Sophie Lamé

Frühling im Oktober


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auch noch nach Farben geordnet, dachte Helen und zog die Augenbrauen ein wenig nach oben. Schon wollte sie an ihm vorbei in den Fahrstuhl schlüpfen, doch ihr Kollege aus der PR-Abteilung, der immer ein kleines bisschen zu braun war, hatte andere Pläne. „Wie war dein Wochenende, meine Schöne, hattest du Spaß?“, begann er das Gespräch. Wie sie das hasste, wenn er das zu ihr sagte. Meine Schöne, äffte sie ihn lautlos nach, als er seinen stets leicht arroganten Blick an ihr vorbei zum Empfang und damit zu Isabell schweifen ließ. Bestimmt sagte er das zu allen weiblichen Wesen, die ihm über den Weg liefen. Wahrscheinlich war nicht einmal seine keifende, 85-jährige Nachbarin vor seinem ewig grinsenden Charme sicher. Aber es gab wahrlich Schlimmeres. Kaum hatte sie ihre Lippen geöffnet, um zu einer Antwort auf seine Frage anzusetzen, prasselte auch schon ein Hagelsturm von Worten auf sie nieder. Sie machte ihren Mund wieder zu und obwohl sie sich bemühte, nicht hinzuhören, flatterten Wortfetzen in ihren Gehörgang und gelangten irgendwie bis zum Gehirn.

      „Wunderschön, traumhaft, erst frühstücken gewesen im Lumen, herrliche Cabriotour, Candlelight-Dinner, Champagner, Nachtisch mit allem drum und dran im Bett.“

      „Hoppla!“ Helen horchte auf. Andi war bei den intimen Details angelangt und das war nichts, was sie an einem Montagmorgen ertragen konnte. An einem Dienstagmorgen übrigens ebenso wenig. Eigentlich nie, dachte sie grimmig und machte sich innerlich bereit, die Erzählorgie ihres Kollegen zu unterbrechen.

      „Du, sorry, aber ich habe gleich einen Termin“, hauchte sie ihm mit einem entschuldigenden Lächeln entgegen. „Hab noch einen schönen Tag und bis demnächst.“

      Sie machte einige Schritte nach rechts und schlug mit der flachen Hand energisch auf den “Aufzug kommt“-Knopf. Als die Türen sich auseinander schoben und den Blick auf ihr eigenes Spiegelbild freigaben, hatte Andi schon sein nächstes Opfer entdeckt und eilte mit einem säuselnden „Guten Morgen, meine Schöne“ auf die Kollegin aus dem Controlling zu, die erst seit ein paar Wochen im Unternehmen war. Mögen deine Ohren noch nicht ganz wach und deine Nerven stark sein, wünschte Helen der Neuen im Geiste. Sie trat in die Kabine und atmete erleichtert auf, als der Aufzug sich mit einem kaum merklichen Zittern in Bewegung setzte.

      „Du musst nach Paris!“, schmetterte Helens Chef ihr auf dem Flur des 3. Stockes, Abteilung Marketing und PR, entgegen. Wie festgewachsen stand er dort und sein erwartungsvoller Blick war fest auf sie gerichtet. Er strahlte über sein pausbäckiges Gesicht und sah ein bisschen aus wie der Nikolaus, der sich schon darauf freut, seine Geschenke an die braven Kinder zu verteilen.

      „Wer, ich?“ Helen schielte über die eigene Schulter, konnte aber sonst niemanden entdecken.

      „Natürlich du!“, donnerte es ihr entgegen. „Wer sonst spricht in diesem Saftladen hier Französisch und außerdem kennst du dich dort aus, stimmt‘s nicht?“

      „Doch. Schon. Aber…“ Nein, das klang deutlich zu verzagt und kleinlaut. „Das hört sich spannend an“, setzte Helen deshalb etwas lauter hinzu.

      „Dann komm mit in mein Büro, ich erkläre dir, worum es geht.“

      Etwas unsicher folgte sie ihrem Vorgesetzten Joachim Dollinger, genannt Joe, über den langen Flur. Erst vor vier Monaten war er aus München ins Rhein-Main-Gebiet gekommen, um bei La Luna Cosmetics die Leitung des Bereiches Marketing und PR zu übernehmen. Und offensichtlich war er bereits dabei, dem Unternehmen neuen Schwung zu geben. Ein Gewittersturm von Gedanken fegte durch Helens Kopf. Paris, das war ja unfassbar genial! Aber wann? Oh Gott, ihre ungebügelten Blusen! Konnte sie die Sprache überhaupt noch gut genug? Was war das da für ein riesiger Fleck auf dem Teppich? Sollte sie fliegen oder den TGV nehmen? Nahm sie ihre Möbel mit? Hatte ihr Chef beim Laufen immer schon so einen Linksdrall gehabt? Und was sollte sie da eigentlich?

      „Kaffee?“

      Die Frage von Lina, der ein Meter achtzig großen Assistentin ihres Chefs, riss sie aus ihren verworrenen Gedanken.

      „Oh ja, gerne.“ Helen fühlte sich ein wenig betäubt, als sie sich auf den ihr angebotenen Stuhl sinken ließ. Sie mochte Joes Büro, es war so ganz anders als die übrigen Zimmer auf diesem Stockwerk. Es gab keine Werke moderner Künstler an der Wand, sondern ein paar selbstgemalte Bilder seiner siebenjährigen Tochter Marie. Scheinbar wahllos klebten sie auf den weißen Schiebetüren eines Sideboards, das die gesamte Raumlänge einnahm. Die Stühle waren bequem und weit entfernt vom Design der Kreationen aus Chrom und schwarzem Leder, auf denen man so weit nach hinten rutschte, dass man von seinem Gesprächspartner gerade eben noch die Gesichtszüge erkennen konnte. Auf dem Schreibtisch ihres Chefs prangte denn auch keine Designerlampe, sondern ein goldfarbenes Ungetüm mit grünem, rechteckig-gewölbtem Schirm. Nach eigenen Angaben hatte er es auf dem Londoner Portobello Market erstanden und war überzeugt, dass in dessen Lichtschein schon Queen Mum ihre Post gelesen hatte. Helens Blick huschte über die zum Teil bedenklich windschiefen Stapel von Papieren, über Visitenkarten, angeknabberte Bleistifte und diverse Produktfotos. Joe nahm ihr gegenüber Platz, und als sie beide ihre dampfenden Kaffeebecher in Händen hielten und die Süßstofftäfelchen darin versenkten, begann er endlich zu sprechen.

      „Du weißt doch, Helen, die Niederlassung in Paris läuft nicht wie gewünscht. Die Werbung greift nicht richtig und unsere Produkte verkaufen sich nicht so gut wie erwartet. Die Konkurrenz der einheimischen Konzerne ist einfach zu groß.“

      Er verlagerte sein Gewicht und presste kurz die Lippen zusammen. Es folgte eine Pause und nachdem Joachim Dollinger einmal bedächtig durchgeatmet hatte, ging sein bayerisches Temperament mit ihm durch. Er polterte: „Die damischen Franzosen, die damischen, nix kammer ihnen recht machen, nix ist gut genug für den französischen Markt, Herrgott nochamal, wenn das so weitergeht, geht bald gar nix mehr. Mir san kurz davor, den Laden in Frankreich dicht zu machen und wer is wieder schuld, ja wer?“ Joe legte eine weitere Pause ein, um Atem zu schöpfen und schlug wütend mit der flachen Hand auf die Armlehnen seines Sessels.

      „Ich! Ich!“ Er stieß einen kurzen und fast ungläubigen Lacher aus. „Angeblich passt unsere Marketingstrategie nicht zu den Bedürfnissen des französischen Marktes, HA! Herrgott Zeiten, des is wieder typisch. Wir in der Zentrale, ja, mir san wieder die Bösen, wir sind unfähig, richtige Konzepte zu entwickeln, verstehen angeblich unser Geschäft nicht.“

      Helens Chef war inzwischen halb von seinem Stuhl aufgestanden und stützte sich so hart auf dem Schreibtisch ab, dass es aussah, als wolle er sogleich mit einem Sprung drübersetzen. „Da könnt ich narrisch werden. Wer kann unsere Strategie nicht umsetzen, ja wer denn? Die doch, die depperten Kollegen in Paris, die depperten!“

      Den letzten Satz hatte er herausgebrüllt und aus den Augenwinkeln sah Helen, dass die Tür sich einen Spalt geöffnet hatte und Lina einen besorgten Blick ins Büro warf. Schon gut, bedeutete Joe ihr mit einer beruhigenden Geste und setzte sich wieder in seinem Stuhl zurecht. Er räusperte sich kurz, und etwas verlegen ob seines Zornesausbruchs beschrieb er Helen ausführlich und sehr sachlich, was er sich zur Rettung der französischen Niederlassung ausgedacht hatte. Und welche Rolle sie in diesem Plan spielen sollte. Zwei Tassen Kaffee und anderthalb Stunden später war sie bis ins Detail informiert und noch immer etwas benommen: Zum ersten September würde sie nach Paris ziehen. Für mindestens ein Jahr!

      ZWEI

       Nahe Frankfurt am Main. Montag, 27. Juni 2011

      Verflucht, das wäre um ein Haar schiefgegangen. Michael Brinkmann, den seine Freunde Mike nannten, riss erschrocken das Lenkrad nach rechts und steuerte den schwarzen Volvo wieder auf seine Fahrspur. „Konzentrier dich gefälligst“, fauchte er und strich sich wütend die Haare aus der Stirn. Schon den ganzen Morgen war er so durcheinander. Konfus und verworren schwirrten Gedanken durch seinen Kopf und ließen ihn einfach nicht zur Ruhe kommen. Die Landschaft flog an ihm vorbei wie ein Film-Abspann, den man zwar sah, aber dennoch nicht wirklich wahrnahm. Dabei war die Natur um ihn herum schön wie im Bilderbuch. Dunkelgrüne Wiesen zogen sich in sanften Hügeln bis zum Horizont, an dem bereits die ersten Ausläufer des Hochtaunus sichtbar wurden. Hätte er ein wenig genauer hingeschaut, er hätte bemerkt, wie intensiv die Farbe der Blätter war, die sich sachte im Wind bewegten und sich dabei von den morgendlichen Sonnenstrahlen