Erich Rudolf Biedermann

Wann die Zeiten wehen


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bemerkte natürlich bald, dass mit ihrem Schüler etwas nicht stimmte, und als sie fragend innehielt und er in der kurzen Pause erleichtert zurücklehnte, fiel ihr Blick auf seine leichte Flanellhose, die im vorderen Teil ausgebeult nach oben stand.

      „Was sehe ich da?“, meinte sie, „jetzt verstehe ich, weshalb du so unaufmerksam bist!“

      Niki errötete bis unter die Haarwurzeln. Er sah sich in seinen intimsten Regungen ertappt und blickte verlegen zu Boden.

      „Und wie soll es jetzt weitergehen?“

      Er zuckte die Achseln.

      „Ist es so schlimm?“

      Er nickte, ohne aufzusehen.

      Sie überlegte und meinte dann: „Wenn das so ist, sollten wir etwas dagegen tun“, stand auf, nahm Niki bei der Hand und führte ihn zu einer geblümten Couch, die an der gegenüberliegenden Wand des Zimmerchens stand.

      Kaum hatte er sich neben ihr niedergelassen, zog sie mit einem schnellen Griff seinen Hosenbund nach vorne. Sein Glied stand noch immer aufgerichtet.

      „Einmal muss es ja sein“, meinte sie und streifte die Träger ihres Kleides von den Schultern.

      Niki verkrampfte, als er ihren nackten Busen sah.

      „Komm“, flüsterte sie und versuchte ihn an sich zu ziehen.

      Doch er saß wie versteinert und wagte sich nicht zu rühren.

      „Komm´ nur“, forderte sie ihn erneut auf und legte seine Hand auf ihre Brust.

      Zögernd begann er, ihre Brüste zu streicheln.

      „Du machst das wie ein richtiger Liebhaber“, ermutigte sie ihn, dann zog sie den Unerfahrenen über sich und half ihm dorthin zu kommen, wo sie ihn haben wollte.

      Niki stürzte von einer Empfindung in die andere. Der Schreibtisch, die Stühle, der Schrank, ja das ganze Zimmerchen schienen sich zu drehen, als er den ersten Rausch der Sinne erlebte.

      Er hatte das erste Mal eine Frau geliebt und — wie ihm Lena versicherte — hatte sich als echter Liebhaber gezeigt. Ein unbändiges Gefühl erfasste ihn. Er fühlte sich als gestandener Mann, und in seiner Hochstimmung glaubte er, dass sich an diesem wundervollen Zustand nie etwas ändern würde.

      Während der folgenden Tage war Niki in Gedanken ständig bei Lena und voller Ungeduld fieberte er dem nächsten Nachhilfeunterricht entgegen.

      Lena empfing ihn wie gewohnt und wollte ohne Umschweife mit dem Unterricht beginnen. Doch damit klappte es nicht mehr wie früher. Er konnte seine Hände nicht im Zaum halten und in seiner Hose begann es sich sofort wieder zu regen. Lena versuchte es zwar noch eine Weile mit Mathematik, doch es war vergebliche Liebesmüh’. Auch sie war abgelenkt und hatte nicht die Kraft, seinem Drängen zu widerstehen. Wieder landeten sie auf der geblümten Couch und diesmal war er der Aktive, der ihre Hilfe nicht mehr in Anspruch nehmen musste.

      Am Morgen des folgenden Tages läutete es im Hause Bisdorff. Lena stand vor der Tür. Verlegen teilte sie Galina mit, dass sie Nikis Unterricht nicht mehr fortführen könne. Ihre Mutter sei erkrankt und bedürfe der Pflege; sie müsse deshalb umgehend abreisen. Sie bedauere diese Entscheidung, denn die Arbeit mit Niki habe ihr viel Freude bereitet. Galina fiel aus allen Wolken, doch Lenas Weggang war nicht zu ändern. Bekümmert wünschte sie ihr Glück und Erfolg für das weitere Leben.

      Als Niki von Lenas Abreise erfuhr, brach der Himmel über ihn zusammen und er konnte das Gehörte nicht glauben. Seine Geliebte würde ihn verlassen, ohne sich auch nur von ihm zu verabschieden. Warum nur? Er liebte sie doch und hätte sie geheiratet! Der kleine Altersunterschied zwischen ihnen hätte doch nichts bedeutet. Verstört machte er sich auf den Weg zu ihr, doch er fand die Wohnungstür verschlossen. Lena war nicht mehr da und seine erste große Liebe ging bereits zu Ende, bevor sie richtig begonnen hatte. In seinem Kummer und seiner grenzenlosen Enttäuschung war er kaum ansprechbar.

      Um seinen Schmerz zu betäuben, wandte er sich wieder verstärkt seinen alten Hobbys zu. Für seine Insektensammlung fing er auf den umliegenden Feldern und Wiesen Schmetterlinge und Käfer. Auf den seiner Heimatstadt vorgelagerten Inseln stellte er dem Segelfalter nach und auf dem deutschen Friedhof machte er spätabends Jagd auf Nachtfalter. Seine Sammlung war inzwischen auf über 2.000 Exponate angewachsen. Nicht nur seine Klassenkameraden, sondern auch viele Erwachsene kamen, um seine Schätze zu bewundern. Daneben pflückte und trocknete er Beeren für seine Kanarienvögel und Dompfaffen, die er in einer riesigen Voliere hielt. Doch sein Schmerz wurde nur notdürftig übertüncht. Er konnte einfach nicht einsehen, dass Gefühl und Verstand unterschiedliche Dinge sind, die sehr oft unterschiedliche Wege gehen.

      Kapitel 12

      Schon vor seinem Abitur, das er mit einer ordentlichen Note bestand, war sich Niki auch über seinen späteren Beruf klar geworden: Er wollte Medizin studieren und Arzt werden. Die Gebrechen der Menschen zu heilen und den Kranken in ihrer körperlichen und seelischen Not beizustehen, empfand er als seine persönliche Berufung.

      Das ethisch geprägte Berufsbild eines Arztes erschien ihm so hochstehend und erhaben, dass er die Wahl eines anderen Berufes gar nicht in Betracht zog.

      Kapitel 13

      Auch in Estland war nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland eine Jugendorganisation gegründet worden, die sich an dem Vorbild der Hitlerjugend orientierte. Ihre Mitglieder trugen zwar keine braunen, sondern grüne Hemden, die ideologische Ausrichtung war aber die gleiche. Durch Disziplin und sportliche Ertüchtigung sollten sich die baltendeutschen Jugendlichen, ähnlich wie ihre Altersgenossen in Deutschland, auf ein martialisch geprägtes Leben vorbereiten. Auf gut organisierten Fahrten und an romantisch lodernden Lagerfeuern suchte man die jungen Menschen von der nationalsozialistischen Ideologie und ihren rassistischen Vorurteilen zu begeistern.

      Auch in Nikis Klasse hatten sich viele Mitschüler dieser Jugendorganisation angeschlossen. Die Saat der Nazi-Agitatoren war auf fruchtbaren Boden gefallen. Die meisten hatten sich weltanschaulich bereits so festgelegt, dass es wenig Sinn machte, mit ihnen über Politik zu diskutieren. Nach ihrer Überzeugung beruhten die gegenwärtigen Probleme Europas auf dem Unrecht des Versailler Vertrages und den Verbrechen der Juden. Nur Hitler und die Nationalsozialisten wären Willens und in der Lage, die politischen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Kontinents zu lösen. Wenn es zum Krieg käme, trügen Franzosen und Engländer die Hauptschuld, die bereits durch die Versklavung der Menschen in ihren Kolonialreichen eine große moralische Schuld auf sich geladen hätten.

      Niki erschien dieses Denken zu vordergründig und banal. Keiner dieser Gutgläubigen wusste doch, was letztlich die Ziele der Machthaber in Berlin waren. Dem Volk und selbst unbedarften Parteigenossen wurde doch nur mitgeteilt, was die politische Führung für opportun hielt.

      Viele Mitschüler entrüsteten sich über Nikis kritisches Denken und warfen ihm vor, die Probleme der Zeit nicht erkennen zu wollen. Doch er beharrte auf seinem Standpunkt und lehnte es weiterhin ab, der am Nationalsozialismus orientierten Jugendbewegung beizutreten. Auch die propagandistisch aufgezogene Erntehilfe für die deutsch-baltischen Großgrundbesitzer sah er als politische Bauernfängerei und lehnte es deshalb ab, bei den propagierten gemeinsamen Erntearbeiten mitzumachen. Dabei konnte ihn auch der Vorwurf, dass er sich damit außerhalb der baltendeutschen Solidargemeinschaft stelle, nicht umstimmen.

      In seiner kritischen Haltung sah er sich zusätzlich bestärkt, als die wenigen jüdischen Schüler seiner Klasse, ein Jahr vor dem Abitur, die deutsche Schule verlassen mussten. Nie hatte es Probleme wegen ihres Glaubens oder ihrer Rasse gegeben. Auch der mit ihm befreundete Sohn einer russischen Kantonistenfamilie hatte sich unter den Verfemten befunden.

      Kapitel 14

      Wie immer versuchte ein großer, mächtiger und schön geschmückter Christbaum weihnachtliche Stimmung im Hause Bisdorff zu verbreiten.