Niels Wedemeyer

Laborratten


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ab morgen werde ich diese Weichheiten sicher abgelegt haben.“ Weinert konnte jetzt die Berichte von Sterbenden nachvollziehen, die am Punkt Null ihr Leben haben an sich vorbeiziehen sehen. Er sollte Recht haben mit der Vermutung, dass dies der Anfang einer Vielzahl unangenehmer Vorkommnisse sein würde.

      Die Aufklärung der genetisch bedingten Magersucht bei Ratten zog sich noch weiter hin. Mit Akribie und Präzision, die er jetzt schon allein zu seiner eigenen persönlichen Sicherheit an den Tag legte, schloss er Kandidatengen für Kandidatengen aus, ohne jedoch seinem Ziel der Aufklärung der Krankheit näher gekommen zu sein. Die Zeit drängte. Traubl und Schultheiß-Gottlob machten in jeder Arbeitsgruppensitzung vor versammelter Mannschaft unmissverständlich deutlich, dass man ihm ohne endgültige Aufklärung seinen auslaufenden Vertrag nicht verlängern würde. Aus seinem vormals wegen der von ihm neuartigen Technologie so gefragten Projekt wurde mehr und mehr ein „altes Geschwür am Hintern des Instituts“, wie es Traubl einmal formulierte.

      Weinert wurde zu allem Überdruss noch Frau Schrepper abgezogen, die er nach 5 Jahren endlich so weit geschult hatte, dass sie einfachere Experimente selbständig ohne Beaufsichtigung durchführen konnte. Aber schlimmer noch war für Weinert der Umzug in das Kellerlabor, das über 30 Jahre als Abstellkammer für aus der Mode gekommene oder defekte Geräte gedient hatte. Die meisten davon gehörten Bergius, der gegen den Abtransport zum Elektroschrott für seine Verhältnisse überaus heftig protestierte. Lamprecht ließ sich, nachdem ihm Traubl lediglich ein kleines fensterloses Büro zugestanden hatte, kaum noch blicken und war daher auch keine Hilfe im Kampf gegen die neuen Kräfte. So blieb Weinert nichts anderes übrig, als das Loch, in dem er jetzt saß, so schnell als möglich in ein funktionsfähiges Labor umzurüsten und bei seinem Projekt auf ein Wunder zu hoffen.

      Kapitel 3 - Das Wunder

      Nikolas Weinert starrte angespannt auf seinen Computerbildschirm. Schon seit ungefähr einer halben Stunde, mit offenem Mund und halb zugekniffenen Augen. Er hatte gerade das letzte, noch verbliebene Kandidatengen in einer so genannten Sequenzierung untersucht. Dabei entschüsselt man in mehreren biochemischen Schritten die Erbinformationen eines bestimmten DNA-Abschnitts, z.B. eines Gens. Weinert hoffte wie schon bei den vorangegangenen 47 Kandidatengenen, endlich auf eine Erbveränderung, auch Mutation genannt, zu stoßen. „Wenn Sie auch bei Ihrem letzten verbliebenen Kandidatengen nichts finden sollten, können Sie sofort Ihre Sachen packen und sich nach einem neuen Job umsehen“, hatte ihm Traubl erst letzte Woche unmissverständlich deutlich gemacht.

      Und tatsächlich gab es in diesem Gewirr von zackeligen roten, schwarzen, grünen und gelben Kurven, die mit den Buchstaben A, C, G und T in den gleichen Farben unterlegt waren, eine Abweichung. Die 423. Kurve war eindeutig grün, und zwar ausschließlich bei den erkrankten Ratten. Er schaute sich noch einmal hektisch die gestern erstellten Daten an. Tatsächlich. Gesunde Ratten hatten an der gleichen Stelle eine rote Kurve. Dennoch nagte der Zweifel in ihm. Die letzten Monate hatten sein Selbstbewusstsein auf ein Minimum schrumpfen lassen, so dass er sich jetzt nicht mehr sicher war, ob es sich bei dem vorliegenden Ergebnis nicht um ein Artefakt, also ein nicht reales Ergebnis, handelte. Er wiederholte daher den gesamten Versuch abermals, ohne den anderen im Institut davon zu berichten, und stellte zu seiner Erleichterung fest, dass die Mutation immer noch da war. Zweifelsfrei.

      Das, was nicht mehr für möglich gehalten wurde, war eingetreten. Er hatte die genetische Ursache der Magersucht bei Ratten aufgeklärt. Die Wüste war durchwandert, vor ihm lag ein fruchtbares Tal. Jetzt würde alles gut werden, dachte Weinert, ein Fachartikel in einer Spitzenzeitschrift, eine

      sie mit diesem süßem Dialekt, den er so gern hörte.

      „Ja“, dachte Weinert, „aber die werde ich Dir lieber nicht beichten.“ Seit sie vor drei Jahren in das Vertragsverlängerung und, wesentlich wichtiger, die Rückkehr in sein altes Labor. Er war sich nun sicher, dass das Ergebnis schlussendlich auch Traubl und Schultheiß-Gottlob überzeugen würde. Bislang wusste noch keiner aus dem Institut von diesen Daten. Weinert konnte es daher kaum noch bis zur Arbeitsgruppensitzung in einer Stunde abwarten. Plötzlich klopfte es an der Labortür und Maja Prokowski kam mit Schreibblock und Stift herein. Sie war die junge polnische Technische Assistentin von Costas.

      „Ich sammele gerade Bestellungen für Chemikalien ein. Hast Du irgendwelche Wünsche?“, fragte Institut gekommen war, hatte sich Weinert in sie verliebt. Nicht das sie eine dieser klassischen Schönheiten von den Titelblättern der Modezeitschriften war, aber mit ihrer Fröhlichkeit untermalt von den frechen Grübchen flogen ihr die Sympathien nur so zu. Wenn Weinert es recht bedachte, hatte er sich in jedem Labor, in dem er bisher gearbeitet hatte, immer in eine Mitarbeiterin verliebt. Jedesmal ohne Erfolg. Es schien sich hierbei eindeutig um einen unausweichlichen Automatismus zu handeln. Aber seine Scheu dem anderen Geschlecht gegenüber war derartig groß, dass er nie gewagt hatte, sich Maja zu offenbaren. Ganz im Gegensatz zu Costas, der ihr permanent, wenn auch erfolglos versuchte, Offerten zu machen.

      „Ja, danke, dass Du fragst. Natriumacetat und Chloroform gehen zur Neige.“, sagte Weinert bemüht sachlich. Sie notierte und ging wieder in Richtung Tür.

      „Ach, hättest Du Lust mit mir heute ins Theater zu gehen? Ich habe Karten für ‚Warten auf Godot’, aber meine Freundin ist krank geworden.“ Weinert war wie versteinert.

      „Klar doch. Gerne“, antwortete er mit belegter Stimme. „Dann um Sieben vor dem Theater“, gab sie lächelnd zurück und verließ das Labor. Da waren sie wieder, diese Grübchen. Weinert saß noch 20 Minuten benommen in seinem billigen Bürostuhl und dachte über die unfassbare Schönheit dieses Tages nach.

      Pünktlich um ein Uhr fand die Arbeitsgruppensitzung in der Bibliothek statt. Bis auf Costas, der wie immer zu spät kam, waren alle Institutsangestellten anwesend. An der Kopfseite des Tisches saß Traubl zusammen mit Frau Dr. Schultheiß-Gottlob und befragte die Mitarbeiter im Uhrzeigersinn nach den experimentellen Forschritten der Woche. Diese fassten ihre aktuellen Ergebnisse sowie Neuigkeiten ihrer Literaturrecherchen in 5 Minuten zusammen und warteten anschließend auf das Fazit aus der Chefetage. Traubls Motto war dabei: Kein Tadel ist Lob genug. Dementsprechend kommentierte Traubl fantastische Ergebnisse mit den Worten:

      „Na endlich geht es mal etwas voran. Jetzt aber nicht wieder nachlässig werden.“ Waren die Versuche zwar gut gemacht, die Ergebnisse aber eher belanglos, wurde er meistens etwas gereizter und sagte sinngemäß:

      „Was soll man mit solchen Ergebnissen anfangen? So werden wir der internationalen Konkurrenz nie Paroli bieten können. Wir verschwenden mit dieser Allerweltsforschung nur Zeit und Geld. Ich werde mir das nicht viel länger anschauen.“ Man kann sich leicht ausmalen, wie er reagierte, wenn mal etwas richtig schief ging. Man muss dazu wissen, dass in der Wissenschaft ungefähr 80 % aller Versuche per se nicht das erhoffte Resultat bringen. Bei diesen nicht so zufrieden stellenden Ergebnisse meldete sich dann auch Frau Schultheiß-Gottlob zu Wort, legte mit offensichtlicher Freude noch einmal den Finger tiefer in die Wunde.

      Von allen Institutsmitgliedern nahm sich vor allem Eva die öffentliche Rüge sehr zu Herzen. Sie hatte ihr Arbeitspensum seit dem Wechsel der Führungsetage drastisch erhöht, ohne dass daraus mehr oder bessere Ergebnisse resultierten. Mittlerweile war sie physisch und psychisch an ihrer Belastungsgrenze angekommen und stellte frustriert fest, dass ihre Leistung Traubl und Schultheiß-Gottlob nie genügen würde.

      Eine der ersten Taten von Traubl war der Stopp aller Forschungsprojekte von Bergius aufgrund offensichtlicher Belanglosigkeit, so Traubl. Zwar kosteten diese kleinen, recht altertümlich anmutenden Projekte wenig Geld, worauf Bergius persönlich sehr stolz war, und erbrachten regelmäßige Publikationen in ebenso kleinen wie sehr speziellen Zeitschriften, doch für Traubl war es eine grundsätzliche Imagefrage.

      „Wir haben hier Großes vor. Da werden wir uns nicht mit Kleinkram aufhalten. Das überlassen wir gerne den armen Instituten in unserem Windschatten.“ Bergius konzentrierte sich von nun an, äußerlich gelassen, innerlich jedoch schwer getroffen, auf die Lehrtätigkeit und die Praktika. Traubl ließ früh durchblicken, dass er sich für die Studentenausbildung überhaupt nicht interessierte und übertrug die Lehre vollständig auf den aus der Forschung abgezogenen Bergius. Auf