Christoph Hochberger

DER KELTISCHE FLUCH


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Vertrauten des Häuptlings hängen - an den Kriegern Borix und Turumir. Diese beiden hätten vom Aussehen her nicht unterschiedlicher sein können. Borix, der hinter Toromic saß, war eine beeindruckende Erscheinung. Sein kahlgeschorener Schädel saß auf breiten muskelbepackten Schultern. Mächtige, mit blauen Tätowierungen verzierte Arme ließen keinen Zweifel an der Kraft ihres Besitzers. Auf den ersten Blick erschien er grob und einfach, doch wer genauer hinsah, die wachsamen Augen unter den buschigen Brauen und die geschmeidigen Bewegungen dieses Mannes beobachtete, erkannte, dass sich unter der Fassade des tumben Rohlings noch anderes verbergen mochte. Wegen seines dürftigen Haupthaares als Junge oft verspottet, trug er seit seiner ersten Schlacht den Schädel kahlrasiert. Zum Ausgleich für diesen Nachteil - die Männer aller Stämme waren stolz auf ihre Haarpracht - ließ er seinen Schnauzbart über beide Mundwinkel bis zum Kinn hinunter wachsen. Boudinas Blick wanderte zu dem Krieger, der hinter Tarcic saß. Turumir war hochgewachsen, intelligent und hatte rotblondes Haar, genau wie sie. Er war seit seiner Jugendzeit der Freund und Vertraute Tarcics gewesen, sein erster Mann. Doch seit Tarcic über die Gabe des Sehens verfügte, gab es nicht mehr viele Situationen, die einen Beschützer erforderlich machten. Von den Beschwörungen und Ritualen, die Tarcic durchführte, verstand Turumir nichts, und mehr als ein wenig freundschaftliche Zuneigung ließ der Bruder des Häuptlings schon lange nicht mehr zu. So diente Turumir nach außen hin Tarcic, während er in Wirklichkeit längst Toromics zweiter Mann geworden war.

      Da noch immer nichts geschah, ließ Boudina ihre Blicke durch den Rundbau schweifen. Hinter der ersten Riege des Clans hatten die Krieger in Gefolge aufgeteilt Platz genommen. Sie machten einen Großteil der Anwesenden aus. Nach ihnen kamen die Frauen, die mit ihren Kindern, Müttern, Schwestern, Cousinen und Tanten, je nach Verwandtschaftsgrad, in Gruppen zusammen saßen. An der Außenwand des Gebäudes standen die Gemeinen, Unfreien und Sklaven, an denen sich Boudina eben vorbeigedrückt hatte. Während die Gemeinen und Unfreien, meist Handwerker oder Viehzüchter, einiges Ansehen genossen, da ihnen in Kriegszeiten das Recht zustand, Waffen zu tragen, bildeten die Sklaven die unterste Schicht der Gemeinschaft. Sie waren meist Gefangene anderer Stämme oder aber Menschen, die die strengen Gesetze der Clans gebrochen hatten. Bis auf die Elite der Leibsklaven der Edlen und Hohen ging es ihnen schlecht. Sie waren rechtlos und ihr Leben zählte nicht viel.

      Schwatzen und Raunen erfüllte das Innere des Rundbaus, ab und zu plärrte ein Kind. Die Krieger saßen stolz schweigend und ließen sich von der Unruhe in den hinteren Reihen nicht anstecken. Goldene, bronzene und eiserne Torques - aus mehrfach ineinander verschlungenen Strängen gefertigte Halsringe - die den Rang und den Wohlstand ihrer Besitzer symbolisierten, glänzten im Schein des Feuers. Versteinerte Gesichter und starre Körperhaltung bewirkten den Eindruck von Unnahbarkeit. Die reichsten Männer, die Edlen, trugen mit Bronze und Goldlegierungen verzierte Helme. Zum Zeichen ihres Ruhms hatten die Krieger ihre besten Waffen und wertvollsten Trophäen mitgebracht. Diese lagen auf ihren Schilden neben ihnen. Die Trophäen waren die einbalsamierten Schädel der tapfersten Feinde, gegen die sie gekämpft und gesiegt hatten. Die Kraft des Feindes, seine Numina, floss auf denjenigen über, der seinen Schädel nahm. Boudina wurde es unheimlich, als ihr Blick auf die seltsam entstellten Gesichter der mumifizierten Schädel fiel. Die meisten sahen wächsern und tot aus, gar nicht so, als hätten sie einmal gelebt - doch es gab auch welche, denen der Schrecken in die Züge gegraben war, den sie empfunden haben mussten, als sie getötet wurden.

      Boudina schüttelte sich. Sie hatte nie einen Vater nach einem Kriegszug mit erbeuteten Schädeln heimkehren sehen. Dieser Brauch war ihr nicht geheuer.

      Sie hielt wieder nach dem Ziel ihrer Sehnsüchte Ausschau.

      Tarcic saß ruhig da.

      Boudina bemerkte, dass Toromic seinen Bruder misstrauisch beäugte. Sie reckte den Hals ...

      Toromic blickte unauffällig zu Tarcic hinüber. Was er sah, gefiel ihm nicht. Sein Bruder war, wie die übrigen Clanangehörigen, mächtig herausgeputzt, doch konnten all seine Würdezeichen und Bemalungen nicht den dichten Schweißfilm verbergen, der seine Stirn bedeckte. Er war eindeutig betrunken. Toromic wusste, dass sein Bruder vor einer Zeremonie große Mengen Met trank, um den Übergang seines Geistes in die Anderswelt, das Reich der Geister und Ahnen, zu erleichtern, doch heute schien es zu viel gewesen zu sein. Tarcic hielt dem Druck, den die Rituale auf ihn ausübten, offensichtlich nicht mehr stand. Toromic bis sich auf die Lippen. Nach diesem Tag würde er Tarcic schonen, doch zuerst musste er wissen, ob die Ereignisse der Jagd als schlechtes Omen zu deuten waren.

      Cassatr, ein Angehöriger seines Gefolges, betrat den vordersten Kreis. Er hatte die Ehre, dem Häuptling und den Edlen den Eröffnungstrunk zu reichen. Die Männer nahmen die Hörner nacheinander an und tranken sie in einem Zug leer. Inzwischen war es sehr still im Versammlungshaus geworden. Boudinas Haltung verspannte sich. Endlich ging es los!

      Toromic erhob sich und wandte sich der Menge zu. Das Feuer warf den Schatten seiner hünenhaften Gestalt überlebensgroß an die Rückwand des Versammlungshauses.

      „Edle und Krieger, Frauen und Unfreie, Clan der Selgovater, ich eröffne die Versammlung.“

      Cassatr trat vor und rief: „Der Ri wird uns berichten.“

      Toromic wartete, bis sich Cassatr gesetzt hatte, dann begann er: „Letzten Mond befand ich mich mit einigen meiner tüchtigsten Männer auf der Jagd. Wir streiften lange durch das Land, ohne eine Fährte ausfindig machen zu können, doch schließlich war uns das Jagdglück doch noch zugetan. Ein mächtiger Hirsch wurde von den Hunden aus dem Wald getrieben.“

      Toromic wusste, dass die Geschichte bereits die Runde gemacht hatte, doch zum einen sollte jeder Clanangehörige wissen, worum es ging, zum anderen war es Brauch, die Ereignisse, über die in der Versammlung entschieden werden sollte, zu Beginn vorzutragen. Er fuhr fort: „Die Hunde stürzten sich auf ihn, doch er war ein starker Gegner. Er nahm einen meiner besten Wolfshunde aufs Geweih und trat einen anderen zuschanden, bevor es Beluc und Turumir gelang, ihm jeweils einen Pfeil in den Leib zu schießen. Beluc traf mitten in den Brustkorb, Turumir durchschoss den Hals. Das Tier stob in blinder Panik davon.“

      Anerkennendes Raunen lief durch den Saal. Toromic hob gewichtig die Hände. „Ihr alle wisst, dass Wild noch eine ganze Strecke weit fliehen kann, wenn man es nicht genau in Herz oder Auge trifft. Erst nach einer Weile wird es schwach und verendet schließlich. Wir machten uns also, der Beute gewiss, an die Verfolgung. Wir hätten die Jagdhunde gar nicht mehr gebraucht, denn die Blutspur war so offensichtlich, dass ihr ein kleines Kind hätte folgen können. Es verstrich eine ganze Weile, und nichts deutete darauf hin, dass wir ihm näher kamen. Also begannen wir das Treiben zu beschleunigen. Über die westlichen Hügel, durchs dunkle Moor, bis hin zum Tal der Steine verfolgten wir den Hirsch, bis wir ihn schließlich auf einer Bergkuppe, oberhalb des Tals, stehen sahen.“

      Toromic stemmte die Arme in die Seiten und starrte die Anwesenden an.

      „Ja, ich sage stehen! Er hatte sich nicht etwa in ein Gebüsch verkrochen, um dort zu verenden, wie es üblich ist, nein - dieser Hirsch stand! Zwar hatte er blutigen Geifer vorm Maul, und seine Flanken zitterten erbärmlich, doch er mochte sich nicht zum Sterben hinlegen. Im Gegenteil, ich hatte den Eindruck, als erwarte er uns förmlich, als wolle er sich uns stellen!“

      Die Menschen steckten die Köpfe zusammen und flüsterten aufgeregt. Es war ein unheimliches Geschehnis, von dem der Häuptling da berichtete.

      „Es war, als wäre Cernunnos, der Gehörnte, in ihn gefahren und hätte ihm diese Kraft verliehen!“

      Bei der Nennung des Namens des hochverehrten Jagd- und Kriegsgottes der Stämme ging ängstliches Wispern durch den Saal.

      „Um ein Ende zu machen, schoss Beluc zwei weitere Pfeile aus nächster Nähe in sein Herz, und jetzt endlich brach er zusammen.“

      Toromic zögerte.

      „Die Hunde, die noch einen Augenblick zuvor wie toll an ihren Leinen gerissen hatten, zogen plötzlich die Schwänze ein, winselten und machten keinerlei Anstalten mehr, sich der Beute zu nähern. Sie schienen große Angst zu haben.“

      Man konnte den Wind um das Versammlungshaus fauchen hören, und das Knistern des Feuers schien überlaut zu sein,