Erich Rudolf Biedermann

Wann die Zeiten wehen


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Reise war nicht ungefährlich. Als Freiheitskämpfer hatte er nämlich nach dem Ersten Weltkrieg gegen kommunistische Verbände gekämpft, die in Estland eingefallen waren und scheußliche Verbrechen an der Zivilbevölkerung begangen hatten. Vor allem Esten und Baltendeutsche hatten sich damals in einem Freiheitskampf zusammengefunden und die Invasoren aus dem Land geworfen. Doch seine Bedenken waren unbegründet, Alexander gelangte unbehelligt nach Sankt Petersburg.

      Das Haus seiner Eltern befand sich zwar in einem leidlichen Zustand, doch von Vater und Mutter war keine Spur zu entdecken. Die Wohnräume waren von revolutionären Offizieren belegt, die den Namen der früheren Eigentümer nicht kannten. Niemand wusste von seinen Eltern oder konnte ihm sagen, wo er sie suchen sollte. Auch deren frühere Freunde und Bekannte waren nicht mehr aufzufinden. In ihren Häusern und Wohnungen lebten ebenfalls Unbekannte.

      Zufälligerweise traf Alexander dann doch auf einen entfernten Verwandten seiner Familie, der etwas über das Schicksal seiner Eltern zu berichten wusste. Als Angehörige der besitzenden Klasse hatte man ihnen vorgeworfen, mit den Gegnern der Revolution zu sympathisieren. Diese Anschuldigung kostete sie zwar nicht das Leben, doch sie mussten ihr Haus räumen und wurden in ein Arbeitslager verbracht. Wo und in welches, konnte er nicht sagen.

      Bei den noch im Aufbau befindlichen staatlichen Behörden waren ebenfalls keine Hinweise über den Aufenthaltsort der Eltern zu erhalten. Wenn es überhaupt amtliche Dokumente über ihr Los gegeben haben sollte, waren sie wahrscheinlich in den Wirren der Revolution untergegangen. Wohin er sich auch wandte, stets stieß er auf bedauerndes Achselzucken. Wie es schien, suchte man das Vergangene zu vergessen und es bestand offensichtlich auch wenig Interesse, die oft grausamen Vorkommnisse während der Revolutionszeit erneut ans Tageslicht zu holen.

      Alexanders Eltern blieben verschollen und es war davon auszugehen, dass sie, durch die Strapazen ihrer Internierung erschöpft, inzwischen nicht mehr am Leben waren. Niedergeschlagen machte er sich auf die Heimreise.

      Zuhause wartete eine freudige Überraschung auf ihn: Bereits beim Wiedersehen am Bahnhof flüsterte ihm Galina zu, dass sich erneuter Familienzuwachs angekündigt habe.

      Die Entbindung verlief diesmal schneller und auch Alexander überstand die mit einer Geburt verbundenen Aufregungen besser, als beim ersten Mal.. Zur Freude des Vaters war der Neuankömmling wieder ein kräftiger und gesunder Junge. Im Gegensatz dazu zeigte sich die junge Mutter über das Geschlecht ihres zweiten Kindes enttäuscht. Sie hatte sich so auf eine kleine Eva gefreut und bereits während ihrer Schwangerschaft eine Kollektion hübscher Kleidchen gekauft. Sie schienen nun nutzlos. Nach einigem Überlegen fand Galina jedoch einen Ausweg: Peter, so wurde die verhinderte Tochter getauft, hatte einen Lockenkopf und zeigte sich von Anfang an in den schönsten Mädchenkleidchen.

      „Du kannst den Buben doch nicht in dieser Aufmachung herumlaufen lassen“, mäkelte Alexander, dem das Getue seiner Frau mit der Zeit peinlich wurde.

      Auch Niki war von der Verwandlung des Bruders wenig begeistert. Er hatte sich einen echten Spielkameraden gewünscht und nun lief dieser in Mädchenkleidern herum! Diese frühe Irritation war möglicherweise ein Grund, weshalb es zwischen den Brüdern nie zu einer engen geschwisterlichen Beziehung kam.

      Kapitel 11

      Jahre waren ins Land gegangen und Niki hatte sich zu einem groß gewachsenen, gut aussehenden jungen Mann gemausert, dessen Gymnasialzeit zu Ende ging. Er war gerne zur Schule gegangen und seine schulischen Leistungen waren, von Mathematik abgesehen, durchwegs gut gewesen.

      In seiner Freizeit las er viel und es machte ihm Spaß, Kurzgeschichten zu erfinden und niederzuschreiben. Wenn er aber dann das Ergebnis seiner Bemühungen mit bewunderten literarischen Vorlagen verglich, wurde ihm die eigene Unzulänglichkeit bewusst und seine Versuche landeten regelmäßig im Papierkorb. Alexander und Galina ahnten von dieser Neigung ihres Ältesten nichts. Niki hätte sich auch eher die Zunge abgebissen, als sie ins Vertrauen zu ziehen. Seine ganz persönliche Welt wollte er mit niemandem teilen.

      Neben Estnisch und Englisch, die Pflichtfach waren, lernte er in der Schule auch Russisch. Für seinen Vater war es die Sprache seiner Jugend und auch seine Mutter hatte aus beruflichen Gründen Russisch gesprochen. Um ihn mit dieser Sprache vertraut zu machen, unterhielten sich die Eltern öfters auf Russisch mit ihm. Das ging am Anfang holprig, doch er machte gute Fortschritte.

      Auch in Nikis Fühlen hatte sich ein Wandel vollzogen. Seine Indifferenz gegenüber den Mitschülerinnen war einem bislang unbekannten Interesse für das weibliche Geschlecht gewichen. Einige seiner Klassenkameradinnen fand er inzwischen sogar hübsch und interessant. Von Freundschaft oder Liebe war aber keine Rede und es wäre ihm nicht eingefallen, mit einer Mitschülerin über andere, als schulische Dinge zu plaudern. Seine Zurückhaltung erklärte sich auch daraus, dass die Mädchen einfach die Klügeren waren. Zwar war der Klassenbeste ein Junge, der sich aber gerade deswegen keiner großen Wertschätzung erfreute. Dann aber kam in breiter Phalanx das schönere Geschlecht, das fleißiger war, den Lehrstoff besser meisterte und sich auch mit den Lehrern besser verstand.

      Nikis unbefriedigende Leistungen in Mathematik waren für seinen Vater Anlass zu unnachsichtiger Kritik. Als jemand, der es zu etwas gebracht hatte, glaubte er, dass sich bei angemessenem Fleiß allemal gute Zensuren erzielen ließen. Und das auch in Fächern, die einem weniger lagen. Nikis Lehrerin hatte ihn vor Kurzem zu sich bestellt und auf die unbefriedigenden Leistungen seines Sohnes hingewiesen. Niki und auch seine Mutter mussten sich danach eine harsche Gardinenpredigt anhören. Durch ständigen Ärger werde ihm dafür gedankt, dass er sich für seine Familie abrackere. Galina wäre in schulischen Dingen nicht konsequent genug und würde ihren Sohn zu wenig zur Arbeit anhalten. Alexander konnte sich kaum beruhigen.

      Um Nikis Leistungen in Mathematik zu verbessern, hatte die Klassenlehrerin einen Nachhilfeunterricht angeregt. Der Rat der Pädagogin wurde gerne aufgegriffen und bei der Suche nach einer geeigneten Lehrkraft wurde Galina auch bald fündig: In der weiteren Nachbarschaft wohnte eine neunzehnjährige Abiturientin, die sich gerade auf ihr Studium vorbereitete. Ihre Eltern waren vor einiger Zeit aus beruflichen Gründen umgezogen, und weil sie vor dem Abitur die Schule nicht wechseln wollte, hatte sie sich für eine Übergangszeit eine kleine Wohnung gemietet. Sie war an einem Nebenverdienst interessiert und gerne bereit, Niki Nachhilfeunterricht zu geben.

      Lena, so hieß die junge Dame, war zwar keine Schönheit, doch ihre frische Jugend und vor allem ihr freundliches Wesen machten sie anziehend und beliebt. Jeder mochte sie und auch Galina war von dem entzückenden Geschöpf sehr angetan.

      Niki war von seiner Lehrerin bald begeistert und seine anfänglichen Vorbehalte legten sich rasch. Nie hörte er während des Unterrichts ein ungeduldiges Wort, selbst wenn er sich ungeschickt anstellte. Lena hatte seine Art zu Denken rasch erkannt und erklärte ihm die kompliziertesten Dinge so, dass er sie verstand. Die Nachhilfestunden wurden immer interessanter und gerieten für ihn zu einem intellektuellen Vergnügen. Es dauerte nicht lange, bis Niki seine schulischen Defizite ausglich. Nach einiger Zeit wurde er sogar Klassenbester in Mathematik. Seine Lehrerin war vom Ergebnis des Unterrichts begeistert und selbst sein kritischer Vater konnte sich eines Lobs nicht enthalten.

      Nikis Verhältnis zu seiner jungen Lehrerin entwickelte sich mit jeder Nachhilfestunde ungezwungener. Der 17-Jährige überragte sie um Haupteslänge, und wenn sie nebeneinander am Schreibtisch saßen, musste sie beim Erklären zu ihm aufblicken. Auch Lena gefiel der Umgang mit ihrem Schüler, der sich wohlerzogen benahm und sie, wie sie sehr wohl bemerkte, bewunderte.

      An einem heißen Sommer-Nachmittag erschien Niki wie üblich zum Unterricht. Lena trug ein ausgeschnittenes Chiffonkleid, das um die Taille mit einem Gürtel gerafft war. Sie hatten wie immer Platz genommen und mit der Arbeit begonnen. Doch Niki zeigte sich an diesem Tag abgelenkt und konnte sich kaum auf den behandelten Stoff konzentrieren. Jedes Mal nämlich, wenn sich Lena nach vorne beugte, um in dem vor ihnen liegenden Lehrbuch auf etwas hinzuweisen, klaffte der Ausschnitt ihres Kleides und unter dessen leichten Stoff konnte er ihre nackten Brüste sehen. Und noch etwas erregte ihn: Der Duft ihres Parfüms, der sich mit dem Hauch eines leichten Schweißgeruchs mischte,