Sophie Lamé

Frühling im Oktober


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zum Leben zu erwecken und Nicola dann davon zu erzählen, als wären sie ganz real und würden jeden Moment aus den Türen kommen oder die Köpfe zu den Fenstern herausstrecken. Es hatte ihn nur einen Blick in die Hofeinfahrt eines der schönen Gründerzeithäuser gekostet, und schon waren die Bewohner vor seinem geistigen Auge erschienen. Er sah ihre Geschichten förmlich vor sich.

      Die alte Dame zum Beispiel, die schon seit ihrer Kindheit in dem Haus mit dem großen schmiedeeisernen Tor wohnte. Früher hatte immer das schwarze Fahrrad ihres Vaters im Hof gestanden. Damit war er jeden Tag zum Depot in der Textorstraße gefahren, um eine von damals fünf Straßenbahnen der Stadt von der Schweizer Straße bis an die Hauptwache und wieder zurück zu lenken. Tag für Tag, Jahr für Jahr. Nach seiner Schicht war er zurück in die Gartenstraße geradelt, hatte den Drahtesel an der immer gleichen Stelle in den Hof an die Wand gelehnt und war in das Haus mit der Nummer 17 eingetreten. Drinnen hatte das Essen schon auf der befeuerten Herdplatte gedampft, und auf dem blank gescheuerten Holztisch standen die Teller, Gläser und ein großer Krug mit Wasser bereit. Nur sonntags gab es eine Flasche Bier für ihn. Dann hatte sich die Familie zusammen an den Tisch gesetzt und gegessen. Die kleine Tochter hatte dabei immer aus dem Fenster geschaut und die Vögel beobachtet, die auf der großen Kastanie, die vor dem Haus an der Straße stand, von Ast zu Ast hüpften. Und aus diesem Fenster schaute sie heute noch, 70 Jahre später. Die Vögel waren nicht mehr jene aus den 40er Jahren und auch das Fahrrad stand nicht mehr im Hof. Aber die Kastanie war dieselbe geblieben.

      Mein Gott, wie hatte Nicola ihn für seine spontanen Geschichten bewundert. „Du bist der tollste Geschichtenerzähler, den ich kenne“, hatte sie gelacht und sich an ihn gekuschelt. Vorbei, dachte er. Und vorbei seitdem auch seine sprudelnde Vorstellungskraft. Versiegt wie eine ausgetrocknete Quelle. Oder war das schon viel früher passiert? Irgendwann im Laufe ihrer Beziehung musste es geschehen sein. Die gemeinsamen Spaziergänge waren selten geworden – und wenn sie doch noch einmal zusammen durch die Schweizer Straße in Sachsenhausen liefen, hatten die Häuser ihm nichts mehr zu erzählen. Sie erzählten ihm deshalb nichts, weil er seine Neugier verloren hatte. Und das galt für alle Bereiche seines Lebens und wohl auch für seine Beziehung. Inzwischen hatte er sich eingestanden, dass er es sich zu gemütlich gemacht hatte. Bequem eingerichtet in einem Alltag, den immer weniger Phantasie und immer mehr Routine ausmachte.

      Gestern erst, bei einem Glas Wein in der kleinen Bar im Fuß des Eisernen Steges, hatte er es seinem besten Freund Thomas so erklärt: „Ich war einfach zu glücklich, um zu erkennen, dass mich dieser Zustand irgendwie passiv hat werden lassen. Ich wollte wohl, dass alles so wunderbar bleibt, wollte dieses verliebt schwerelose Gefühl für immer festhalten. Morgens mit einem angenehmen Kribbeln im Bauch aufwachen und den ganzen Tag über von einem Hochgefühl begleitet werden. Ich konnte nicht genug bekommen von dem Schauer, der mich durchlief, wenn ich nur an sie dachte.

      „Sei mir nicht böse, mein Freund, aber du warst ja geradezu abhängig von Nicola!“

      „Abhängig? Was soll das denn jetzt? Ich war doch nicht abhängig. Ich war zum ersten Mal richtig verliebt. Es hatte mich voll erwischt und ich wollte einfach, dass das so bleibt, verstehst du nicht?“

      „Na ja, schon.“ Thomas hatte sich geräuspert und war auf seinem Barhocker in eine bequemere Position gerutscht. „Ihr wart sehr verliebt, das habe ich gesehen, aber von dir ist in dieser Zeit nicht viel übrig geblieben. Du hast dich nur noch und ausschließlich über Nicola definiert. Als hättest du dein “Ich“ irgendwo abgegeben. Da musste es dem Mädel ja irgendwann langweilig werden. Du hast gemacht, was sie wollte, warst begeistert von ihren Ideen, ihren Gedanken. Hast sie bewundert, wenn sie wieder einen genialen Auftrag an Land gezogen hat und davon geschwärmt, wie souverän sie ihre Interviews führt. Dich hast du dabei irgendwie aus den Augen verloren. Am Anfang eurer Beziehung vielleicht nicht, das mag sein, da wolltest du ihr schließlich noch imponieren. Aber irgendwann später hat sich für dich alles nur noch um sie gedreht. Sie war deine Daseinsberechtigung – du selbst kamst in dieser Beziehung gar nicht mehr vor.“

      Mike dachte noch einmal über all das nach, was Thomas ihm gestern gesagt hatte. War er wirklich so abhängig von Nicola gewesen? So verliebt, dass er ganz und gar in ihr aufgegangen war und sich selbst verloren hatte? Wie seltsam, dachte er, ich hatte doch immer das Gefühl, dass diese Liebe mir so viel gibt, so unendlich viel Glück und Zufriedenheit. Hatte sie am Ende etwas in ihm blockiert? Er wünschte sich, mit Nicola noch einmal darüber reden zu können. Nur ein einziges Gespräch, um Dinge zu klären und Missverständnisse aus der Welt zu schaffen. Mit einem heftigen Kopfschütteln scheuchte Mike die Gedanken weg. Nicola war in einen anderen Mann verliebt. Fertig, Ende der Geschichte! Er musste versuchen, nach vorne zu schauen und darauf bauen, dass die Zukunft schöne Erlebnisse für ihn bereithielt. „Also los“, machte er sich selbst Mut. „Denk positiv und sei offen für Neues. Alles wird gut!“ Er hatte es laut und deutlich ausgesprochen, aber er spürte, dass er dennoch nicht daran glaubte.

      Inzwischen war er die endlos scheinende Hanauer Landstraße einige Kilometer entlang gefahren und konnte bereits die gläserne Fassade des Verlagshauses erkennen. Er blinkte und lenkte sein Auto vorsichtig auf den Besucherparkplatz des Bürogebäudes. Chrom und Blech, wohin er auch schaute. Das hatte ihm noch gefehlt, dass er keinen Parkplatz fand und zu spät zum Gespräch kam. Herr Wolff, der Redaktionsleiter, wäre sicher begeistert. Ganz am Ende der Parkreihe zu seiner Rechten bewegte sich etwas. Dort fährt jemand raus, freute sich Mike. Er legte den Gang ein und fuhr im Schritttempo seinem Parkplatz entgegen. Allerdings dauerte es noch ein Weilchen, bis er sein Auto abstellen konnte, denn der Fahrer des ausparkenden Autos war offensichtlich nicht besonders geübt und kämpfte abwechselnd mit der Kupplung und den Abmessungen seines Gefährtes. Nach einer gefühlten Ewigkeit hatte er es geschafft und steuerte seinen dunkelgrauen Mondeo mit einem erleichterten Lächeln an Mikes Auto vorbei. Dass sich solche Fahrkünstler aber auch immer die dicksten Wagen zulegen müssen, dachte er, parkte ein, stieg aus und schlug die Autotür zu. Er zupfte noch einmal kurz sein neues Jackett zurecht und machte sich auf den Weg zum Eingang.

      DREI

       Frankfurt am Main. Montag, 27. Juni 2011

      Die Tränen liefen Viviane über‘s Gesicht, als sie den Wohnungsschlüssel aus ihrer überdimensionierten Handtasche fingerte. Ihre hohen Absätze klapperten über die Pflastersteine des Innenhofes, über den sie zu ihrer Wohnung in der Walter-Kolb-Straße, Altbau, 3. Stock, stolperte. Keine Gefahr, dass Chris ihr verheultes und Mascara-verschmiertes Gesicht sah, denn sein nagelneuer Geschäftswagen hatte nicht länger als unbedingt notwendig an der Straße vor der Hofeinfahrt geparkt. Kaum war die Beifahrertür ins Schloss gefallen, hatte er auch schon den Gang eingelegt, Gas gegeben und war auf dem Weg nach Hause, wo er den offensichtlich so langweiligen Abend mit ihr bestimmt schon bald abgehakt haben würde. Sie hastete die Treppe hoch und wie sie bereits befürchtet hatte, kamen ihr schon bald Schritte entgegen. Klar, dachte Viviane, wenn man aussieht, wie durch den Wolf gedreht, mit laufender Nase und geschwollenen Augen, kommt ganz sicher jemand aus den verborgenen Winkeln des Treppenhauses hervor. Aber was soll´s, sagte sie sich, schließlich war es kein attraktiver Nachbar, an dem sie sich mit beschämten Grinsen würde vorbei drücken müssen. Die gab es nämlich nur im Kino, in rosaroten Romanen und ab und zu auch mal im Traum. Einen gutaussehenden Mann, der, frisch getrennt und losgelöst von der Vergangenheit, offen für Neues und mit Persil gereinigter Seele in die Nachbarwohnung einzog. Und sich natürlich unsterblich verliebte, wahlweise mit Rosen, Rotwein und endloser Leidenschaft an der Tür klingelte und nichts anderes wollte, als den Abend mit der neuen Nachbarin, also mit ihr, Viviane Kohler, zu verbringen. Doch ihre Realität war nicht rosa, sondern grau und kam ihr soeben auf dem Treppenabsatz entgegen.

      „Guten Abend Herr Kögel“, nuschelte Viviane zwischen zwei Schluchzern ihrem ungepflegten, ewig hustenden Nachbarn aus dem vierten Stock entgegen. Wie so oft zog in seiner Begleitung ein intensiver Geruch nach Bier durch das gesamte Treppenhaus. Aber er hatte ein freundliches Lächeln, das musste man ihm lassen. Viviane quetschte sich auf den schmalen Treppenstufen an ihm vorbei und trotz ihres Kummers legte sich unwillkürlich ein Schmunzeln auf ihr Gesicht. „Schluss jetzt mit dem Selbstmitleid“, sagt sie leise und stolperte die letzten Stufen bis zu ihrem Apartment hinauf. Sie schloss auf, trat in den dunklen Flur und gab der Wohnungstür