, was mit ihr passiert war? Und das muss er wissen. Er muss der Sache mit dieser Mulde im Wald schleunigst auf den Grund gehen. Aber mit Bedacht und Schläue.

      So beschließt er, gleich am nächsten Tag in den Wald zu gehen und sich diesen dunklen Krater genauer anzusehen. Er wird einen anderen Weg nehmen, damit ihm die Katze nicht begegnet. Denn auf die will er dort besser nicht treffen. Vorsichtshalber.

      Am nächsten Tag bringt Gerrit seine Schultasche nach Hause, isst seine Linsensuppe aus der Mikrowelle schnell auf und schwingt sich kurz darauf auf sein Fahrrad. Er hatte den ganzen Vormittag in der Schule