Sophie Lamé

Frühling im Oktober


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dunkelblauen Rock und erinnerte Klaus irgendwie an die „Mama Hesselbach“, eine der Figuren aus der sehr beliebten Spielfilmserie der 50er Jahre. Auch in seiner Jugend waren die Folgen noch oft im Fernsehen ausgestrahlt worden.

      „Guten Abend, de Herr“, sagte Elsa in ihrem hessischen Dialekt und fuhr mit einem Wischlappen über den massiven Holztisch. „Ganz schö stermisch drauße, gelle! Was derfs dann sei? ´N sauer Gespritzde, wie immer?“

      Klaus nickte und bestellte nach kurzer Überlegung auch noch ein Schneegestöber dazu. Er liebte diese leckere, hessische Spezialität, die aus angemachtem und aufgeschlagenem Käse bestand, der mit Gurken und, zumindest hier im Krug, in den Käse gesteckten Salzstangen bestand. Er hatte wieder einmal vergessen, sich etwas zu essen zuzubereiten, und nun machte sein knurrender Magen ihn darauf aufmerksam. Warum auch nicht, dachte Klaus, warum sollte er es vorziehen, in seiner einsamen Küche zu sitzen, die Wand anzustarren und zu grübeln. Außerdem kam er gerne hierher und bemühte sich, gerade nur so viel zu trinken, dass er nicht unangenehm auffiel. Die Sinne beisammenzuhalten, um nicht laut zu werden. Im Stande zu sein, ohne Peinlichkeiten die Rechnung zu bezahlen. Und am Ende geraden Ganges aus der Kneipentür zu gelangen. Das waren seine Prinzipien und bisher hatte er es geschafft, sie zu befolgen. Elsa brachte ihm seinen Apfelwein, und Klaus führte das Glas eilig zum Mund. Er wusste, dass er an manchen Tagen aussah, als hätte er unter der Brücke geschlafen und viel zu oft umwehte ihn eine unverkennbare Alkoholfahne. Trotzdem wurde er im Krug immer korrekt behandelt, und er bedankte sich jedes Mal im Stillen beim Wirt und den Bedienungen, dass sie seine Anstrengungen bemerkten und honorierten. Er war ein Gast wie jeder andere und dachte oft: Wenn ihr wüsstet, wie viel mir das bedeutet. Gedankenverloren blickte er in Richtung Theke und sah, wie Elsa wieder seinen Tisch ansteuerte. Schwungvoll stellte sie den Teller mit dem Käsegericht und einen kleinen Brotkorb neben dem Apfelweinglas ab. „Lass es dir gut schmecken, Klaus!“ Sie nickte ihm freundlich zu und eilte zum Nachbartisch, um die Bestellung aufzunehmen. Klaus nahm eine Scheibe des dunklen, kräftigen Bauernbrotes aus dem kleinen, mit einem rot-weiß karierten Tuch ausgeschlagenen Körbchen und gab einen großen Klecks von dem Schneegestöber darauf. Doch er biss nicht hinein. Und noch während er auf die bernsteinfarbene Flüssigkeit in seinem Glas blickte, senkte er seine Hand wieder hinab und war mit seinen Gedanken mit einem Mal wieder in Paris. Im Mai des Jahres 1978.

       Paris. Donnerstag, 18. Mai 1978

      „Schau doch nur, Klaus, da ist er, dort hinten“, aufgeregt zupfte Karin ihn am Ärmel seines dunkelblauen Seemannspullis. „Der Eiffelturm, ich werde verrückt, ich sehe den Eiffelturm.“ Klaus hievte sich aus seinem unbequemen Sitz, beugte sich über seine Freundin und sah aus dem Zugfenster. Kleine Einfamilienhäuser in tristem Einheitsgrau reihten sich an einer wenig befahrenen Straße aneinander. In einigen Fenstern brannte Licht, ansonsten war nichts zu sehen.

      „Wo siehst du denn hier einen Eiffelturm?“, fragte er, den Blick weiter nach draußen gerichtet.

      „Da hinten, am Horizont, schau doch!“

      Karins Kopf erschien neben ihm und deutete dorthin, wo sich aus hellen Nebelschwaden die ersten Umrisse eines Häusermeeres erkennen ließen. Mit viel Phantasie konnte man die Silhouette des wohl berühmtesten Bauwerkes der Welt erkennen. Klaus nickte fast unmerklich und hielt seinen Blick weiter auf die vorbeiziehende Vorstadt gerichtet. Plötzlich stellte er fest, dass das Bild sich veränderte. Die enge Bebauung wurde lichter und nachdem einen kurzen Moment lang nur Felder zu sehen waren, kamen nun hässliche Hochhäuser in Sicht. Dicht an dicht ragten sie in den grauen Himmel und die dreckigen Fassaden mit ihren blinden Fenstern schauten auf die Gleise hinab wie stumme Beobachter. Nur hie und da durchbrach ein buntes Wäschestück, das auf einem der zahllosen Balkone im Wind flatterte, die düstere Atmosphäre. „Mhm“, machte Klaus, und Karin ließ sich mit einem genervten Seufzer zurück in ihren Sitz fallen.

      „Ich hoffe, deine Laune bessert sich, sobald wir in der Stadt sind“, murmelte sie hinter ihrem Reiseführer hervor und machte es sich wieder auf ihrem Platz bequem. „Ich freue mich schon so sehr auf Paris und du wirst sehen, es wird dir auch gefallen. Ich verspreche es!“

      „Schon gut, es tut mir leid“, presste er hervor und warf einen letzten Blick auf die trostlosen Wohntürme, die scheinbar endlos draußen vorbeizogen. „Du weißt, ich mag keine fremden Städte, schon gar keine, die größer sind als Frankfurt.“ Er drehte sich so, dass er Karin direkt in die Augen blicken konnte. „Es passiert immer soviel Schlimmes in solchen Metropolen. Wir kennen uns nicht aus und ich fühle mich dann einfach unwohl. Was, wenn wir uns verlaufen und in eine gefährliche Gegend geraten?“ Er seufzte und schloss für einen kurzen Moment die Augen. „Ach, ich weiß auch nicht, mir ist irgendwie nicht ganz wohl bei der Sache.“

      Karin sah ihn an und fuhr ihm zärtlich mit der Hand über die blonden Locken. „Sei doch nicht immer so ängstlich, mein Schatz“, flüsterte sie. „Es wird wundervoll werden, das verspreche ich dir. Diese Stadt muss ein Traum sein, die Gebäude, die Prachtstraßen und die herrlichen Plätze!“ Sie richtete sich ein wenig in ihrem Sitz auf und ihre Augen blitzten vor Unternehmungslust. „Wir werden uns unter die Pariser mischen und in kleinen, gemütlichen Bistros auf Stühlen sitzen, die auf den Bürgersteigen stehen, stell dir nur vor!“ Sie lachte aufgeregt. „Man sitzt dort tatsächlich zum Kaffeetrinken und sogar zum Essen auf dem Trottoir!“

      Klaus konnte sich ihrer Fröhlichkeit nicht länger entziehen und schlug sich entschlossen mit beiden Händen auf die Oberschenkel. „Also los, ma chérie, dann lass uns die französische Hauptstadt erobern. Paris, wir kommen!“ Er zog seine lachende Freundin in die Arme und gab ihr einen langen und zärtlichen Kuss. Doch als er sein Kinn auf ihren Kopf legte, schaute er hinaus in den regengrauen Himmel und sein Blick richtete sich beunruhigt und wie in düsterer Vorahnung auf die sich nähernde Stadt.

      „Pardon!“ Mit einer entschuldigenden Kopfbewegung schaute der Herr vor ihm über die Schulter und entfernte sich eiligen Schrittes über den Bahnsteig. Er wechselte den Koffer, mit dem er Klaus gerade einen unbeabsichtigten Schubser versetzt hatte, von der rechten in die linke Hand und hob ihn kurz an, als wolle er neue Kraft schöpfen.

      „Schon gut“, murmelte Klaus und warf einen grimmigen Blick in Richtung des sich entfernenden Rückens. Karin hatte von all dem nichts mitbekommen. Sie lief, getrieben von ihrer überschäumenden Energie und in wilder Vorfreude auf Paris, schon einige Schritte vor ihm und drehte sich nun ungeduldig zu ihm um. „Wo bleibst du denn?“, rief sie ihm von weitem zu und er sah, wie sehr sie strahlte.

      Sie fügt sich ins Bild, als würde sie dazu gehören und hätte niemals irgendwo anders hin gehört als in diese Stadt, schoss es Klaus durch den Kopf. Er rang sich ein kleines Lächeln ab: „Komme ja schon, ich habe hier schließlich ein paar Kilo zu schleppen.“

      Klaus lief den Bahnsteig entlang, im dichten Strom der anderen Fahrgäste, die auf halbem Wege von ihren Lieben begrüßt und umarmt wurden. Erschrocken wich er den ganz in schwarz gekleideten Männern aus, die mit kleinen, rollenden Holzwägen den Zug ansteuerten. Er konnte sich nicht vorwerfen, dass er sich nicht bemüht hatte. Während der ganzen restliche Zugfahrt war er für sie, Karin, seine große Liebe, der abenteuerlustige, positiv denkende und vergnügte Freund gewesen. Fröhlich und unbeschwert. Sie hatten gemeinsam Pläne geschmiedet, wie sie ihre Tage in Paris verbringen wollten und Karin war unruhig und voller Aufregung in ihrem Sitz hin und her gerutscht.

      Und nun, da sie angekommen waren, fühlte sich Klaus, als würde sich ein Schatten über seine Augen legen. Alles schien ein paar Nuancen dunkler zu werden. Die Farben verblassten und die Geräusche des geschäftigen Treibens an der Gare de l‘Est erreichten nur gedämpft seine Ohren. Was ist nur mit mir los? fragte er sich. Warum habe ich nur immer so große Angst? Inzwischen hatte er Karin erreicht. Sie stand inmitten der Bahnhofshalle, direkt unter der großen Anzeigentafel, auf der die abfahrenden und ankommenden Züge aufgelistet waren. Gerade war wieder ein Zug abgefahren und die grauen Blättchen mit all den Zahlen und Buchstaben gaben laut klappernd die neuen Informationen frei.

      „Da hinten, siehst du, da geht es zur Metro hinunter.“

      Karin fasste seinen Arm und warf ihm einen schnellen, und wie ihm schien, prüfenden Blick zu. „Komm Klaus“, sagte