Niels Wedemeyer

Laborratten


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weiteren Hinweise beschrieben sie erst einmal den aktuellen wissenschaftlichen Hintergrund der Erfindung. Sowohl das normale als auch das defekte Protein wurde beschrieben ebenso wie die möglichen Wirkmechanismen. Anschließend ging man auf die Idee vom künstlichen Schlankmacher ein und beschrieb, wie man dies pharmakologisch erreichen wollte. Selbstverständlich waren diese Experimente noch nie erfolgt. Dennoch mussten sie so beschrieben werden, als ob sie bereits gängige Praxis wären. Und das noch mit Abbildungen, die ebenfalls nur der Fantasie entsprungen waren.

      Abschließend formulierten sie die Patentansprüche. Diese stecken die Anwendungen oder Produkte ab, die den Erfindern patentrechtlich geschützt werden sollten. Dabei ist der erste Anspruch der Hauptanspruch. Im diesem Falle lautete er:

      Verfahren zur Reduzierung des Hungergefühls durch Verabreichung von verändertem Neuropeptid Y.

      In den Folgeansprüchen, die jeweils mit den Worten „Verfahren nach Anspruch X, gekennzeichnet dadurch, dass …“ begannen, wurde dieser sehr breit gefasste Hauptanspruch nun spezifiziert. Es wurden zahlreiche Möglichkeiten der „Verabreichung“ angegeben, etliche Variationen der Herstellung sowie mögliche andere Mutationen des Proteins, die ebenfalls zum gleichen Ergebnis führen würden. Wohlgemerkt, es ging hier nicht um Dinge die bereits möglich waren oder man selbst vorhatte. Hier ging es um den Verfolgungswahn der Erfinder, dass irgendein kluger Kopf daher gehen und das Patent elegant umgehen könnte. Je größer dieser Verfolgungswahn und die Fantasie der Erfinder, desto präziser ist ein Patent formuliert.

      Unsere beiden Jungwissenschaftler gaben sich alle erdenkliche Mühe und kamen auf stattliche 42 Ansprüche (man sollte aber wissen, dass es Patente gibt, die deutlich über 100 Ansprüche aufweisen). Diese wurden von den Chefs nach kurzer Durchsicht abgenickt und dem Patentanwalt verschlüsselt per E-Mail zugeschickt. Für diesen Zweck wurde ein spezielles vom CIA erfolgreich erprobtes Schieffrierprogramm verwendet. Wenn schon paranoid, dann auch bis zur letzten Konsequenz. Einen Tag später bekamen sie Post vom Deutschen Patent- und Markenamt, dass das Patent zur internationalen Anmeldung eingegangen war. Das Protein gehörte von nun an offiziell Ihnen.

      Kapitel 5 - Die Freunde

      Alle Hoffnungen waren zu Nichte. Dem sensationellen Ergebnis war nicht die erhoffte Akzeptanz durch Traubl gefolgt. Er durfte weder sein Exil im Keller verlassen, noch auf eine Vertragsverlängerung hoffen. Aber das, was ihn am meisten traf, war die Tatsache, dass nun andere den wissenschaftlichen Lohn einheimsten, der ihm eigentlich zustand, und er nicht mehr am weiteren voraussichtlich erfolgreichen Werdegang des Projektes beteiligt wurde. Aus der vermeintlichen Altlast war plötzlich eine Goldgrube geworden und die Schürfrechte waren übereignet worden. Maja hatte Recht behalten. Es versetzte ihm jedes Mal einen Stich, wenn er sie im Institut sah. Er sehnte sich so sehr nach ihrem Lächeln, doch sie blieb trotz aller förmlichen Freundlichkeit distanziert. Sie schien ebenso wie er nicht die Geschehnisse vom Theaterabend abschütteln zu können. Weinert war nicht in der Lage, den ersten Schritt auf sie zu zumachen, da dies ein totales Einverständnis seiner Niederlage gewesen wäre. Er hatte Angst, nun vor Maja vollständig das Gesicht zu verlieren. So ging er ihr auch weiterhin aus dem Weg.

      In den nächsten Monaten begann das Institut sein Gesicht zu wandeln. Traubls Forschungsanträge wurden ebenso wie die damit verbundenen Wissenschaftlerstellen bewilligt. Fast wöchentlich erschien ein neuer Mitarbeiter. Für die Altgedienten bedeutete dies zuallererst Verdrängung. So war es absehbar gewesen, dass auch Costas und Eva eines Tages mit Sack und Pack in Weinerts Kellerloch auftauchten.

      „Jetzt sind wir doch wieder zusammen“, stellte Eva mit Tränen in den Augen fest. Kein Tag verging, ohne dass sie ihren Frust nicht lauthals herausschrie. Zum ersten Mal seit zwei Jahren hatte sie brauchbare publizierbare Ergebnisse erhalten und hoffte auf eine Fortführung des Projekts, wenn möglich sogar mit personeller Verstärkung. Als sie jedoch Traubl ihre Ideen vorstellte, gab der ihr unmissverständlich zu verstehen, dass das Institut (er setzte üblicherweise sich und das Institut gleich, um weniger angreifbar bei unangenehmen Entscheidungen zu sein) seine Schwerpunkte der nächsten Jahre bereits festgelegt hatte. Ihr Projekt spielte dabei keine Rolle. Auf ihre Frage, wie er mit ihrem in 6 Monaten auslaufenden Vertrag verfahren würde, meinte Traubl nur vage, dass es zu früh für eine Entscheidung wäre. Falls sie in der Lage wäre, ihre Leistungen noch merklich zu steigern, wäre eine Vertragsverlängerung durchaus im Bereich des Möglichen.

      Costas hingegen wurde ganz ohne weitere Begründungen von Frau Dr. Schultheiß-Gottlob mitgeteilt, dass sein Vertrag, der in 3 Monaten auslief, auf keinen Fall verlängert werden würde. Sein Laborplatz sowie seine Technische Assistentin Maja würden bereits jetzt von den neuen Mitarbeitern benötigt werden. Im Gegensatz zu Eva nahm er das Ganze ohne Regung zur Kenntnis. Er schien von nun an noch mehr als sonst seine eigenen Pläne zu verfolgen.

      Nicolas Weinert tat es gut, wieder mit seinen alten Kameraden zusammen das Labor zu teilen. Sie flachsten herum, wie zu Beginn ihrer Doktorarbeiten, wenn auch mit einer Spur mehr Zynismus, und alle machten das Beste aus ihrer Situation. Trotz Verbotes von Traubl wurde eine ausrangierte Stereoanlage von Costas im Labor installiert, die den ganzen Tag mit moderater Lautstärke lief. Nach einigen Wochen lähmender Resignation begann Eva bereits wieder, sich in die Arbeit zu stürzen. Sie würde es Traubl schon zeigen, waren ihre Worte an jedem Morgen. Sie würde ihn mit guten Daten nur so zuschütten, dass er schließlich keine Möglichkeit mehr hatte, ihre Arbeit zu ignorieren. Weinert und Costas schüttelten ob dieser naiven Sichtweise nur den Kopf. Costas saß den ganzen Tag am Computer, nachdem er im Institut provokativ seine komplette Laborausrüstung verschenkt hatte. Was er dort so die ganze Zeit schrieb und arbeitete, wussten Eva und Weinert nicht.

      Allmählich lernten sie auch die neuen Kollegen besser kennen. Da waren zum Beispiel „die Zwillinge“, zwei verblüffend ähnlich aussehende Doktorandinnen mit Namen Sybille und Sibylle, die an einem der vielen neuen Projekte arbeiteten, die Traubl aus den USA importiert hatte. Nicht nur ihre äußere Ähnlichkeit war frappierend, beide sprachen auch mit dem gleichen starken, fränkischen Dialekt und konnten mit fug und recht als arbeitswütig bezeichnet werden. Sie sahen ihren 15 Stunden-Job und das halbe Gehalt als wahres Gottes Geschenk an und himmelten Traubl geradezu an. Sie nannten ihn auch in seinem Beisein „Boss“, was ihm durchaus nicht unangenehm zu sein schien, und stürzten sich mit Begeisterung in jede ihnen angetragene Sonderaufgabe. Nachdem sie die hierarchischen Strukturen des Instituts durchblickt hatten, sprachen sie kaum mehr mit den Kellerforschern und legten auch eine durch nichts zu begründende Arroganz gegenüber den restlichen Wissenschaftlern und vor allem dem Technischen Personal an den Tag.

      Ein ganz besonderer Fall war Gregor Winzlshammer. Er war wie Traubl Österreicher, klein, rundlich und mit schütterem roten Haar bestraft. Hinter seiner zentimeterdicken Hornbrille beobachteten zwei auf eine Winzigkeit verkleinerte Schweinchenaugen wachsam alles um ihn herum. Besonders das weibliche Personal wurde gewöhnlich minutenlang abgescannt. Von den Kollegen wurde er meist nur das „Alien“ genannt. Er unterhielt sich für gewöhnlich mit niemandem und beteiligte sich weder am gemeinsamen Gang zum Mittag noch an allgemeinen Laborpflichten wie Aufräumen oder Putzen. Weinert konnte sich noch gut an das erste Gespräch erinnern, dass er mit Gregor geführt hatte.

      Ohne dass sie sich vorgestellt worden wären, saß Gregor Winzlshammer unangekündigt in einem der oberen Labore und hämmerte stoisch auf die Tastatur eines Computers. Weinert, der ihn für einen Praktikanten hielt, der ohne Erlaubnis Institutscomputer benutzte, fragte ihn:

      „Dürfte ich wissen, was Du hier machst?“. Gregor starrte ihn minutenlang an.

      „I sitz oam Computa.“, entgegnete er mit dem breitesten Wienerisch, dass Weinert je gehört hatte.

      „Das sehe ich. Bis Du dazu befugt?“. Nach einer Weile.

      „I oarbeite seeit heut hia.“. Weinert war verblüfft.

      „I heeiß Gregoar Winzlshomma und biin dea nee Postdoac.“

      „Ach so. Na dann nichts für ungut.“, brachte Weinert irritiert hervor, „Ich bin übrigens Nicolas Weinert und bin ebenfalls Postdoc. Woran sollst Du arbeiten?“ Weinert sah, wie die Worte langsam zu Gregor vordrangen.