Gerald W.T. Zajonz

Seelentreppen


Скачать книгу

tiefer hinab ziehen will. Jetzt stürmt er in einer affenartigen Schnelligkeit auf das Ufer des Flusses zu. Selbst verspürt er keinerlei Furcht, vor der reißenden Strömung. Er ist ein Held und weiß es. Das ist ein gutes Gefühl. Ein, im Traum, wahres Gefühl.

      Er teilt das Wasser mit seinen starken Armen. Die Strömung des Flusses wird kaum bemerkt. Rosi sieht ihn… Rosi geht unter… Rosi taucht auf… Rosi schreit und schon ist er bei ihr.

      Gibt es ein größeres Gefühl, als die selige Ruhe nach einer vollbrachten Tat? Rudolfs Traum endet an dieser Stelle. Allein die Genugtuung, seine Liebste gerettet zu haben, macht ihn groß, unverletzbar für andere… ein Held.

      Die Haustür klappt zu und eine leichte Frauenstimme ruft sogleich fröhlich:

      „Rudolf? Ich bin da! Oh Junge! Mach doch die Musik leiser! Bitte! Die Nachbarn gucken schon immer so mürrisch, wenn man sie mal sieht! Nicht, dass mich das besonders interessiert! Nur, das Leben ist schon schwierig genug!“

      Die Frau stellt eine Tasche ab und seufzt auf, als die Musik leiser wird.

      „Danke, für die Musik! Aber nicht Danke dafür, dass du den Mülleimer nicht herein geholt hast! Rudolf, hörst du mich? Ich muss wohl wirklich alles alleine machen?“

      Rudolf muss erst zu sich kommen. Wie lange war er weggetreten? Ist es schon so spät? Der Traum will nachwirken, kann es aber nicht. Mutters Stimme holt ihn schmerzhaft in die Wirklichkeit zurück.

      Er hasst sie einen Moment lang dafür.

      „Hallo! Rudolf! Hast du mich gehört? Ich sagte…“

      Mühsam freundlich, ruft er schuldbewusst zu ihr hinunter:

      „Habe ich vergessen! Entschuldige! Mache ich dann gleich noch!“

      „Eh` du soweit kommst… Wenn alle immer so langsam wären wie du, würde sich vermutlich nicht viel auf der Erde tun, oder? Brauchst dich nicht mehr bemühen. Ich habe ihn schon raus gestellt!“

      „Danke!“

      „Das wollte ich dir auch noch sagen! Wenn du das nächste Mal den gelben Sack raus stellst, achte darauf, dass er kein Loch am unteren Ende bekommt! Ja? Letztes Mal musste ich fast den ganzen Mist von der Straße aufsammeln! Okay? Essen in einer halben Stunde! Sei pünktlich! Sonst esse ich allein!“

      „Wieder Nudeln?“

      Die Mutter antwortet jetzt leicht gereizt:

      „Soll ich mich jetzt noch hinstellen und dem jungen Herrn eine Gans braten? Ich habe schließlich hart gearbeitet. Lerne du das kochen und wir können mal etwas anderes essen!“

      Er meint es ganz ernst, als er ruft:

      „Männer kochen nicht! Mutter!“

      Die Mutter muss zwangsweise lachen.

      „Männer vielleicht nicht! He? Du musst erst mal einer werden! Kannst dich damit ein bisschen beeilen! Außerdem gibt es Männer, die besser als Frauen kochen! Hör mal! Du hast lange nichts von der Schule erzählt! Wie es läuft musst du mir nachher erzählen! Kommst du mit den anderen Schülern jetzt besser zurecht?“

      „Mutter? Für mich brauchst du nichts kochen! Habe keinen Hunger! Habe vorhin ein Stück Brot gegessen. Ich gehe gleich noch mal weg! Ich war nicht im Gymnasium! Vor der Schultür spürte ich schon wie mein Kopf weh tat. Ich bin nach Hause, und habe fast den Tag über im Bett gelegen! Geht erst seit einer Stunde wieder besser.“

      Rudolf schaltet die Musik ganz ab. Er läuft die Treppe hinunter, spricht dabei atemlos:

      „Mutter. Ich will…“

      „Ich weiß, was du willst. Du gehst bitte nicht zu diesen Möchtegern -Neonazis. Ja? Das ist kein Umgang für einen jungen Mann, der einmal studieren will. Diese Nazi-Bilder in deinem Zimmer solltest du auch ab nehmen. Ich verstehe dich so wie so nicht! Du bist doch gegen die Gewalt. Was wetterst du immer gegen die Bundeswehreinsätze im Ausland! Überhaupt gegen die Bundeswehr. Sagst immer, die Soldaten sind Kinder die Krieg spielen. Und, wie war das andere? Der Krieg gegen den Terrorismus kann man nicht mit Soldaten und Bomben führen?“

      „Stimmt genau! Das sehe ich immer noch so. Die Bilder gelten mir als Abschreckung. Das habe ich dir schon ein paar Mal erklärt. Vielleicht solltest du auch mir mal zuhören. Diesen Bin Laden… Man kann einen Wolf nicht mit einer Bombe jagen. Der Wolf entkommt immer. Nur die Umgebung rings herum hat darunter zu leiden.“

      „Ach Rudolf, ja. Ich sehe das allerdings nicht so. Wenn wir von einem Feind angegriffen werden, können wir uns wenigstens verteidigen. Ein Land ist wehrlos ohne Soldaten. Das müsstest du eigentlich selbst wissen. Nur, neue Neonazis wollen wir wohl alle nicht. Reicht, wenn dein Vater immer diese Anwandlungen bekommen hat! Na ja, muss wohl in der Familie liegen. Dein Opa war ein guter Soldat, aber kein Nazi. Sagte er jedenfalls. Deinen Vater haben sie nicht eingezogen. Der hat sich immer solche Hefte besorgt, wer weiß woher. Heute bekommt man ja alles unter der Hand. Er meinte ja immer, wenn den Deutschen Deutschland noch gehören würde, wäre auch für ihn Arbeit genug da. Dein Vater begreift nicht, dass sich die Welt weiter dreht. Heute muss man eben ein bisschen mehr können, als nur die Straße fegen. Rudolf, bitte. Lass die Finger von diesen Menschen. Du willst…“

      Rudolf fällt ihr verärgert ins Wort:

      „Bloß weil ich eine Lederjacke trage bin ich noch längst kein Nazi, Mutter. Die wollen mich außerdem gar nicht haben. Ich bin denen zu fett. Und hör auf, mir immer was von meinem Erzeuger zu erzählen. Ein Vater ist er nie gewesen. Ich will nichts über ihn hören, weißt du? Ich bin absolut nicht solch eine Niete. Ich saufe nicht so lange, bis ich nicht mehr weiß, ob ich Rudolf, oder Egon heiße. Der Alte hat doch nur immer eine große Klappe gehabt. Frauen und Kinder konnte er schlagen! Mehr aber auch nicht! Habe ich nicht Recht?“

      „Ist ja schon gut. Reden wir nicht über ihn. Allerdings, wenn du mehr Sport machen würdest, könntest du das mit dem Fett ändern. Du hockst zu lange vor dem Computer. Mag ja sein, dass du das musst, um besser orientiert zu sein. Mal muss man aber abschalten. Du pumpst dich regelrecht voll mit allen Missständen der ganzen Welt. Das ist auch nicht richtig. Du solltest öfter zum Sportplatz gehen und laufen. Oder, ins Hallenbad. Früher, als du noch klein warst, bist du gern schwimmen gegangen. Der Arzt sagt, durch gelinden Sport, könnte man deine Drüsenfunktionen vielleicht wieder normalisieren.“

      „Ja, vielleicht. Das ist es ja eben… Vielleicht. Nein, nein Mama! Sport ist Mord. Das ist etwas für Leute, die auch Spaß dran haben. Zu dieser Sorte gehöre ich nicht. Ich bin nun mal so. Ich will jetzt nur ein bisschen Luft schnappen. Bis später dann.“

      „Halt warte einen Moment! Nicht so schnell, junger Mann. Wann hast du mal Zeit für deine Mutter? Ich möchte dich einiges fragen. Über die neuen Bücher müssen wir auch reden. Nach den Ferien brauchst du doch welche.“

      „Mama! Das letzte Mal bist du bei unserem Gespräch fast eingeschlafen. Vergessen? Reden wir, am Wochenende. Am Sonntag, wenn du nicht zur Arbeit musst. Einverstanden?“

      „Ist das versprochen? Also gut. Dann verschwinde jetzt, wenn es sein muss. Komm nicht zu spät! Nicht erst wieder in der Nacht! Kein Wunder wenn du morgens dann Kopfschmerzen hast. Ein Junge in deinem Alter braucht Schlaf. Du willst wirklich nichts essen?“

      Die Haustür klappt zu.

      Verena Albrecht wischt sich über die Stirn. Ihr Junge funktioniert nicht ganz so wie sie es sich wünscht. Seit geraumer Zeit wurde er immer verschlossener. Mal spricht er sie mit Mama an, dann wieder mit Mutter. Seit sein Opa nicht mehr da ist, verschließt er sich immer mehr der Welt. Vielleicht sind aber alle Jungs so, wenn sie sich auf dem Weg des Erwachsenwerdens befinden. Verena Albrechts Augenlider werden jeden Tag früher schwerer. Diese vielen Überstunden rauben ihr die letzten Kräfte. Es wird einfach zu viel verlangt. Zuviel für diesen gerade ausreichenden Lohn, den sie bekommt. Rudolf seine Bücher werden auch immer teurer. Das Zusatzmaterial, das die Lehrer empfehlen, ist kaum noch für ihren Geldbeutel erschwinglich. Man muss harte Einschnitte machen, die sogar auf Kosten der guten Ernährung gehen. Zum Glück