Katrin Maren Schulz

Rapsgezeiten


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den Strand erkunden. Was wahrscheinlich den ganzen Tag dauern wird, denn er ist zwölf Kilometer lang, und hat fünf verschiedene Badestellen. Bislang ist mir noch nicht einmal klar, welches überhaupt der näheste Weg ans Meer ist. Eigentlich ist mir hier noch überhaupt nichts klar. Kein Ort, kein Strand, kein Weg. Heute soll sich das ändern. Ich will wissen, wo was ist, und einen ersten Eindruck gewinnen, wo es mir gefällt, und wo nicht. Ein Gefühl für den Ort entwickeln.

      Will auch wissen, ob wir zusammen passen überhaupt.

      Ich glaube schon, denke ich, als ich mit dem Fahrrad über den Deich fahre, und unendliches Panorama sich vor mir auftut. Eine Weite bis zum Horizont liegt da vor mir, kilometerlang, kilometerbreit, unverbaut, einfach nur flaches Küstenland, im Besitz der Natur. Der Anblick ergreift mich, tief.

      Ja, denke ich, das mit diesem Ort und mir, das könnte was werden.

      Der Strand ist nicht von überall aus erreichbar, sondern nur über einzelne Zugänge, meistens Stegen aus Holz. Zwischen Deich und Strand liegen die Salzwiesen. Groß wie Felder, sind sie durchzogen von kleinen Wasserläufen, und ab und zu mal einem Holzsteg für Spaziergänger. Je nach Windstärke und Intensität der Gezeiten werden sie bei Flut von der Nordsee überspült.

      Auch das will ich heute kennen lernen: die Gezeiten an der nordfriesischen Küste. Ich kenne sie, von der niederländischen Nordseeküste. Da bewegt sich das Wasser ein paar Meter vor, und wieder zurück. Hier sollen die Gezeiten wesentlich intensiver sein: die Breite des Strandes variiert so um mehrere hundert Meter.

      Der tägliche Blick in den Gezeitenkalender ist unerlässlich hier, wurde mir gesagt. Überlebensnotwendig für den, der sich zu einem ausgedehnten Strandspaziergang aufmacht. Den einen oder anderen Toten soll es schon gegeben haben, in der Wattenlandschaft, denn wer sich bei Ebbe zu weit raus wagt, kann von der Flut überrascht werden. Sie kommt nicht einfach nur von vorne, der Seeseite her. Die Flut schickt auch ihr Wasser über in den Strand hineinreichende Priele gen Land. Und die Priele, wie kleine Flüsse, die können den Rückweg abschneiden.

      Sehe das, am Strand, wie er mal bis zum Horizont zu reichen scheint, von Pfützen durchzogene Weite, fast kein Meer in Sicht, nur das Watt. Wenige Stunden später dann, da rauscht es, bäumt sich auf, kommt herangeschwappt. Dann ist da, wo ich vorher noch ging, das Meer. Bei Ebbe ist von den Prielen fast nichts zu sehen. Wie ausgetrocknete Flussbette liegen sie da. Mit der Flut füllen sie sich, erst langsam, zu kleinen Bächlein, später werden sie breiter, und die Strömung in ihnen stark. So tief und stark oft, dass ein Überqueren nicht möglich ist.

      Diese Gezeiten erschaffen zwei Landschaften in einer, im sechs-Stunden-Rhythmus sich abwechselnd. Ich staune, und bin fasziniert: so viel Unendlichkeit! Der Blick kann schweifen, völlig unabgelenkt. Die Menschen verteilen sich in dieser Endlosigkeit; werden so klein, und wenige, dass ich sie kaum wahrnehme. Der Strand ist lang und breit genug, um jedem seinen Platz zu lassen.

      Ich bin gespannt, was mein Ich anfangen wird mit dieser landschaftlichen Freiheit. Ob sie auf es überschwappen wird?

      Dies scheint genau der richtige Landstrich zu sein, um mich zu sortieren, und zu erden. Der perfekte Kontrast zu meinem Stadtdasein. Nicht nur landschaftlich. Auch auf Grund der Ruhe, die er ausstrahlt. So anders ich dieses Wattenland empfinde, so sehr anders empfinde auch ich mich darin. Wie, weiß ich noch nicht genau. Aber kaum bin ich da, versinke ich schon in dieser Oase der Stille wie ein müder Wanderer in ein riesiges Federbett. Dieses Land scheint zu besänftigen, mit seinen weichen Linien, seiner Ebene. Es vermittelt Geborgenheit.

      Das Watt strahlt Ruhe aus, die auf diejenigen übergeht, die sie suchen. Bitte auch auf mich.

      Tag 2

      Keiner will etwas von mir. Keiner fragt mich wann wir frühstücken, niemand erwartet mich im Büro. Nach nichts und niemandem muss ich mich richten, stelle ich fest, als ich aufwache. Es ist, als sei ich in der totalen Neutralität gelandet: kein Bezug zu irgendetwas, oder irgendjemandem. Außer zu der Landschaft, die mich unglaublich begeistert.

      In dieser Bezugslosigkeit empfinde auch ich mich als neutrale Person: keine Rolle, keine Funktion, kein sozialer Rahmen. Niemand, der etwas will von mir, außer ich selbst.

      Und ich erwarte etwas von mir hier, von mir in dieser Zeit: Antworten und klare Sicht. Antworten darauf, wie mein Leben weitergehen soll, und eine klare Sicht auf das, was es ausmacht.

      Mein Leben in Berlin ist schön, eigentlich. Ein gut bezahlter Job, mit viel Eigenverantwortung und flexibler Zeiteinteilung. Eine traumhafte Dachgeschosswohnung in einem jungen, kreativen Kiez. Eine liebevolle und beständige Beziehung, und ein interessanter, verlässlicher Freundeskreis. Ehrenamt in Arbeitsgruppen zu nachhaltigen Lebensstilen. Alles könnte friedlich und ruhig so weiterlaufen - wenn nicht meine innere Unruhe mir dazwischenreden würde.

      Ist das denn alles? Ist dieses Leben das, das ich mir für mich vorgestellt hatte? Ist dieses Leben eines, das genau so weiterlaufen soll, die nächsten fünf Jahre, die nächsten zehn Jahre, bis zur Rente? Bin ich die, die ich werden wollte, früher mal, als noch alle Wege offen zu stehen schienen?

      Alles wirkt so festgefahren. Ein fest geschnürtes Paket: das Leben von Marielou. Aufreißen mag ich es, und sehen, ob sein Inhalt noch Sinn macht. Es fühlt sich an, als sei ich rausgewachsen aus meinem eigenen Leben. Rausgewachsen wie aus alten Klamotten, die plötzlich zwicken und kneifen und zu eng geworden sind, oder ausgeleiert. Wenn ich sie aber wegtun würde, so einfach, dann wüsste ich nicht, was mich dann umgeben sollte. Als hätte ich meinen eigenen Lebensentwurf überholt, aber noch keinen neuen parat.

      Ich weiß selbst nicht mehr, wer ich bin gerade. Was macht mich aus? Bin ich einfach nur eine Angestellte, in guter Position, mit einem Gehalt, das einen recht angenehmen Lebensstil ermöglicht? Oder bin ich noch jemand ganz anderes?

      Wo ist die, die eigentlich im Norden leben wollte? Schon zu Schulzeiten hatte ich diesen Traum, nachdem ich einige Urlaube mit meinen Eltern in Norddeutschland verbracht hatte. Irgendwo bei Travemünde war das. Einmal waren wir auch hier, in St. Peter-Ording, aber ich war damals noch so jung, dass ich mich heute nicht mehr daran erinnern kann. Zu Schulzeiten habe ich mich immer im Norden lebend gesehen, wenn ich an mich als Erwachsene dachte. In Berlin aber, blieb ich dann hängen. Und sitze nun dort fest. Na ja, es fühlt sich zumindest so an.

      Mit diesen Fragen bin ich hier angereist. Und hier kommen noch weitere dazu, mit denen ich nicht gerechnet hätte. Denn das Umfeld ist ein so ganz anderes, als das, in dem ich mich in Berlin bewege. All die Attribute gelten nicht mehr, die Äußerlichen, die in Berlin zählen. Die ungeschriebenen Dress-Codes der Kieze, mit ihren Ins und Outs, mit ihrer Coolness und ihrem Hip-Sein. Haarfarben, Klamotten, Tattoos: alles egal hier. Und die ungeschriebenen Gesetze des Alltags in der Stadt, die Ellenbogen, die Kodderschnäuzigkeit Berlins: nicht erforderlich hier. Andere Umgangstöne, andere Äußerlichkeiten. Wie bewege und verhalte ich mich darin?

      Im Moment ist es, als seien all meine Funktionen und Definitionen ausgeschaltet. Was bleibt dann übrig, von mir?

      Ich bin hier hergekommen, weil ich einen Ort an der Nordsee suche, der zu einer Heimat werden könnte. Zu einer zweiten, zumindest. Und ich bin hergekommen, um die quirligen vielen Aktivitäten meines Stadtlebens ruhen zu lassen. Um Interaktionen mit anderen schweigen zu lassen. Hier findet die Interaktion mit mir statt. Nur mit und in mir.

      Nur? Mehr als genug.

      Die Sonne blinzelt ab und zu aus dem Wolkenhimmel, an diesem Morgen. Sie lockt mich wieder an den Strand, den Tag verbummeln.

      Das Wetter ist ungewiss. Kein klassisches Badewetter. Alles kommt plötzlich: plötzlich regnet es, plötzlich wärmt die Sonne wieder. Viele gehen einfach spazieren am Strand und werfen sich kurz in die Flut. Mir ist es dafür heute zu kalt.

      Ich lasse mich treiben, von einer warmen Wasserpfütze im Watt zur nächsten. Um mich herum der wohlige Klang eines sanften Meeresrauschens. Er lullt mich ein, als würden seine Klänge meinen Geist tragen wie seine Wellen es mit den Körpern tun. Als wären darin Nixen, die sanfte Melodien summten, rauscht und singt die Nordsee. Je länger ich an diesem Bild festhalte, umso mehr könnte ich schuppige, glänzende Nixenleiber im Wasser erkennen. Ob sie zufrieden sind, mit