Sophie Lamé

Frühling im Oktober


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dass dieser Typ gar nicht zu ihr passte. Was sollte sie schließlich mit einem Angeber, der den ganzen Abend nur von seinen sportlichen Erfolgen im Amateurfußball berichtete? Applaus, Applaus! Und dennoch war sie enttäuscht gewesen, weil er sich nicht Hals über Kopf in sie verliebt hatte. Auf einmal sah sie alles ganz klar vor sich, hier in der Dunkelheit ihres Schlafzimmers. Viviane, sagte sie sich, du bist eindeutig zu sehr abhängig von der Bestätigung anderer. Hör auf damit! Sie stopfte das Kopfkissen zurecht. „Es ist nichts verloren“, sprach sie sich selbst Mut zu. „Die große Liebe kommt und sie wird meine Seele berühren, mich glücklich machen.“ Meine Güte, gut dass dich keiner hören kann, dachte Viviane noch und dann war sie auch schon eingeschlafen.

      VIER

       Frankfurt am Main. Montag, 27. Juni 2011

      Das arme Mädchen. Zwar hatte sie schnell den Kopf wieder gesenkt, aber er hatte dennoch ihr tränenverschmiertes Gesicht erkennen können und ihr Schluchzen war noch zu hören, bis sie zwei Stockwerke weiter oben in ihrer Wohnung verschwand. Klaus Kögel zog langsam die Haustür hinter sich zu. Er ging das kurze Stück durch den Hof hinaus auf den von Straßenlampen aus den 50er Jahren beleuchteten Gehweg.

      „N´Abend“, grüßte er den jungen Mann, der gerade die Tür eines Hauses am Ende der Straße aufstieß.

      „Hallo“, erwiderte der Fremde ohne Aufzublicken.

      Besser so, dachte Klaus, ich sehe ja wahrscheinlich auch wieder aus wie der letzte Mensch. Er war sich seiner Wirkung auf seine Umwelt wohl bewusst und dachte sich, dass er wohl genauso abweisend reagieren würde, wenn er sich selbst auf der Straße begegnet wäre. Bei dieser Vorstellung konnte er ein Grinsen nicht unterdrücken, doch schon einige Sekunden später legte sich der für ihn so typische traurige Zug um seinen Mund. Was hatten die letzten zweieinhalb Jahre bloß aus ihm gemacht? Aber nein, es hatte ja schon viel früher begonnen. Wenn er dem Ursprung seiner Traurigkeit nachspüren wollte, dann müsste er viel weiter zurückdenken. In eine Zeit, die angefüllt war mit den Träumen von einer Zukunft als Star-Architekt, mit ganz genauen Vorstellungen davon, wie sein Haus einmal aussehen würde und welche Automarke in der blitzblanken Garage parken sollte. Und mit einer Frau, Karin, die ihm damals wie das berühmte Tüpfelchen auf dem i erschienen war. Er hatte sie in einer Vorlesung an der Universität kennengelernt und er wusste, dass seine Träumereien nun endlich Gestalt annehmen würden.

      Karin war damals gerade erst aus einer kleinen Stadt in Norddeutschland nach Frankfurt gezogen. Nachdem ihre Eltern kurz nacheinander gestorben waren und sie weder Geschwister noch andere Familienangehörige hatte, wollte sie in einer fremden Stadt ganz neu anfangen. Sie hatte ihm das gleich bei ihrem ersten Treffen erzählt, und Klaus hatte sich einem Menschen noch nie so nahe und verbunden gefühlt. Er war bis über beide Ohren verliebt gewesen und gleichzeitig hatte er sich für sie verantwortlich gefühlt. Karin war für ihn wie eine Art Grundstein, die Basis für die Erfüllung all seiner Wünsche. Aber es war ganz anders gekommen. Ja, es war etwas geschehen und das Schlimmste war wohl, dass er nicht einmal wusste, was genau passiert war, damals, 1978, in Paris. Wahrscheinlich hatten ihn die Ereignisse deshalb nie losgelassen, weil das Ende der Geschichte fehlte. Ausgang ungewiss, dachte Klaus und zog den Reißverschluss seiner Jacke ein wenig weiter nach oben. In den ersten Wochen und Monaten nach Karins Verschwinden hatte sein Gehirn unablässig die Erinnerung neu sortiert. Es erfand mögliche und unmögliche Szenarien, baute komplexe Geschichten, ersann die abenteuerlichsten Begebenheiten, nur um kurz darauf alles zu verwerfen und auf eine einfache Erkenntnis zu reduzieren. Er war mit seiner Freundin in die Stadt der Liebe gefahren und ohne sie zurückgekehrt. So grausam einfach war das. Sein panischer Aktionismus bei dem Versuch, Karin zu finden, war einer bleiernen Stille gewichen. Er hatte sich zurückgezogen, kaum noch Kontakt zur Außenwelt gehabt. Seine Geschichte ging niemanden etwas an, er hatte nicht darüber reden wollen. Mit seinen Freunden, ja, das schon. Am Anfang. Doch irgendwann hatten auch die resigniert. Du willst dir ja nicht helfen lassen, Klaus, hatten sie gesagt. Und ermüdet von seinen ewig gleichen Reden hatten sie sich schließlich abgewendet. Auch die ursprüngliche Anteilnahme der Polizei hatte sich gewandelt und war einem mitleidigen, mitunter gar genervten Blick der Beamten gewichen, sobald er im Hauptkommissariat Frankfurt aufgetaucht war. Wenn er daran dachte, stieg heute noch ein Gefühl aus Scham und Verzweiflung in ihm auf. Er versuchte, den Gedanken zu vertreiben und strich sich mit zittriger Hand eine Haarsträhne zurück.

      Irgendwie hatte er es geschafft, sein Studium zu beenden. Mit verbissenem Ehrgeiz hatte er sich in die Arbeitssuche gestürzt und schließlich eine Anstellung als Junior-Projektleiter in einem Architekturbüro ergattert. Das Berufsleben verlangte Klaus viel Kraft und Energie ab. Er ging ganz in seiner Aufgabe auf und die Wucht seines neuen Lebens drängte die Geschehnisse in Paris eine Weile lang in den Hintergrund. Und dann kam Brigitta. Mit einer erfrischenden Unbeschwertheit ausgestattet, war sie eines Tages ins Büro spaziert, um sich als neue Kollegin vorzustellen. Im Laufe der Zeit hatte sie, in kleinen Etappen und mit behutsamen Schritten, nach und nach Klaus´ Herz erobert. Schließlich hatte er sich ihr geöffnet und sie weinten gemeinsam über seine furchtbare Geschichte. Und als irgendwann die Pariser Polizeibehörde die knappe Nachricht schickte, dass im Fall der vermissten Karin Reinhardt aus Mangel an Hinweisen die Akte endgültig geschlossen werden sollte, war es Brigitta gewesen, die ihm Trost gegeben hatte. Sie hatten geheiratet und einen Sohn bekommen. Als dann noch in dem schönen Altbau, in dem Klaus seine Studentenbude bewohnt hatte, eine größere Wohnung frei geworden war, hatten sie zugegriffen. Das Leben war ohne große Höhen und Tiefen jeden Tag aufs Neue weitergegangen. Das Glück war doch noch zu ihm gekommen. Zumindest hatte Klaus diese Zeit so wahrgenommen und er war ganz sicher gewesen, sein Leben wieder im Griff zu haben. Nach allem, was passiert war. Aber dann, vor zweieinhalb Jahren, war seine Frau gestorben. Ihr gemeinsamer Sohn Oliver war zur Beerdigung aus Kanada angereist, wo er seit einigen Jahren lebte. Sie hatten viel geredet. Über die Zukunft und über die Vergangenheit. Irgendwann während dieser langen Gespräche musste es wohl passiert sein: Die dicke und undurchdringliche Masse, mit der Klaus Teile seiner Vergangenheit bedeckt hatte, begann sich zu bewegen, weil es unter ihr rumorte. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie schließlich Risse bekam und aufbrach. Und alles, was lange verdrängt und längst vergessen schien, hatte sich aufs Neue einen Weg an die Oberfläche gebahnt. Seither stritten die Stimmen in seinem Kopf wieder: „Karin ist tot, Klaus, tot. Aber nein, Klaus, hätte man ihre Leiche dann nicht gefunden? Sie lebt, es kann nicht anders sein, sie lebt!“

      Nie schienen diese verdammten Stimmen zur Ruhe kommen zu wollen. Sie hatten aus ihm den Mann gemacht, der er heute war.

      Eine leere Plastiktüte wurde von einem stürmischer werdenden Wind über den Bürgersteig geweht und blieb an Klaus´ Hosenbein hängen. Verwirrt schaute er auf – wie aus einer kurzen Ohnmacht erwacht. Er hatte gar nicht gemerkt, wie weit er schon gelaufen war. Völlig in Gedanken versunken war ihm nicht einmal aufgefallen, dass es zu regnen begonnen hatte und nun war sein Mantel durchweicht und die nassen Haare hingen ihm strähnig in die gefurchte Stirn. Er schaute sich um und sah, dass er nicht weit vom Blauen Krug, einer kleinen Eckkneipe in Sachsenhausen, entfernt war. Der Regen war jetzt stärker geworden und er beschleunigte seine Schritte, die auf dem von Nässe glänzenden Kopfsteinpflaster lauter hallten, als es ihm lieb war. Er wich einem Radler aus, der den Bürgersteig dem holprigen Untergrund auf der Gartenstraße vorzog. Als er in die Schweizer Straße einbog, sah er schon von weitem die altmodische Laterne, die mit ihrem sanften Licht die Stufen zur Eingangstür des Blauen Krugs beleuchtete. Kurz darauf stieß Klaus die Tür der Kneipe auf und ein Gemisch aus Essensduft, Musik und lautem Stimmengewirr schlug ihm entgegen. Klaus fühlte sich sofort wieder wohl in der Atmosphäre dieser Apfelweinwirtschaft. Dunkles, grobes Holz dominierte den Raum und die Bar, die aussah, als wäre seit den 50er Jahren nichts daran verändert worden, strahlte eine warme Gemütlichkeit aus. Auf dem Tresen stand eine ganze Armada von Bembeln, Krügen aus Steingut, aus denen der Apfelwein ausgeschenkt wurde. Die Zapfhähne der Binding-Brauerei und Schwarz-Weiß-Fotografien eines längst vergangenen Frankfurt komplettierten das Bild von der guten alten Zeit. Klaus sah sich nach einem freien Platz um und grüßte dabei den Wirt mit einem kurzen Kopfnicken. Der erwiderte den Gruß ohne dabei das blau karierte Handtuch beiseite zu legen, mit dem er gerade ein für die Region typisches „geripptes“ Apfelweinglas trocken rieb. Kaum hatte Klaus an einem kleinen Tisch in