Sabine von der Wellen

Eine unglaubliche Welt


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in der sie festsitzen, dem verhungern nah!

      Dieser Gedanke bestärkt Gerrit darin, am nächsten Tag in die Kuhle hinabzusteigen. Er muss das nachprüfen. Unbedingt.

      Am nächsten Morgen wird den Kindern aus Gerrits Klasse mitgeteilt, dass ihre Klassenlehrerin auf der Fahrt zur Schule einen Unfall hatte. Nicht weiter schlimm, aber sie muss für zwei Tage zur Beobachtung im Krankenhaus bleiben.

      Durch die Klasse geht ein beglücktes Raunen, denn sie sollten am nächsten Tag einen Aufsatz schreiben. Doch es freut sie weniger, dass sie Frau „Elcharsch“ als Vertretung bekommen. Die Kinder nennen sie so, weil sie ein mächtiges Gesäß besitzt und sich Elcharsch auf ihren wirklichen Namen Melchbarsch reimt.

      Planlos und konfus versucht diese Lehrerin nun, den ihr vor wenigen Minuten aufgebürdeten Unterricht zu gestalten. So ist sie dann auch nicht gerade unglücklich, als Gerrit sich meldet und sie nach einer Sage befragt, die sich um den Alkenkrug rankt.

      Gerrit weiß gar nicht so recht, was ihn in dem Moment reitet, dass er die Lehrerin danach fragt. Wahrscheinlich ist es das drängende Gefühl, einfach mit irgendjemandem über diese Sache zu sprechen. So läuft er wenigstens nicht Gefahr, zu viel von seinen Vorhaben zu verraten oder auf Gegenwehr zu stoßen.

      „Oh, das ist eine ganz besondere Sage“, ruft Frau Melchbarsch in die Klasse und setzt sich auf den ergeben quietschenden Lehrerstuhl. „Weiß denn jemand schon etwas darüber?“

      Zu Gerrits Erstaunen zeigen einige Finger nach oben.

      Aber Kai scheint es am meisten darauf anzulegen, etwas zu berichten. Er steht sogar auf, um sich besser Gehör zu verschaffen, und erklärt: „Mein Opa hat mir mal erzählt, dass es einen Wirt gab, der die Leute zum Bier saufen, statt zum Kirchengang, nötigte und darum mit Haus und Hof im Erdboden versunken ist.“

      Das ist nichts Neues für Gerrit. Doch dass sich nach dessen Bericht immer noch ein Arm hektisch in der Luft bewegt, macht Gerrit stutzig.

      Frau „Elcharsch“ nimmt Saskia dran, die mit hochroten Wangen die Geschichte eines Bauern vorträgt, der eines Nachts den Alke herausgefordert haben soll.

      „Denn wenn man um Mitternacht dreimal: „Alke kum heruss“ ruft, kommt er in Gestalt eines Feuerreifens aus dem Loch geschossen und verbrennt dich.“ Saskias Augen leuchten ehrfürchtig, doch alle anderen aus der Klasse halten das für Schabernack.

      Gerrit sitzt nur da und starrt Saskia an. „Ein Feuerreifen, das aus dem Loch kommt …“, denkt er und ihm läuft ein Schauer den Rücken hinunter.

      „Ihr braucht gar nicht zu lachen“, schnauzt Saskia ihre Klassenkameraden in dem Moment auch schon an. „Mein Vater hat mir gezeigt, wo der Feuerreifen einschlug, als dieser Bauer ihn herausforderte“, ruft sie trotzig aus.

      Stille bricht über die Klasse herein und Saskia freut sich, nun die ungeteilte Aufmerksamkeit zu haben.

      „Also, dieser Bauer hatte ein sehr schnelles Pferd, mit dem er vor dem Feuerreifen floh. Doch was ihn eigentlich rettet, war …“ Saskia sieht sich um, ob auch wirklich alle vor Spannung erstarren, „… sein Dielentor. Mit letzter Kraft sprang das Tier über die untere Hälfte des Dielentors in die Diele des alten Bauernhofes und das Rad prallte davor ab. Ich selbst habe die Spur des Reifens gesehen“, bringt sie mit stolzgeschwellter Brust ihre Geschichte zu Ende.

      Einen Moment herrscht in der Klasse angespanntes Schweigen. Dann klatscht Elcharsch zweimal in die Hände und ruft: „Nah, das war ja eine aufregende Geschichte, der wir aber mal nicht zu viel Gewicht beimessen wollen. Denn ihr solltet niemals vergessen, dass das alles nur eine Sage ist. So, dann holt mal euer Lesebuch heraus und wir schauen, ob sich darin nicht auch etwas Aufregendes finden lässt.“

      Die Kinder kramen unter Buhrufen und Stöhnen ihre Lesebücher aus ihren Taschen und der Rest der Stunde wird in Zeitlesen investiert, bei dem jeder mal drankommt und versucht, so viel und so fehlerfrei zu lesen, wie möglich.

      Als Gerrit an der Reihe ist, weiß er gar nicht, wo sie in der Geschichte sind, denn ihm spuken immer noch die Bilder des Feuerrades durch den Kopf und der Alke, der vielleicht statt auf ein Feuerrad auf eine Katze umgestiegen ist. Ihm gruselt der Gedanke, obwohl es doch nur eine Sage ist - eine nicht bewiesene Geschichte. Eine äußerst unglaubwürdige noch dazu, denn wohin soll ein ganzes Haus schon verschwinden? Und bedenkt man, was heut zu Tage in der Welt geschieht, dann hätte der liebe Gott mit seinen Bestrafungen alle Hände voll zu tun. Mal ganz davon abgesehen, dass er scheinbar lieber unschuldige Kinder bestraft, denn Nina hatte nie jemandem etwas zuleide getan.

      „Also alles Quatsch!“, versucht Gerrit sich zu beruhigen. Doch sein Blick wandert immer wieder zu Saskia hin, die weiterhin mit geröteten Wangen dasitzt. „Ich habe den Abdruck des Feuerreifens selbst gesehen!“, hört er sie in Gedanken immer wieder sagen und jedes Mal läuft ihm ein kalter Schauer über den Rücken.

      Am Nachmittag sitzt Gerrit in seinem Zimmer auf dem Bett, unschlüssig vor sich hin sinnend, was er nun glauben und tun soll. Er ist in seinen Gefühlen immer noch hin und hergerissen. Soll er in die Kuhle klettern und sie näher erforschen, so wie er es noch am Vortag geplant hatte? Wenn wirklich etwas an dieser Legende dran ist, heißt das, dass sich die Erde unter ihm auftun kann?

      Ach! Was für ein Blödsinn! Noch nie hatte es jemanden gegeben, der von etwas Derartigem berichtete, außer diesem Bauern, und das ist schon Generationen her. Außerdem, wieso sollten jetzt Kinder in einem solchen Loch verschwinden, wo doch Jahrhunderte nie etwas passiert ist?

      Und was könnte dann die Katze damit zu tun haben? Warum verschluckt das Loch sie nicht?

      Nein, nein, nein! Gerrit ist sich mittlerweile sicher, dass diese Kuhle keinen verschlucken kann. Dazu der Alke in Gestalt einer Katze? Schwachsinn! Sie hatte ihn zwar zu dieser Kuhle gelockt, aber wenn das nun doch einen ganz anderen Grund hatte? Vielleicht gibt es unten im Laub wirklich eine kleine Höhle, in der kleine Katzen hausen, fast dem Verhungern nah, weil er aus Feigheit geflüchtet war.

      Ja, das muss es sein. Die Katze hat mit all dem nichts zu tun und will ihm nur ihre Jungen anvertrauen. Seine Mutter hatte ihm und Nina früher einmal erzählt, dass ihre Katze sie immer zu ihren Kindern geführt hatte, wenn sie sie nicht mehr ernähren konnte.

      Plötzlich scheint ihm dies die einzig logische Erklärung zu sein. Fast muss er über sich und seine überdrehte Fantasie lächeln. Katzen lassen keine Kinder verschwinden, Häuser versinken nicht durch Gottes Wille in der Erde und Feuerreifen springen nicht aus Erdmulden und verfolgen Menschen.

      Gerrit packt nun auch noch das schlechte Gewissen. Was, wenn die kleinen Kätzchen schon tot sind? Er hatte an der Kuhle nichts gehört und die Katze war nicht da gewesen. Vielleicht hat sie ihr Nest schon aufgegeben?

      Dieser Gedanke lässt ihm keine Ruhe mehr. Auch wenn sich von irgendwoher trotzdem noch die angestaute Furcht vor der Katze, und der seltsamen Sage um die Alkenkuhle, in sein Gehirn schleicht, dieser Gedanke von dahinsterbenden kleinen Kätzchen zieht ihn nun vollends in seinen Bann.

      „Aber warum verschwanden die Kinder, wenn die Katze in der Nähe war?“, versuchen seine Gedanken sich ein letztes Mal in eine andere Richtung zu orientieren. Doch nun, bei genauerer Betrachtung, wird ihm klar, dass er nur glaubt, dass Nina der Katze gefolgt war. Und Thomas Mehring …, der wünschte sich doch nur eine Katze zu Weihnachten! Sagt das schon etwas darüber aus, dass er wirklich auf diese Katze gestoßen war, ihr folgte und somit in sein Unglück rannte?

      Eigentlich nicht.

      Und wenn, dann gibt es immer noch die Möglichkeit, dass die Katze zufällig immer dann eine Ziehmutter für ihre Babys sucht, wenn irgendjemand ebenfalls unterwegs ist, um sich an Kindern zu vergreifen.

      Ja, eine plausible Erklärung, aber keineswegs beruhigend. Gerrit hofft inständig, dass dieser Jemand nicht gerade jetzt auf Kindersuche ist.

      So packt er sich eine Tüte Milch ein, eine Dose Katzenfutter, die er schon vor Wochen gekauft hatte und ein Stück Fleischwurst für die Mutterkatze. Unschlüssig steht er einige Zeit da und starrt auf den Rucksack.

      „Eine