Christoph Hochberger

DER KELTISCHE FLUCH


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Gesicht lief vor Zorn hochrot an. „Mutter, ich bin sechzehn Winter auf dieser Welt, im besten Alter! Wenn ich ihn nicht bald erobere, werde ich als alte Jungfer enden, denn ich will keinen anderen.“

      Helwed musste sich ein Lächeln verkneifen. Mühsam gelang es ihr, sich die Belustigung über die forschen Worte ihrer Tochter nicht anmerken zu lassen. Schon ein freundliches Gesicht hätte Boudina dazu verleiten können, ihre Anordnung nicht ernst zu nehmen.

      Die Arme in die Seiten gestemmt standen sich Mutter und Tochter gegenüber. Helweds Blick wanderte über Boudinas Antlitz: Das schmale Gesicht mit den runden Wangenknochen, das von einer rotblonden Haarmähne eingerahmt wurde, erinnerte sie immer wieder an ihren toten Gatten. Durch die Augen ihrer Tochter, die tiefgrün schimmerten, wie die Seen im Wald, wenn es Sommer war, schien ihr geliebter Aragus sie anzublicken. Doch er war weit weg. Irgendwo in der Anderswelt, für sie nicht erreichbar. Auf dem Weg in ein neues Leben, ein Leben ohne sie ...

      Boudinas volle Lippen schürzten sich, und auf ihrer Stirn bildeten sich ungeduldige Falten. Helwed bemerkte, dass sie in Erinnerungen versunken war und gab sich Mühe, ihre Gefühle zu verbergen. Sie schüttelte den Kopf. Sie würde nicht nachgeben.

      Doch Boudina kam ihr zuvor. „Ich werde zur Versammlung gehen, danach offenbare ich mich ihm.“

      Sie wandte sich einfach ab und begann sich im hinteren Teil der Hütte anzukleiden. Helwed war überrascht. Doch schon einen Augenblick später musste sie sich zähneknirschend eingestehen, dass ihr Kind nicht nur stur war, sondern auch einen starken Willen besaß. Schon als kleines Kind hatte Boudina ihren eigenen Kopf besessen, und selten das getan, was man von ihr verlangte. Sie besaß die Schönheit ihrer Mutter und den Dickkopf ihres Vaters.

      Helwed versuchte es noch einmal: „Wenn du gehst, dann brauchst du nicht hierher zurückzukommen.“ Sie wandte sich von Boudina ab und starrte die Eingangstür an. „Ich werde mit einer solchen Schande nicht leben.“

      Plötzlich spürte sie die zarte Hand ihrer Tochter auf ihrer Schulter. Boudinas Stimme war mitfühlend, aber auch bestimmt, als sie sagte: „Mutter, ich will dir keine Schande bereiten, aber ich muss meinem Herzen folgen.“

      Als Helwed keine Anstalten machte zu reagieren, wandte sich Boudina seufzend ab. Während ihre Tochter den Rest ihrer Kleidung anlegte, stand Helwed unverändert auf ihrem Platz. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Boudina mit Gewalt hindern? Selbst mit zur Versammlung gehen? Nein, das kam nicht in Frage. Gewalt war kein Mittel ihrer Tochter gegenüber. Und aus genau demselben Grund wollte sie auch nicht zur Versammlung. Gewalt. Sie hatte früher, als Aragus noch gelebt hatte, genug von diesen Versammlungen miterlebt. Es wurde stundenlang hin- und her geredet, und am Ende kam doch immer dasselbe dabei heraus: Rache, Raubzug, Krieg.

      Helwed machte das Wesen ihrer Mitmenschen für den Tod ihres Mannes verantwortlich und wollte mit deren Angelegenheiten nichts mehr zu schaffen haben. Das war eine lange Zeit gut gegangen, doch nun wandte sich ihr Prinzip gegen sie.

      Boudina kam heran und sah sie mit einer Mischung aus Mitgefühl und schlechtem Gewissen an, dann wandte sie sich dem Ausgang zu. Als sie gerade die Eingangsfelle beiseite schlagen wollte, erklang Helweds Stimme: „Bitte bleib.“

      Boudina schüttelte den Kopf. „Verzeih`, Mutter“, sagte sie leise, dann verließ sie die Hütte.

      Fluchend wandte sich Helwed ab. War ihr Leben denn eine einzige Strafe? Mit schnellen Schritten durchmaß sie die Hütte. Sie musste sich in Trance versetzen. Sie musste erfahren, wie der Versuch ihrer Tochter ausgehen würde! Mit bebenden Händen durchwühlte sie ihre Kräutervorräte. Wo waren denn nur der Stechwurz und die Birkenrinde? Auch der zerstoßene Fliegenpilz war nicht auffindbar.

      „Bei Anu, warum tut sie mir das an?“, stieß sie hervor. Dann lehnte sie sich zurück und begann zu weinen.

      Boudina stapfte durch die Gassen des Dorfes auf das Versammlungshaus zu. Sie hatte ihrer Mutter wegen ein fürchterlich schlechtes Gewissen, doch andererseits hielt sie es vor freudiger Erwartung kaum aus. Endlich würde sie Tarcic wieder sehen, und endlich würde sie dem Versteckspiel ein Ende bereiten. Doch ihre freudige Erwartung trübte sich, als abermals das sorgenvolle Gesicht ihrer Mutter vor ihrem geistigen Auge aufstieg. Helwed ängstigte sich im Augenblick sicher zu Tode. Seufzend strich Boudina eine Haarsträhne beiseite, die ihr der scharfe Wind ins Gesicht wehte, und stieß einen Laut des Unmuts aus. Sie liebte ihre Mutter und wollte sie nicht verletzen, aber darauf konnte sie im Augenblick keine Rücksicht nehmen. Sie wollte Tarcic, denn sie liebte ihn.

      Das Versammlungshaus kam näher. Es mussten sich bereits die meisten Clanangehörigen eingefunden haben, denn das Gewirr vieler Stimmen war bis hierher zu vernehmen. Boudina lief schneller und kam keuchend am Eingang des Rundbaus an. Die beiden wachhabenden Krieger warfen ihr gleichgültige Blicke zu, denn jeder Clanangehörige, ob jung oder alt, hatte das Recht, an einer Versammlung teilzunehmen.

      Boudina durchquerte den kurzen Vorgang. Als sie das Innere des Baus betrat, verschlug es ihr fast den Atem: Die Ausdünstungen hunderter von Menschen, der Duft gebratenen Fleisches und honigsüßen Mets, verbanden sich mit dem Qualm der Feuerstelle und dem durchdringenden Geruch von Fett und Öl. Ein schwer erträglicher Brodem.

      Sie sah sich um. Nicht weit von ihr drängte sich eine Gruppe junger Mädchen, die sie kannte. Sie reckten die Hälse, um mehr von dem mitzubekommen, was sich vorne abspielte.

      Boudina zuckte verächtlich die Achseln. Bleibt nur, wo ihr seid, dachte sie, ich suche mir einen besseren Platz. Forsch balancierte sie durch die Reihen der am Boden sitzenden Clanangehörigen, vorbei an den niederen Kasten, bis sie ihr Temperament schließlich an einem der großen Tragepfosten des Gebäudes zügelte. Weiter durfte sie sich nicht vorwagen, ohne in Gefahr zu geraten, ernsthafte Schwierigkeiten zu bekommen. Denn sie befand sich nicht mehr weit hinter den Reihen der Krieger. Die bösen Blicke anderer Clanangehöriger ignorierte sie geflissentlich.

      Eigentlich gab es eine strenge Sitzordnung, doch Boudina, die ohne Vater aufgewachsen war, hatte früh gelernt, forsch aufzutreten. Die übrigen Dorfbewohner waren ihrer Mutter und ihr gegenüber ohnehin sehr zurückhaltend, denn dass Helwed bei den Matrae in die Kunst der Kräuterheilkunde unterwiesen worden war, wussten alle und hatten Respekt. Außerdem trauten sie dem schweigsamen Weib noch ganz anderes zu.

      Boudina wusste, dass ihre Grenzen erreicht waren.

      Sie blickte nach vorn: Dort saßen die Häuptlingsbrüder.

      Zuvorderst, auf dem Sitz des Häuptlings, thronte Toromic. Neben ihm hatten Tarcic und die wichtigsten und wohlhabendsten Männer des Clans Platz genommen. Sie bildeten den innersten Zirkel der Sitzordnung. Je wohlhabender und wichtiger einer der Edlen und Unterführer war, desto näher durften er und sein Gefolge dem Häuptling im Kreis der Anführer sitzen.

      Boudina starrte Tarcic an: Er schien ein fremdes Wesen zu sein. Der Bruder des Toromic hatte sein ohnehin helles Haar mit Kalk gewaschen. Schlohweiß glänzte es im Schein des Feuers. Es war straff über den Schädel zurückgekämmt und am Hinterkopf zu mehreren Zöpfen geflochten. Über Tarcics schmales Gesicht verliefen geschwungene schwarze Striche abwärts. Diese Bemalung verblasste jedoch bei dem Anblick, den seine gigantische Narbe bot. Tarcic hatte sie, von der Stirn bis zum Hals hinunter, mit rotem Ocker eingefärbt. Sie prangte wie ein Brandzeichen auf seinem Gesicht und lenkte die Blicke aller Anwesenden auf sich. Der edle, mit Rabenfedern besetzte Umhang, den er sich um seinen nackten Oberkörper geschlungen hatte, sein mächtiger goldener Halsring und auch seine Brustplatte - all diese Zeichen von Macht und Würde erschienen bedeutungslos beim Anblick dieser Narbe. Boudina war entsetzt. Er sah völlig anders aus, als sie ihn kannte, so fremd und kalt. Einen Augenblick benötigte sie, um den Schrecken zu überwinden, dann schalt sie sich eine Närrin. Natürlich sah Tarcic anders aus als bei helllichtem Tage, wenn er durch die Siedlung schritt oder auf einem der das Dorf umgebenden Hügel stand und in die Ferne sah. Jetzt war er eine mystische Figur, ein Mittler zwischen der Anderswelt und dem Diesseits, ein heiliger Mann.

      Da im Augenblick weder Tarcic noch Toromic Anstalten machten, mit der Zeremonie zu beginnen, nutzte Boudina die Zeit, um die übrigen Männer in ihrer Nähe in Augenschein zu nehmen.