Niels Wedemeyer

Laborratten


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lief stolpernd in Richtung Wald. Mit einiger Genugtuung hörte sie ihn schreien. Als er den hohen Bürgersteig erreicht hatte, war sie nur noch wenige Meter entfernt. Ihre Augen waren weit geöffnet, das Gesicht zu einer jubelnden Fratze verzerrt, als der Wagen mit einem gewaltigen Knall schräg gegen den Bordstein krachte. Aber anstatt ihn zu überwinden, schrammte er wie auf unsichtbaren Schienen geführt geräuschvoll an ihm entlang Richtung Abhang. Wie in Zeitlupe sah sie sein dümmlich erstauntes Gesicht, die geweiteten Augen, den offenen Mund, an sich vorbeiziehen, bevor der Wagen mit allen vier Reifen vom Boden abhob. Sie spürte den ungeheuren Druck in ihrem Magen und schaute mit grauenvollem Unverständnis den schnell näher kommenden Abhang hinunter.

      „Es ist Aus. Alles vorbei“, sagte eine fremde Stimme in ihrem Kopf. Mit einer unfassbaren Wucht, die ihr gänzlich die Sinne nahm, setzte der Wagen auf dem steinigen Waldboden auf und nahm erneut Fahrt auf. Sie starrte wie paralysiert auf den mannshohen Findling am Ende des Hangs, während duzende Baumstämme an ihr vorbei zu fliegen schienen. Als der Wagen gegen einen flachen Baumstumpf auffuhr, verlor er erneut die Bodenhaftung, drehte sich zweimal in der Luft, bevor er mit einem fürchterlichen Krachen auf den Findling prallte. Obwohl noch heller Tag, wurde es augenblicklich tiefste Nacht.

      Kapitel 1 – Die Laborratten

      Auf dem Labortisch lag mit offenen Augen friedlich dösend eine ohnmächtige Ratte. Im Unterschied zu normalen Ratten war dieses Exemplar auf geradezu krankhafte Weise hager. Durch das schüttere Fell zeichneten sich deutlich die Rippen ab, die Wangen waren eingefallen und die Augen traten bizarr hervor. Kaum eine Armlänge von der ohnmächtigen Ratte entfernt stand eine Art Miniaturguilloutine, die auf ihren grausigen Einsatz wartete. In dem kleinen Raum, der vorwiegend für die Tötung von Labortieren und deren Präparation benutzt wurde, stand ein groß gewachsener blonder Mann im nicht mehr ganz so weißen Kittel, der das Fläschchen mit dem Betäubungsmittel Isofluran im Lösungsmittelschrank verstaute. Er wollte sich gerade wieder der betäubten Ratte zuwenden, als mit einem weiten Schwung die Tür geöffnet wurde. Herein kam hektischen Schrittes eine kleine ältere Dame mit einer Laborflasche, in der eine milchige Flüssigkeit schwappte.

      „Dr. Weinert, das EDTA will sich nicht lösen“, sagte sie aufgebracht.

      „Das kann nicht, wenn Sie genau nach meiner Vorschrift vorgegangen sind“, antwortete der Wissenschaftler ruhig, während er die Flasche, die er dicht vor seinem Gesicht hin und herschwenkte, mit leicht zugekniffenen Augen betrachtete.

      „Ich habe mich genau an ihre Vorschrift gehalten“, entgegnete sie beleidigt und übergab dem Mann im weißen Kittel einen kleinen Notizblock. Er hatte so seine Zweifel, war seine Technische Assistentin Frau Schrepper doch für ihre Flüchtigkeitsfehler berüchtigt. Ihm entging bei der Durchsicht der Notizen, dass die Hinterbeine der Ratte bedrohlich zu zucken begannen.

      „Da haben wir es“, sagte er mit einiger Genugtuung, „1 Molar statt 0,5 Molar. Sie haben doppelt so viel Salz eingesetzt, wie ich Ihnen gesagt habe. Die Lösung ist längst gesättigt. Diese Menge Salz löst sich nicht in hundert Jahren.“ Als er wegen der wiederholten Unzuverlässigkeit von Frau Schrepper demonstrativ den Kopf schüttelte, nahm er aus den Augenwinkeln war, dass die Ratte taumelnd auf die Beine kam.

      „Tür zu“, schrie er. Doch es war zu spät. Die Ratte wurde vermutlich erst durch seinen Schrei in Panik versetzt und urinierte augenblicklich mit einem bemerkenswerten Strahl, der Weinert mitten auf dem Kittel traf. Noch bevor er sie wild fluchend mit den Händen greifen konnte, sprang sie vom Labortisch. Kreischend ließ Frau Schrepper die Flasche fallen, die mit einem ohrenbetäubenden Knall auf dem Boden explodierte. Die Ratte nutzte den kleinen, noch bestehenden Türspalt, um zu fliehen. Mit einem tadelnden Blick in Richtung Frau Schrepper stürzte Weinert aus dem Labor. Der lange Gang war von kleineren Schränken gesäumt, die einen idealen Unterschlupf für die flüchtige Ratte boten. Auf Knien rutschend nahm er jeden Schrank in Augenschein, während aus einem weiter entfernten Labor ein hünenhafter Mann mit schwarzem Pferdeschwanz kam und sichtlich amüsiert auf Weinert zuging.

      „Nicolas, lass mich raten: Dir ist wieder mal eines deiner `Supermodells´ davongelaufen.“

      „Costas, ich bin wirklich nicht in Stimmung für Deine Scherze. Hilf lieber mit suchen.“

      „Tut mir Leid, Hombre. Aber ich habe noch einiges bis zur Antrittsvorlesung unseres neuen Chefs zu erledigen.“ Weinert kannte den Ekel, den sein griechischer Kollege Costas Padopoulos für sein Forschungsobjekt hegte, und konnte ihm daher sein Verhalten nachsehen. Auch ihn widerten diese Ratten, die an erblich bedingter Magersucht litten, an, aber Forschung ist eben kein Wunschkonzert, wie sein jetzt emeritierter Chef Prof. Dr. Lamprecht immer zu sagen pflegte. Zumindest nicht für einfache Angestellte. Ein dürres Geschöpf huschte gerade über den Gang. Weinert stürzte ihr nach. Ein Blick unter den etwas ramponierten Aktenschrank zeigte ihm, dass sie in der Falle saß, da die Unterseite des Schranks nur nach vorne offen war.

      Und da hockte Weinert mit ausgebreiteten Armen, die sich vorsichtig der zitternden Ratte näherten. Seine größte Sorge war es nun, das zarte Geschöpf gleich beim ersten Zugriff zu zerquetschen. Noch ehe er mit beiden Händen zupacken konnte, biss die Ratte wild um sich. Mit einem markerschütternden Schmerzenschrei wich Weinert zurück und musste mit ansehen, wie die Ratte die Chance zur Flucht nutzte und unter dem Schrank hervor schoss, Richtung Eingang. Vor der Eingangstür, so seine Hoffnung, gab es keine weiteren Unterschlupfmöglichkeiten mehr. Doch es sollte anders kommen. Kaum hatte Weinert krabbelnd den Eingangsbereich erreicht, als sich die Tür öffnete und die Ratte zwischen den Beinen des Ankömmlings verschwand. Weinert, immer noch auf allen Vieren hob den Kopf und erblickte einen kleinen Mann mittleren Alters mit braunem Bart und gewaltiger Nase, der ihn irritiert anschaute.

      „Guten Tag, mein Name ist Professor Traubl, ich bin der neue Institutsdirektor.“

      Warum sich Nicolas Weinert nach dem Abitur für die Biologie entschieden hatte, wusste er selbst nicht mehr so genau. Wenn in ihm überhaupt so etwas wie Leidenschaft steckte, so war es seit frühester Jugend der Modellbau gewesen. Er konnte sich nach wie vor stundenlang in seinem Bastelzimmer, einer umgebauten Abstellkammer, zurückziehen und sich mit dem Zusammenbau von Kreuzfahrtschiffen, Hubschraubern oder nostalgischen Lokomotiven in Miniaturformat beschäftigen. Beim Zusammenkleben und Bemalen seiner Objekte waren ihm alle irdischen Probleme angenehm fern. Ihm kam dabei seine große Stärke zugute, mit unendlicher Geduld sich schier unlösbaren Problemen zu stellen. Vorausgesetzt, die nötige Zeit war vorhanden. Unter Druck brachte er kaum etwas Brauchbares Zustande, was Eltern, Lehrer und Freunde des Öfteren an den Rand der Verzweiflung brachte und ihm, zu Unrecht, den Ruf eines pathologischen Lethargikers einbrachte.

      Als er nun eines Tages den Bescheid für einen Studienplatz der Biologie erhielt, fragte er sich erstaunt, wer diesen eigentlich für ihn beantragt hatte. Er selber konnte sich partout an nichts erinnern. Bis heute besteht er darauf, sich damals für Physik angemeldet zu haben. Er konnte sich zwar wie fast jeder Jugendliche für die Tiersendungen im Fernsehen begeistern, eine besondere Passion für die Erforschung der Natur hatte er aber nicht. Aber wie es nun einmal seinem Naturell entsprach, fügte er sich in sein Schicksal, ohne sich ein einziges Mal über das ihm zugetragene Studium zu beschweren. Das lag auch daran, dass er in der Biologie Tätigkeitsfelder entdeckte, die seiner Modellbau-Leidenschaft schon sehr nahe kamen. Die relativ neue Gen- und Biotechnologie erwies sich als ideale Spielwiese für Technologiebesessene, fern ab der klassischen Suche nach dem Sinn aller Dinge.

      Hier ging es mehr um handwerkliche Fähigkeiten und weniger um alltagsferne Gedankenspiele. Und das war es, was auch Weinert sofort anzog. Nicht, dass er geistig anspruchsvollen Aufgaben nicht gewachsen gewesen wäre, doch wurde seine zurückhaltende und ruhige Art vielfach als verminderte Auffassungsgabe fehl interpretiert. Die, die ihn besser kennen gelernt hatten, wussten sehr wohl um seine sehr ausgeprägten analytischen und strategischen Fähigkeiten. Nur nutzte er diese so gut wie nie zu seinem eigenen Vorteil. Wer weiß, was Nicolas Weinert hätte erreichen können, wäre ihm der Begriff des Ehrgeizes nicht dermaßen fremd gewesen.

      An dieser Stelle sollte erwähnt werden, dass Ehrgeiz allein nicht ausreicht, um in der Wissenschaft Erfolg zu haben. Man konnte zwar bis zum Umfallen arbeiten