Ursula Tintelnot

Himmel über der Maremma


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war dem Ruf der Hoch­schu­le für Mu­sik und The­a­ter in Ham­burg ge­folgt. Jun­ge be­gab­te Schü­ler aus­zu­bil­den hat­te ihr zu­ge­sagt. Auf die­se Wei­se konn­te sie ih­re Lie­be zur Mu­sik wei­ter­ge­ben.

      Ein ita­lie­ni­scher Kol­le­ge, der an der Ac­ca­de­mia Mu­si­ca­le in Sie­na lehr­te, hat­te In­ter­es­se an Ma­ri­as Mit­a­r­beit ge­zeigt. Ein­mal in der Wo­che wür­de sie Kur­se ge­ben kön­nen.

      Ma­xi­mi­li­an hat­te ihr ei­ne groß­zü­gi­ge Eta­ge in ei­nem der Sei­ten­flü­gel des Guts­hau­ses an­ge­bo­ten. Al­ler­dings, er­in­ner­te sie sich, mit der Be­din­gung, dass er nicht den gan­zen Tag »Kla­vier­ge­klim­per« hö­ren müss­te. Sie hat­te nicht ge­wusst, ob sie em­pört sein oder la­chen soll­te, und sich ent­schie­den, es amüsant zu fin­den.

      Ma­xi­mi­li­an war nur we­ni­ge Jah­re jün­ger als sie selbst und der amu­sischs­te Mensch, den sie je ken­nen­ge­lernt hat­te. Au­ßer Geld, sei­nen Scha­fen und Frau­en in­ter­es­sier­te ihn nichts. In ge­nau die­ser Rei­hen­fol­ge. Ja, er war ein char­man­ter Mann, ei­ner dem die Frau­en zu Fü­ßen la­gen, ein Ge­ni­e­ßer, der ger­ne gut aß und trank.

      Wenn er so wei­ter­mach­te, wür­de er bald wie ein Fass aus­se­hen, dach­te sie.

      Aber noch hat­te er sich ei­ne er­staun­lich gu­te Fi­gur er­hal­ten. Dass er ih­re Toch­ter be­trog, konn­te sie ihm nicht ver­zei­hen. An­de­rer­seits, das wuss­te sie, ging sie The­resas Ehe nichts an.

      Sie strei­chel­te den cre­me­fa­r­be­nen Ma­rem­ma- Hund zu ih­ren Fü­ßen. »Du darfst gleich noch mal raus, Lud­wig.«

      »Non­na?« Die Tür öff­ne­te sich. Ama­lia stob wie ein Wir­bel­wind in den Sa­lon. Sie ließ sich, wie der Hund, zu Ma­ri­as Fü­ßen nie­der.

      »Wie geht es mei­ner Schü­le­rin?« Ma­ria strich Ama­lia über die Lo­cken. »Willst du noch ein biss­chen spie­len?«

      Ma­ria öff­ne­te den De­ckel ih­res Flü­gels und stell­te den Sitz des Kla­vier­ho­ckers hö­her. Wäh­rend Ama­lia spiel­te, frag­te sie sich, war­um das Kind mit ihr sprach, aber mit nie­man­dem sonst. Ama­lia wech­sel­te mü­he­los von Deutsch zu Fran­zö­sisch zu Ita­lie­nisch. Sie sprach mit Ama­lia vor­wie­gend Deutsch, um sie die Spra­che ih­rer El­tern nicht ver­ges­sen zu las­sen.

      Die Klei­ne hat einen wun­der­bar sanf­ten An­schlag. Ja, dach­te sie, das Kind ist be­gabt.

      Dass es für ei­ne Lauf­bahn als Pi­a­nis­tin reich­te, be­zwei­fel­te sie. Sie wuss­te, wie hart ein sol­ches Le­ben war. Man wür­de se­hen. Ei­ner ih­rer liebs­ten Kom­po­nis­ten war Cho­pin. Ma­ria lausch­te der Mu­sik.

      Er­staun­lich für ein Kind in die­sem Al­ter, dach­te sie.

      Aber an Ama­lia war al­les er­staun­lich. Ih­re Freund­lich­keit und die stoi­sche Ru­he, mit der sie die kras­ses­ten Aus­brü­che ih­res Cous­ins hin­nahm. Sie ließ sich nicht pro­vo­zie­ren. Viel­leicht blieb die Sprach­lo­sig­keit die ein­zi­ge Mög­lich­keit, sich zu weh­ren. Zu weh­ren ge­gen ei­ne Fa­mi­lie, die sie zwar auf­ge­nom­men hat­te, in die sie aber emo­ti­o­nal we­nig ein­ge­bun­den war.

      Ma­ria hat­te mit ih­rem Arzt dar­über ge­spro­chen. Er war nicht so über­rascht.

      »Et­was bringt sie zum Schwei­gen. Sie könn­te das nicht durch­hal­ten, wenn es be­wusst ge­schä­he. Es war si­cher ein Schock für sie, als ihr Va­ter sta­rb und sie aus ih­rem ge­wohn­ten Um­feld her­aus­ge­ris­sen wur­de.«

      »Aber war­um spricht sie mit mir?«

      »Den­ken Sie dar­über nach. Viel­leicht gibt es ei­ne Ver­bin­dung über Sie zu ih­rem Va­ter.«

      Es war seit Jah­ren Ama­li­as und ihr Ge­heim­nis. Ma­ria be­fürch­te­te, dass das Mäd­chen auch ihr ge­gen­über ver­stum­men wür­de, wenn sie die­ses Ge­heim­nis lüf­te­te.

      Sie er­in­ner­te sich, dass Ama­lia ih­re Räu­me zum ers­ten Mal be­tre­ten hat­te, wäh­rend sie sich ein Vi­o­lin­kon­zert an­hör­te. Ein hal­b­es Jahr nach ih­rer An­kunft. Sie hat­te sich stumm auf einen Stuhl ge­setzt und zu­ge­hört, bis das Stück zu En­de war.

      »Das war mein Pa­pa«, sag­te die da­mals knapp Fünf­jäh­ri­ge.

      Ma­ria glaub­te, nicht recht ge­hört zu ha­ben. Sie hör­te die leicht raue Stim­me des klei­nen Mäd­chens zum ers­ten Mal, und es war tat­säch­lich ei­ne al­te Auf­zeich­nung aus der Bo­s­ton Sym­phony Hall mit dem Or­ches­ter ih­res Va­ters.

      Von die­sem Zeit­punkt an hat­te sie Ama­lia un­ter­rich­tet.

      Ma­ria er­hob sich und öff­ne­te Fens­ter und Lä­den weit. Jetzt nahm die Hit­ze lang­sam ab, und ein leich­ter Wind strich durch die Räu­me. Sie lä­chel­te, als sie un­ten Ma­da­me hin und her ge­hen sah. Sie war­te­te ganz of­fen­sicht­lich auf ih­re Schutz­be­foh­le­ne.

      Ma­ria wand­te sich um und sag­te: »Ama­lia, ich glau­be es wird Zeit. Lauf hin­un­ter, Ma­da­me Du­rand er­war­tet dich.«

      Ma­da­me Du­rand sah Ama­lia ent­ge­gen.

      Seit acht Jah­ren be­treu­te sie das Kind, das ihr lang­sam ent­wuchs.

      Ama­li­as noch kna­ben­haf­te Fi­gur wan­del­te sich. Die grau­blau­en Au­gen leuch­te­ten neu­gie­rig auf die Welt. Das dun­kel­blon­de Haar zu ei­nem üp­pi­gen Pfer­de­schwanz ge­bun­den, be­ton­te ihr schma­les Ge­sicht.

      Sie war klug, konn­te in drei Spra­chen ge­bär­den und schrei­ben. Nach ei­ner Prü­fung war sie di­rekt in die zwei­te Klas­se des Gym­na­si­ums ein­ge­schult wor­den. Wenn auch we­der The­resa noch Ma­xi­mi­li­an von Oss­ten Zeit fan­den, sich um ih­re Nich­te zu küm­mern, so sorg­ten sie im­mer­hin für ei­ne an­ge­mes­se­ne Er­zie­hung. Die Ein­zi­ge, die sich mit Ama­lia be­schäf­tig­te, war Ma­ria. Auch wenn die al­te Da­me das, in Ma­da­mes Au­gen, zu den un­ge­eig­nets­ten Zei­ten tat. Es war nach zwei­und­zwan­zig Uhr, als das Mäd­chen aus dem Flü­gel des Hau­ses trat, in dem Ma­ria leb­te. Ama­lia sah glü­ck­lich aus, wenn sie von ihr kam.

      »Du hast wun­der­schön ge­spielt«, sag­te Ma­da­me, »aber jetzt wird es wirk­lich Zeit.« Ama­lia nick­te. Sie konn­te nie ein­schla­fen, wenn Kon­stan­tins Be­such be­vor­stand.

      Kon­stan­tin hat­te ihr das Le­sen bei­ge­bracht, sich Ge­schich­ten für sie aus­ge­dacht und ihr die Angst vor den Pfer­den ge­nom­men. Auf sei­nen Schul­tern hat­te er sie durch den Stall ge­tra­gen und sie je­dem ein­zel­nen Pferd vor­ge­stellt.

      »Das ist Xer­xes, sag gu­ten Tag, streich­le sei­ne Samt­na­se. Das ist Ram­ses, schau dir an, wie sein dunk­les Fell glänzt. Leg das Zu­cker­stück auf dei­ne Hand und hal­te es Sam­son hin.«

      Sie spür­te den wei­chen, war­men Samt der Nüs­tern auf ih­rer Hand­flä­che. So ging er mit ihr durch die Stall­gas­sen. Auf sei­nen Schul­tern fühl­te sie sich si­cher.

      Ei­nes Ta­ges stell­te er sie auf die Fü­ße und sag­te: »Das ist Ce­ne­ren­to­la, sie ge­hört dir.« Da­mals war sie fünf Jah­re alt.

      Sie hob den Kopf und sah ei­nem Po­ny in die sanf­ten Au­gen.

      Aschen­put­tel, dach­te sie. Grau wie Asche.

      Ma­da­me