Niels Wedemeyer

Laborratten


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Klinikum.

      Traubl hätte gut daran getan, sich vorher eingehend über die Eigenarten dieses Mannes zu erkundigen, bevor er sich ihm anvertraute. So aber rief Traubl bei Schüttes Sekretärin an und ließ sich einen Termin für ein Abtastgespräch geben, wie er es nannte. Er hätte wissen müssen, dass Schüttes Sinn nicht nach Abtasten stand.

      Traubl erschien pünktlich zu dem Gespräch in Schüttes Institut, wurde aber von der mit Headset-Telefon ausgerüsteten Sekretärin aufgefordert, erstmal im Vorraum Platz zu nehmen. So musste er mit ansehen, wie Massen von Leuten Schüttes Büro zumeist im Laufschritt erstürmten und wieder verließen. Nach einer nicht enden wollenden halben Stunde erschall eine sonore Stimme aus der Freisprechanlage: „Jetzt kann er kommen.“ Traubl stand ermutigt durch das Kopfnicken der Sekretärin auf und öffnete die Bürotür. Der Raum war ungewöhnlich groß, aber nahezu kahl. Bis auf einen mit Dokumenten und Aktenordnern übersäten Schreibtisch und einen nicht weniger in Beschlag genommenen kleinen Seminartisch samt Sitzgelegenheiten stand nichts in diesem Raum. Kein Bücherregal. Kein Computer. Nichts. Traubl kam ein 1 Meter 90 großer elegant gekleideter älterer Herr mit streng zurückgekämmten grauen Haaren entgegen.

      „Tut mir Leid für die Verzögerung, aber hier ist derzeit die Hölle los. Setzen Sie sich doch.“ Schütte schüttelte Traubl kraftvoll die Hand und deutete auf die relativ alten Sessel, die um den Seminartisch standen. Die Sekretärin brachte schweigend Kaffee herein und verließ schleunigst wieder den Raum. Schütte sah Traubl scharf über seine halbe Goldrandbrille an.

      „Werter Kollege, wie kann ich Ihnen helfen?“ Traubl fiel plötzlich auf, dass er für dieses Gespräch vielleicht etwas zu leger gekleidet war.

      „An meinem Institut ist eine Entdeckung gemacht worden, die sie interessieren könnte.“ Traubl holte einen Stapel Unterlagen aus der abgenutzten Aktentasche und erzählte Schütte in aller Kürze die aktuellen Ergebnisse, denn er spürte die Ungeduld dieses Mannes. Aber je mehr er erzählte, desto interessierter wurde Schütte. Das bereits schon zu Beginn des Gesprächs stark gerötete Gesicht nahm noch an Farbe zu. Ein typischer Schlaganfallkandidat, dachte Traubl.

      „Wir wissen also, dass es wirkt, aber nicht wie. Um etwas mit den Daten anfangen zu können, müssen wir den Wirkmechanismus kennen. Ich dachte mir nun, dass Sie als ausgewiesener Experte für das Neuropeptid Y uns da vielleicht weiterhelfen können“, beendete Traubl seine Ausführungen. Schütte ignorierte vorerst die zarte Anfrage und frage postwendend „Was meinen sie mit `… anfangen können´?“

      „Nun. Sie kennen ja sicherlich die Geschichte des Leptins und seine kommerzielle Bedeutung. Gleichzeitig ist mir bekannt, wie sehr sich die pharmazeutische Industrie für das Neuropeptid Y interessiert.“

      „Aha. Sie haben also bereits die Dollarzeichen in den Augen. Ich hoffte, Ihnen ginge es um rein wissenschaftliche Ziele und nicht um möglichen Reichtum. Ihr jungen Kollegen könnt den Hals nicht voll kriegen und vernachlässigt eure eigentliche Aufgabe: Erkenntnisse über diese Welt zu gewinnen.“ Was für ein Heuchler, dachte Traubl, der von Schüttes kleiner florierender Pharmafirma wusste. Die Antidepressiva, die in den 70er-Jahren in Schüttes Labor wohlgemerkt auf Staatskosten entwickelt wurden, landeten alle samt in Schüttes Firma und hatten ihn in der Zwischenzeit reich gemacht. Offiziell wurde diese Firma von seiner Familie geleitet. Er selbst besaß keine Anteile an der Firma und bezog auch kein Gehalt, aber für alle Kenner der Branche war klar, dass er die graue Eminenz in der Firma war und dort auch ein eigenes Büro mit eigener Sekretärin unterhielt.

      „Mich interessiert im Moment einzig und allein der Wirkmechanismus“, log Traubl. Schütte sah ihn scharf an.

      „Nun gut, das Ganze hört sich gar nicht mal so uninteressant an. Ich frage mal in meiner Abteilung rum, ob jemand Interesse hat, daran zu werkeln.“ Schütte heuchelte offensichtlich Desinteresse. Traubl aber hörte zwischen den Zeilen, dass Schütte längst angebissen hatte.

      Bereits am nächsten Tag rief Schütte bei Traubl an.

      „Werter Kollege, ein Mitarbeiter hat mir gesagt, er hätte erstaunlicherweise noch Kapazitäten frei und wäre einer Kooperation nicht abgeneigt. Ich werde ihn nicht zurückhalten. Herr Wiese wird sich mit ihrer Arbeitsgruppenleiterin in Verbindung setzen. Wir sollten aber vorab noch einen Kooperationsvertrag aufsetzen, der die möglichen Verwertungen regelt. Selbstverständlich nicht für mich. Ich persönlich lege keinen Wert mehr auf so etwas, sondern im Sinne der jungen Mitarbeiter. Schönen Tag noch. Ich muss jetzt für drei Tage nach China fliegen.“

      Schüttes Mitarbeiter schien das genaue Gegenteil seines Chefs zu sein. Klein, unscheinbar, schüchtern und vorsichtig. Aber Herr Dr. Wiese war vor allem ein hervorragender Biochemiker, der nicht nur das Neuropeptid Y wie seine Westentasche kannte, sondern eine Reihe von Untersuchungsmöglichkeiten parat hatte, die Traubls Institut ansonsten nie zugänglich gewesen wären. Vom ersten Tag an konnte man das Ganze als erfolgreiche Kooperation ansehen. Schultheiß-Gottlob und ihre Gruppe stellte die Proteine gentechnisch her und führte die Tierversuche durch, Wiese und seine Leute waren für die biochemischen Experimente zuständig. Bereits nach zwei Wochen schickte Wiese die ersten Ergebnisse. Daraus ging hervor, dass, wie von Traubl vorhergesagt, das defekte Protein sich an die Andockstelle der Hirnzellen setzt, jedoch aufgrund der veränderten Struktur kein Hungersignal auslösen kann. Hinzu kommt, dass das Protein im Gegensatz zum natürlichen Protein die Andockstelle nicht mehr verlässt. Sie ist damit aber dauerhaft für das natürliche Protein blockiert. Man kann daraus schließen, dass bei Vorhandensein des Weinert-Proteins im Gehirn, das Hungergefühl über längere Zeit unterdrückt wird.

      In einem abschließenden gemeinsamen Seminar in Traubls Institut präsentierten Wiese und Schultheiß-Gottlob ihren Chefs die Ergebnisse. Alle Beteiligten kamen zu dem gleichen Schluss. Hier hatte man vielleicht den universellen Schlankmacher gefunden. Keine Diäten mehr oder übertriebener Sport, kein Verzicht mehr auf bestimmte Gerichte, kein operatives Fettabsaugen. Allein der Absatzmarkt Amerika mit seinen vielen Übergewichtigen war schier gigantisch. Alle Beteiligten dachten von nun an nicht mehr an den Erkenntnisgewinn, sondern einzig und allein an Reichtum.

      „Was ist jetzt als nächstes zu tun?“, fragte Traubl.

      „Patentieren natürlich“, meinte Schütte enthusiastisch, „Ich schlage vor, direkt ein internationales Patent einzureichen, das alle Staaten erfasst, in denen Übergewicht ein ernstzunehmendes nationales Problem darstellt. Japan sollte man dabei z.B. ausklammern. Die wenigen Dicken, die es dort gibt, werden auch noch als besonders attraktiv verehrt. Auch die ehemaligen Ostblockländer sollte man aussparen. Bis zum Auslaufen des Patents haben die sowieso nicht genügend zu fressen, um dick zu werden. Dick sind da nur die Reichen“, dozierte Schütte. „Ich kenne da einen erstklassigen Patentanwalt in München. Den rufe ich direkt heute noch an.“

      „Was ist mit der Veröffentlichung?“, fragte Schultheiß-Gottlob.

      „Das muss parallel erfolgen“, rief Traubl schroff und hoffte dadurch Anerkennung von Schütte zu bekommen, „das sollten Sie übernehmen, Frau Schultheiß-Gottlob“, mit Blick zu Schütte, „wenn es Ihnen recht ist.“

      „Veröffentlichungen sind mir völlig egal. Hab schon zu viele davon“, sagte Schütte genervt und unterstrich das Gesagte mit einer abfälligen Handbewegung. „Für die jungen Leute würde es mich aber freuen, wenn eine erstklassige Zeitschrift das Manuskript nehmen würde. Ich schlage Nature vor. Ich kenne da mehrere Editoren“ Alle nickten zufrieden.

      Weder Frau Schultheiß-Gottlob noch Wiese hatten Erfahrungen im Schreiben von Patenten. Auch der Patentanwalt war nur bedingt eine Hilfe. Er machte den Erfindern deutlich, dass er weder die Chancen auf Erteilung des Patent überprüfen könnte oder werde, noch die einzelnen Patentansprüche erdenken würde. Dies wäre ausschließlich Aufgabe der Erfinder. Er würde lediglich die eingebrachten Ideen in eine juristisch akzeptable Form bringen und die Korrespondenz mit den zuständigen Patentämtern koordinieren. „Es ist Ihre Aufgabe, in den öffentlich zugänglichen Datenbänken nach Anmeldungen oder erteilten Patenten zu suchen, die Ihre erdachten Ansprüche gefährden könnten. Das gleiche gilt für bereits erfolgte Veröffentlichungen oder Vorträge. Sind die Ideen,