Niels Wedemeyer

Laborratten


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nun auf dem vor ihm liegenden Artikel.

      „Dann bis Montag“, rief Weinert mit glockenheller aufgeregter Stimme. Lamprecht ließ zum Abschied noch so etwas wie ein zustimmendes „Mmmh“ verlauten. Beim Verlassen des Büros war sich Weinert nicht sicher, ob er hier nicht vielleicht gerade seine Seele verkauft hatte. Eigenartigerweise fiel ihm in diesem Moment der Roman „Das Totenschiff“ von B. Traven, seinem Lieblingsautor, ein, wo ein Seemann ohne Papiere aus schierer Not auf einem Schiff anheuert, dass zum Abzocken der Versicherung auf ein Riff gesetzt werden sollte. Schnell wischte er den Gedanken daran beiseite. Die Kerze der Hoffnung war, wenn auch schwach, wieder entzündet worden.

      Der alte Zyniker stellte sich wiedererwartend als durchaus menschlich und verständnisvoll heraus. Obwohl weiterhin gewohnt brummig schrie er seine Leute im Gegensatz zu anderen Professoren nicht täglich zusammen und akzeptierte durchaus auch unerfreuliche Ergebnisse. Er pflegte immer zu sagen, dass ihn schlecht gemachte gute Ergebnisse mehr ankotzen würden als gut gemachte unerfreuliche Resultate. „Vergessen Sie niemals, dass ein lebendes Untersuchungsobjekt sehr sehr komplex ist. Man weiß nie genau, welche Versuchsergebnisse auf einen warten. Sehr zum Leidwesen vieler aufstrebender Wissenschaftler in der Fakultät, die es lieber sehen würden, wenn ihre hanebüchenen Theorien sich auf einfache Weise bestätigen ließen“, sagte er und deutete zum Nachdruck mit dem Daumen nach oben zu den Stockwerken seiner Kollegen. Lamprecht kam in den Augen von Weinert dem idealen Chef ziemlich nahe. Er hatte für seine frustrierten Jungwissenschaftler stets ein offenes Ohr und überraschte diese immer wieder mit seinem scheinbar unerschöpflichen Fundus an Wissen. Auch wenn er sich mit den modernen Untersuchungsmethoden kaum auskannte, so waren seine Gedankenspiele für die Experimente oftmals von entscheidender Bedeutung. Zudem organisierte er genug Geld, um den Forschungsbetrieb auch ohne experimentelle Improvisationen, die in anderen Instituten aufgrund von finanzieller Not gängige Praxis waren, am Laufen zu halten.

      „Wir haben genug Geld, um vernünftige Versuche durchzuführen, aber kein Geld, um es sinnlos zu verballern. Auch wenn es Ihnen schwer fällt, sollten sie sich über Sinn und Unsinn der Experimente bereits vor Versuchsbeginn Gedanken machen.“, hatte Lamprecht der Truppe eingeschärft. Das einzige, was Weinert an seinem Chef zu bemängeln hatte, war dessen unglückliches Händchen bei der Vergabe von Promotionsthemen.

      Kurz vor seinem Vorstellungsgespräch hatte Lamprecht auf einem Kongress in Birmingham von einem britischen Kollegen und Freund ein Rattenpärchen geschenkt bekommen. Die Tiere trugen die genetische Veranlagung zur Magersucht, die bis auf minimale Abweichungen in der Symptomatik als vergleichbar mit der menschlichen Erkrankung betrachtet werden kann. Betroffene Ratten waren trotz normaler Nahrungsaufnahme fast bis zum Skelett abgemagert, extrem schreckhaft und wurden meistens nicht älter als 9 Monate. Die Mutation war in der Rattenpopulation spontan aufgetreten. Da der britische Kollege sich selbst ausschließlich mit den Enzymen des Pankreas beschäftigte, dachte er bei der Beobachtung des Phänomens direkt an seinen deutschen Kollegen, der seit über 30 Jahren seinen Schwerpunkt auf Ernährungsstörungen hatte.

      Dummerweise war zwar bekannt, dass es sich um einen genetischen Defekt handelte, nicht aber welche Erbinformation (Gen) hier betroffen war. Alle wissenschaftlich erdenklichen Kandidatengene waren bereits von dem englischen Kollegen ausgeschlossen worden. Eine Aufklärung der genauen Umstände dieser Krankheit bedeutete daher einen gewaltigen experimentellen und zeitlichen Aufwand. In Zehntausenden genetischer Tests, für die man als Doktorand ohne fachkräftige Unterstützung in Person einer Technischen Assistentin ungefähr ein Jahr braucht, musste man nun erst einmal herausfinden, auf welchem Chromosom und in welchem Chromosomenabschnitt das defekte Gen liegt. In der Regel liegen in einer solchen anschließend eingegrenzten Region immer noch 10 bis 100 Gene, die nun ebenso aufwendig auf mögliche Erbschäden durchforstet werden müssen. Wenn man Glück hat, ist der Schaden durch ein Herausbrechen riesiger Chromosomenabschnitte verursacht worden, oder aber wie in Weinerts Fall winzig klein und schwer auffindbar. In jedem Fall ist es eine reine Fleißarbeit. Professor Lamprecht kam daher für diese recht unangenehme Aufgabe der Kandidat Weinert gerade recht. Er wusste aus Erfahrung, dass gerade junge Wissenschaftler mit dunklen Flecken im Lebenslauf üblicherweise ihre zweite Chance beim Schopf packten und zu überdurchschnittlichen Leistungen im Stande waren. Die Aufklärung dieser Mutation stellte sich aber unglücklicherweise als besonders harter Brocken heraus. Weinert musste zu Beginn erst einmal eine Vielzahl ihm unbekannter Techniken erlernen, zum Teil durch monatelange institutsfinanzierte Aufenthalte in England, und baute infolgedessen ein technisches Spezialwissen auf, das Lamprecht bereits nach einem Jahr nicht mehr überblickte. Mit viel Sympathie hörte sich Lamprecht die leidenschaftlichen Berichte Weinerts von irgendwelchen Genomprojekten und neuen technischen Errungenschaften an, ohne ihm fachlich folgen zu können. Er hatte sich nicht in Weinert getäuscht.

      „So Herr Kollege, dann ist es also an der Zeit, den Schlüssel zu übergeben“, sagte Lamprecht und schüttelte dem Besucher die Hand. Er hatte sich bis zuletzt gegen die Berufung dieses Mannes gewehrt, konnte aber nicht verhindern, dass der machtbesessene Dekan seine Vorstellungen bei der Berufungskommission durchsetzen konnte. Lamprechts vormals großer Einfluss in der Fakultät hatte von Jahr zu Jahr abgenommen. Noch vor 10 Jahren brachte er jeden seiner begabten Kandidaten an erstklassigen Instituten unter, heute war auch das nicht mehr möglich. Ihm klangen noch die Worte des Dekans im Ohr, der in der Berufungskommission erklärt hatte, dass ein frischer Wind notwendig war, um das Institut wieder zu altem Ansehen zu bringen. Das hatte gesessen. Dieser Traubl schien in den Augen der restlichen Professorenschaft der geeignete Kandidat zu sein. Jung, durchsetzungsfähig und überaus erfolgreich mit Veröffentlichungen in den weltweit besten Zeitschriften. Aber Lamprecht ahnte, was sich hinter der Maske dieses erfolgreichen Jungwissenschaftlers wirklich verbarg. Selbstsucht, Machtgier und Gnadenlosigkeit. Der Mann würde zweifellos auch auf Kosten seiner Mitarbeiter seinen Weg beschreiten. Lamprecht hatte deshalb vor seiner Emeritierung alle Verträge seiner Mitarbeiter noch einmal maximal auch über seine eigene Zeit hinaus verlängert, was ihm trotz leiser Proteste aus der Verwaltung gelang. Auf diese Weise promovierten alle Doktoranden noch rechtzeitig, teilweise jedoch ohne die wissenschaftliche Aufgabe gänzlich erfüllt zu haben. So wurde auch Weinert, obwohl er die Ursache der Magersucht bei Ratten noch längst nicht aufgeklärt hatte, zu Dr. Weinert.

      „Herr Traubl, dürfte ich Ihnen vielleicht bis zum Beginn ihrer Antrittsvorlesung bei einem kleinen Rundgang ihre zukünftigen Mitarbeiter vorstellen“, fragte Lamprecht gezwungen charmant.

      „Nichts lieber als das, Herr Lamprecht“, sagte der kleine Mann mit dem leichten niederösterreichischem Akzent ebenfalls gekünstelt freundlich.

      Nach seinem Malheur mit der entflohenen Ratte sah Weinert aus, als wäre er in ein Hornissennest gefallen. Hände und Gesicht waren übersäht mit breitflächigen roten Flecken und die Augen waren durch die Schwellung zu kleinen Schlitzen verengt. Die Folgen einer Allergie gegen Ratten, die sich vor einem Jahr entwickelt hatte. Bereits eine kleine Berührung der Tiere reichte aus, um den Rest des Tages zur Hölle zu machen. Die Betreuung (und Tötung) der Tiere fiel eigentlich in den Aufgabenbereich der Tierpflegerin Anna Rottmann, die jedoch aus Prinzip keine Aufgaben für die Jungwissenschaftler übernahm, schon gar nicht von Doktoranden, und sich die Hälfte des Jahres wegen eines angeblichen Rückenleidens krankschreiben ließ (auch Lamprecht konnte sich bei dieser auf unangenehme Art energischen jungen Frau nie entscheidend durchsetzen). So blieb Weinert nichts anderes übrig, als sich wie an diesem Tag in sein Schicksal zu fügen.

      Weinert saß neben Costas an seinem Schreibtisch und kratzte sich unentwegt an der Wange, als Eva Kurz, eine ebenfalls frisch promovierte Kollegin, ins Labor gestürmt kam.

      „Ich weiß nicht, wie ich diese Versuche bis zur Antrittsvorlesung beenden soll“, fluchte sie, ohne bei ihren Kollegen eine Reaktion hervorzurufen, die ihre hektische Arbeitsweise bereits zur Genüge kannten. „Bin ich hier eigentlich die einzige, die malochen muss?“

      „Nein, Eva“, sagte Costas grinsend, „wir teilen uns nur die Zeit besser ein als Du.“

      „Blöde Ignoranten“, rief sie halb im Ernst, als ohne Vorwarnung die Tür aufsprang und Lamprecht gefolgt von dem neuen Institutsdirektor eintrat.

      „Herr Traubl, ich wollte Ihnen drei meiner