Gerald W.T. Zajonz

Seelentreppen


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      Ihr Blut die Erde ertränkt –

      Der Mensch hat aufgehört zu beten –

      Darum wird er vom Bösen gehängt.

      Die Rosenblätter noch hernieder fallen.

      Noch kämpft die Liebe, um Menschen.

      Die Sonnenstrahlen einen See von Silber füllen,

      bis an der Welten Grenzen.

      Getauft vom Sonnentau.

      Liebende in der Umarmung träumen.

      Wehren sich der schwarzen Schatten,

      die gierig die Krallen heraus jetzt strecken.

      Gleich, des Donners Hall,

      sie schlagen auf den Lichtersee,

      doch die aufsprühenden Funken,

      brennen in ihre Schuppenhaut ein.

      Zunächst führt sein Weg nach Haus. Vielleicht geht er doch lieber nicht ins Zentrum. Alles ist so teuer. Zu teuer für ihn und seiner Mutter. Bloß gucken und nichts kaufen zu können war demütigend. Ist sogar verdammt demütigend. Warum geht es anderen Menschen so gut?

      Sein Blick fängt die Nachbarin ein. Sie wurstelt wieder ein bisschen im Garten herum. Das alte Mädchen muss an die 80 sein. Das ist also das Schicksal eines alten Menschen? Allein sein, ewig ums Überleben kämpfen müssen? Kleine Rente bekommen, mit dem Minimum leben. Vom Staat nur so viel kriegen, dass man nicht abkratzt, dass man noch die Wirtschaft ankurbelt, wenn man Medikamente braucht, oder was zu essen, oder den Enkeln was zu Weihnachten und Geburtstag schenkt, dafür seinen letzten Euro hergeben muss, danach wochenlang nur Margarine auf dem Brot hat.

      Rudolf grüßt Frau Sommer freundlich, wie immer. Gegen alte Menschen hat er nichts. Diese Alten wissen, was Leben heißt. Um so alt werden zu können, muss man schon über eine besondere Art von Intelligenz verfügen.

      Die alte Frau sieht zunächst fast erschreckt auf, verzieht dann aber den Mund zu einem Lächeln, das eher aussieht, als hätte sie Schmerzen im Knie. Rudolf tut eilig. Heute hat er keine Lust dazu, sich etwas über ihr Rheuma anzuhören. Die Frau hält ihn auf.

      „Entschuldigen sie! Würden sie mir bitte die große Blumenschale von dort nach da verrücken? Ich will, wissen sie, dort ein kleines Blumenbeet anlegen. Mögen sie Vergissmeinnicht auch so gerne?“

      Rudolf geht natürlich zu ihr. Die Frau redet unablässig weiter, lässt ihn gar nicht die Zeit, auf ihre Frage zu antworten. Seine Oma war auch so. Nein, so nicht, sie war stärker. Sie war erste Klasse. Genau wie Opa. Die Oma mochte seinen Vater auch nicht. Sie mochte ihn nie. Wie oft sagte sie damals zu Mama, sie solle sich von diesem Säufer scheiden lassen.

      Alle Menschen die man liebt, verlassen einen. Überhaupt sterben die Guten immer viel zu früh.

      „… habe jetzt kein Geld bei mir. Wir sehen uns ja öfter. Dann bekommst du zwei Euro von mir“, schreckt die alte Frau ihn aus seinen Gedanken.

      „Dafür nehme ich kein Geld, Frau Sommer. Habe ich gern gemacht.“

      „Bist immer so freundlich. Junger Mann. Gehörst bestimmt nicht zu denen, die alte Leute ärgern. Deine Mutter ist auch nett. Sie kauft mir immer die richtigen Sachen ein. Wie geht es denn deinem kranken Vater?“

      Diese verdammte Frage muss ja kommen. Warum fragt die Frau das? Sie erfährt doch immer alles von Mama. Die standen manchmal, wenn Mama Zeit hatte, fast eine halbe zusammen und zerredeten sich die Münder.

      Man kann machen was man will, um den „Alten“ zu vergessen. Das gelingt einfach nicht. Irgendwer spricht immer von ihm. Das ist ein richtiger Fluch. Kranker Vater? Krank?

      „Habe lange nichts von ihm gehört. Ist wohl noch in dieser Klinik.“

      „Eines Tages kommt er bestimmt wieder zu euch zurück. Wenn er gesund ist.“

      In Rudolf wächst Groll auf die alte Frau. Warum lässt sie ihn nicht zufrieden damit. Wer weiß schon, was Mama ihr erzählt hat. Die Wahrheit bestimmt nicht. Der alten Frau kann man nichts verübeln.

      Rudolf entschließt sich zu nicken.

      „Ja, vielleicht. Ich muss jetzt gehen, Frau Sommer. Schulaufgaben machen.“

      „Oh, ja, ja. Immer fleißig lernen, damit es später gut geht. Diese vielen Arbeitslosen. Heute muss man was können.“

      „Ja! Also dann, Frau Sommer. Einen schönen Tag noch.“

      „Vielleicht kann deine Mutter mir morgen etwas vom Schlachter mitbringen?“

      „Ich werde es ihr sagen.“

      „Meine Tochter kommt zu Besuch. Sie hat ja zwei kleine Kinder. Kinder haben immer großen Appetit. Ein Flaschen Limonade brauche ich auch.“

      „Ja, sage ich ihr.“

      „Bist ein guter Junge“, meint die alte Frau und wendet sich wieder ihrer Beschäftigung zu.

      Rudolf beeilt sich ins Haus zu kommen. Ehe ihn die Frau noch einmal aufhält. Wenn sie erst anfängt von ihren Enkeln zu erzählen… Mein Gott!

      Er öffnet den Kühlschrank. Auch nicht gerade die Welt, was da drin war. Zwei angefangen Würste, eine davon auch noch Leberwurst. Er verabscheute Leberwurst schon immer. Warum seine Mutter sie immer wieder einholte, blieb ein unlösbares Rätsel. Wie oft sagt er: „Nah ja, egal.“ Die halbe Flasche Milch nimmt er mit hinauf in sein Zimmer.

      So ganz ist das mit den Kopfschmerzen nicht gelogen. Rudolf legt sich auf sein Bett.

      Es ist so still in der Wohnung dieses Reihenhauses. Rudolf würde nie in eine Großstadt ziehen. Gestank, Lärm, die hohlen Menschen, die dort leben. Nur immer zwischen Arbeit und Haus sein. Das ist doch kein Leben? Leben muss auch noch was Anderes sein. Diese Berichte im Fernsehen, von den Arbeitslosen, von allen die nicht wissen, wie sie den nächsten Tag bestreiten sollen. Leben heute, heißt doch: konsumieren, oder kaputt gehen.

      Wenn in der Schule die Politik dran ist, muss Rudolf traurig lachen.

      Das Wort, Sozial, das war ein Witz. Wie kann eine Demokratie, sozial sein? Da passt etwas nicht. Menschen sind nur beschränkt soziale Wesen. So viel steht schon mal fest. In der Steinzeit wurden die Kranken und Alten von der ganzen Sippe durchgebracht, ohne darüber nachzudenken, dass sie nichts mehr für die Gemeinschaft leisten konnten. Es war eine Selbstverständlichkeit, für sie zu sorgen.

      Das konnte man sozial nennen. Wer heute keine Rente bekommt, oder nur ganz wenig, weil er vielleicht keinen guten Job in seinem Leben verrichten konnte… Menschen sind nicht alle gleich. Jeder kann nicht das, was ein Anderer kann. Gehirne funktionieren nicht gleich. Der eine lernt leicht, der andere niemals.

      Nieten werden fallen gelassen. Nieten sind nur halbe Menschen, oder gar keine. Eine Belastung für die Gesellschaft… Sozial…

      Rudolf reibt sich die Stirn. Er will jetzt nicht mehr denken. Warum muss er immer denken?

      Er ist müde, schließ seine Augen, versucht nicht zu denken, nicht mehr denken… nicht mehr denken… nicht mehr…

      Irgendwann nickt er ein.

      Ein Traum. Wieder solch ein Traum. Es fühlt sich so gut an, wenn man im positiven Mittelpunkt steht, wenn man als Held angesehen, wenn man bewundert, wenn man, ganz einfach, geachtet wird. Rudolf stellt sich oft vor, dass er ein Held ist. Ein Held wie James Bond, wie in den Filmen mit Arnold Schwarzenegger, oder Sylvester Stallone. Oder, wie ein normaler Mensch, der in Gefahr zu einem Superhelden wird. Rudolf träumte oft, dass er Rosi aus einer großen Gefahr rettet. So wie jetzt. Er sieht Rosi von einer einstürzenden Brücke fallen. Er sieht es ganz genau, sieht ihren angstvollen, panischen Gesichtsausdruck, den weit um Hilfe rufenden, geöffneten Mund, hört den furchtbaren Schrei. Es durchfährt ihn regelrecht, dass er auf dem Bett zusammenzuckt.

      Rosi