Sophie Lamé

Frühling im Oktober


Скачать книгу

schienen. Reiß dich zusammen, befahl ihm eine innere Stimme und er nahm all seine Kraft zusammen, fasste die Hand seiner Freundin und grinste sie herausfordernd an: „Na dann schauen wir mal, ob dein Schulfranzösisch dafür noch ausreicht.“

      Ein paar Minuten später löste Karin sich aus dem Menschenpulk an der Spitze der Schlange, die sich am Fahrkartenschalter gebildet hatte, und winkte ihm schon von weitem mit den Tickets zu. „Es kann losgehen“, lachte sie, „und ich habe uns auch gleich einen Metroplan mitgebracht.“

      Sie faltete ein kleines Stück Papier auseinander. „Schau doch nur, das ist ja niedlich“, sagte sie und bemühte sich, die kleinen Linien und Stationen, die auf dem Miniaturplan verzeichnet waren, zu entziffern. „Siehst du, hier müssen wir hin.“ Ihr in einem hellen Rosé manikürter Fingernagel tippte auf eine kaum zu erkennende Station in der Mitte des Plans. „Und dort“, derselbe Finger schwebte eine Weile über dem Papier, „ist die Endstation der Linie, die wir nehmen müssen. Danach orientieren wir uns, weißt du, sie gibt die Fahrtrichtung an.“

      Klaus ließ sich seine Unruhe nicht anmerken. Entschlossen ergriff er das Billet und schaute nach dem Eingang, der das Bahnhofsareal von den verzweigten unterirdischen Gängen der Pariser Metro trennte. Karin ging voran und er folgte ihr eilig. Er streckte das gelbe Kärtchen dem Uniformierten entgegen, der in einem kleinen Verschlag saß und ihm das Ticket, nachdem er es entwertet hatte, mit einem freundlichen „Bonne journée“ wieder zurückgab. Einige Minuten später saßen Klaus und Karin auf grauen Klappsitzen in der Metro der Linie 5 Richtung Place de l‘Italie und starrten durch die schmutzigen Scheiben der Türen direkt neben ihnen. Draußen flogen die dunklen Wände des Tunnels vorbei und wurden von hell erleuchteten Stationen abgelöst, deren Namen auf großen blauen Schildern in weißer Schrift zu lesen waren. Die unterirdischen Haltestellen kündigten sich schon einige Meter vorher durch anhaltendes Quietschen der stählernen Räder an. Ihr Wagen leerte und füllte sich wieder und schließlich gab ein anhaltender Signalton die Weiterfahrt an. Karin hatte sich tief über den Metroplan gebeugt und verglich die Stationen, an denen sie bereits vorbei gefahren waren, mit der orangefarbenen Linie auf ihrer Karte.

      „Jetzt müssen wir gleich ‘raus, um umzusteigen“, sagte sie und legte eine Hand auf Klaus‘ Oberschenkel. „Siehst du, Station Oberkampf, da müssen wir aussteigen.“

      Klaus hatte seine Augen auf das Gewirr von farbigen Linien gerichtet, das oberhalb der Metrotüren den Verlauf ihrer Fahrt anzeigte und versuchte zu erkennen, wo sie sich gerade befanden, als Karin ruckartig von ihrem Sitz aufstand. Er schnellte nach oben und schlug mit einem lauten Krachen an die Wand. Als würde sie tagtäglich nichts anderes tun als mit der Metro zu fahren, legte Karin ihre rechte Hand an den Metallhebel, der die beiden Metrotüren verband und drückte ihn nach oben. Die Türen glitten zur Seite und gaben den Blick auf eine recht verlassene Station frei. Nur wenige Menschen waren mit ihnen ausgestiegen und etwas zögerlich blieben sie stehen und sahen sich um.

      „Dort drüben steht Sortie“, rief Karin in den Lärm des abfahrenden Zuges hinein. „Das ist der Ausgang, dort müssen wir nicht hin, wir brauchen das Schild Correspondances.“ Sie schulterte ihre Tasche und Klaus beeilte sich, das Gepäck ordentlich zu fassen zu bekommen, damit er mit seiner Freundin Schritt halten konnte. Nebeneinander liefen sie den Bahnsteig entlang, bis es über ein paar Treppenstufen in einen weiteren, hell gefliesten Tunnel ging. Hier gab es schon deutlich mehr Menschen und Klaus war froh, als schließlich eine Rolltreppe in Sicht kam. Ist die steil, dachte Klaus und war erleichtert, dass er diese Steigung nicht über Treppenstufen bewältigen musste.

      „Hier müssen wir doch hoch, oder?“ Er schaute sich nach Karin um, die einige Schritte entfernt ein an der Wand angebrachtes Schild studierte.

      „Nein, Klaus“, rief sie ihm zu, „hier geht es entlang.“ Schon war sie hinter der nächsten Biegung verschwunden und er packte das Gepäck fester, um seiner Freundin durch die Menschenmenge hindurch zu folgen. Als er sie fast eingeholt hatte, sah er eine reichlich zerlumpt aussehende Gestalt, die Karin angerempelt zu haben schien und sich irgendwie an sie klammerte. Er zögerte und fühlte leichte Panik in sich aufsteigen. Aber er konnte doch nicht stehenbleiben wie ein alter Angsthase, ermahnte er sich, und beschleunigte seine Schritte. Als er näher kam, hörte er noch das genuschelte „Pardon“ des Mannes, der gleich darauf im Gewühl verschwunden war.

      „Karin“, rief Klaus, kaum dass er sie erreicht hatte, „ist alles in Ordnung?“

      Karin stand der Schreck noch ins Gesicht geschrieben, aber sie fand schnell wieder zu ihrer guten Laune zurück. „Keine Sorge, es ist überhaupt nichts passiert. Der Idiot ist direkt in mich ‘reingelaufen“, lachte sie und rückte den Riemen ihrer Handtasche zurecht, der ihr bei dem Zusammenstoß von der Schulter gerutscht war. „Und dann ist er gestolpert und hat sich an mir festgekrallt, damit er nicht hinfällt, der arme Kerl.“ Sie grinste. „Was erlebt man nicht alles hier in der Pariser Unterwelt.“

      Klaus war nicht zum Lachen zumute. Das fängt ja gut an, dachte er grimmig. Er hatte sich wirklich vorgenommen, offen zu sein und dieser Stadt eine Chance zu geben. Aber mehr denn je erschien sie ihm abweisend, schmutzig und vor allem gefährlich. Am liebsten wäre er sofort in den nächsten Zug nach Hause gestiegen.

      Die kurze Strecke bis zu ihrer endgültigen Haltestelle verlief ohne Zwischenfälle und nachdem Karin vergeblich versucht hatte, Klaus ein wenig aufzuheitern, hatte sie es irgendwann aufgegeben. Als die Lichter der Station Voltaire in Sicht kamen, erhob sie sich von ihrem Sitz. „Hier müssen wir aussteigen, Klaus.“

      Sie liefen nebeneinander den Bahnsteig entlang und erreichten schließlich eine lange Treppe, die ins Freie führte. Karin war wieder einmal voraus gelaufen und sah als erste den blaugrauen Pariser Himmel. Klaus schleppte das Gepäck schnaufend nach oben, und Stück für Stück schoben sich blühende Baumkronen, dann die dazugehörigen Stämme und schließlich alte Häuserfassaden mit geschwungenen Balkongittern in sein Blickfeld. Oben angekommen, atmete er einmal tief durch und schaute sich um. Er stand zum ersten Mal in seinem Leben auf einem Pariser Boulevard.

      „Ist das herrlich“, rief Karin aus und wandte sich zu Klaus um, „oder nicht?“

      Er nickte nur und blickte die Straße entlang. Das sollte nun also das vielgepriesene Paris sein, dachte er. Er sah vor allem verdreckte Bürgersteige und alte Häuser, die dringend einmal wieder einen Anstrich nötig gehabt hätten. Das Trottoir war voll von Menschen und auf der Straße präsentierte sich ein wildes Durcheinander von hupenden Autos und Kleintransportern. Die beiden liefen den Boulevard Voltaire einige Meter entlang, bis Karin vor einem kleinen, baumbestandenen Carrée stehenblieb, um den Stadtplan aus ihrer Jackentasche zu ziehen.

      „Irgendwo hier muss doch die Rue Sedaine beginnen“, murmelte sie und vertiefte sich in das zerknitterte Papier. Klaus setzte das Gepäck ab und blickte um sich. Er musste zugeben, dass dieser Ort ihm eigentlich ganz gut gefiel. Der Platz war an seiner längsten Seite von sechsstöckigen Häusern gesäumt, deren Fassaden in einer Farbpalette von hellbeige bis schmutziggrau variierten. Besonders auffällig fand Klaus die bodentiefen Fenster, die etwa zu einem Drittel mit einem wunderschönen schwarzen Geländer versehen waren. Im Erdgeschoss der Häuser gab es kleine Cafés, die einen Teil ihrer Einrichtung offensichtlich nach draußen verlagert hatten, denn Tische und Stühle standen in fast ordentlichen Reihen auf dem Bürgersteig. Die Stühle waren allesamt so ausgerichtet, dass jeder, der sich darauf niederließ, seinen Blick auf die Straße und die Geschehnisse auf dem Platz richten konnte. Und damit auch auf den Zeitungskiosk, der nicht weit vom Eingang der Metrostation zu sehen war. Allerdings keine schäbige graue Bude, wie er sie aus Frankfurt kannte. Nein. Was Klaus hier sah, war ein kleines Kunstwerk. Das gusseiserne Material war in einem dunklen Grünton gehalten und dort, wo das Dach begann, zog sich eine Verzierung – ähnlich wie der Abschluss eines hochherrschaftlichen Gartentores – rundherum. Damit nicht genug, thronte obenauf eine mit gusseisernen Schindeln verzierte Kuppel. Tageszeitungen und Magazine stapelten sich zu beiden Seiten des Verkaufstresens und luden zum Stöbern – und unter den strengen Blicken des Zeitungsverkäufers, der im hinteren Teil des kleinen Gebäudes schemenhaft im Halbdunkel auszumachen war – gewiss auch zum Kaufen ein. Nicht weit davon stand eine braune, abgewetzte Bank unter einem blühenden Lindenbaum, gleichsam als Einladung, sich hier zum