Jo Caminos

Tempus Z


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nach Deutschland geschafft. Und es gab bestimmt schlimmere Orte auf der Welt, als diesen kahlen und ungemütlichen Raum irgendwo in den Katakomben des Frankfurter Flughafens.

      Sie dachte an den Anfang ihrer Odyssee zurück: die Trekking-Tour im Mark-Twain-Nationalpark, der Wunsch, der verhassten Ehe zu entfliehen und Sam endgültig zu verlassen. Dann die Katastrophe, auf die niemand vorbereitet war. Whitehawk Air Force Base ... All die vielen Menschen, die Trauer, der Schmerz - aber auch die Wut und so viel Hass. Thelma, die dicke Frau, die ihre Kinder verloren hatte. Roland, einer ihrer Studienkollegen, der in Whitehawk Air Force Base ums Leben gekommen war. Und dann Chesterville und der größenwahnsinnige Seamus Abigail. Charlotte drängte die Gedanken zurück. Ihr Freund Peter erschien vor ihrem inneren Auge. Fast schien es damals, sie hätten es geschafft, als auch er noch gebissen wurde, so kurz vor der Rückkehr nach Deutschland. Charlotte starrte zur Decke. Sie wollte nicht zynisch sein, doch selbst Peter hatte in gewissem Sinne Glück gehabt - er war erlöst worden, ein Stich ins Hirn, und er hatte sterben können, wirklich sterben. Nicht, wie so viele, die als Untote herumirrten ...

      Gut Hohefeld, ihre Mutter, ihre Schwester. Charlotte fröstelte. Erst einmal musste sie irgendwie dorthin kommen. Ich schaffe das, sagte sie sich. Es muss einfach gehen ...

       Drei Stunden später

      Man hatte Charlotte eine Schlafstätte in einer der Notunterkünfte zur Verfügung gestellt. Sie würde nicht verhungern oder verdursten, aber niemand zeigte sich gesprächsbereit. Ein letzter großer Ansturm von Untoten war in den letzten Tagen abgewehrt worden. Wieder mal. Die Soldaten waren müde, das medizinische Personal überlastet und am Ende seiner Kräfte. Charlotte sah ausgemergelte Gesichter, in denen sie nur selten Hoffnung fand. Fast beiläufig erwähnte sie an einem der Infostände, dass sie in den Hunsrück zurückkehren wolle. Die Frau hinter dem Schalter hatte nur müde gelächelt. »Überlegen Sie sich das lieber noch einmal gut!«, hatte sie gesagt. »Da draußen ist die Hölle. Und wir können nur hoffen, dass sie noch lange da draußen bleibt, bis ...« Die Frau hatte den Satz nicht beendet. Sie seufzte kurz, überflog scheinbar interessiert irgendwelche Notizen und ignorierte Charlotte, die kurz stehen blieb, dann jedoch für sich entschied, dass es keinen Sinn machte zu drängen. Ihre Zeit würde kommen.

      Charlotte hatte sich im zivilen Bereich umgesehen. Die Menschen wirkten lethargisch. In kaum einem Blick sah sie Hoffnung, lediglich einige Kinder, die in einer Halle Ball spielten, zeigten so etwas wie Optimismus oder Lebensfreude. Wer konnte es ihnen verdenken?

      Charlotte war noch viel zu aufgekratzt, um sich hinzulegen. Auch im Quartier hatte es böse Stimmen gegeben, als sie hereingekommen war. Es lag an ihrem Aussehen, sie hatte nichts anderes erwartet. Wenigstens hatte sie so etwas mehr Privatsphäre, die drei anderen Betten waren leer geblieben - vorerst. Nur ein Bett schien bisher belegt zu sein, doch wer immer dort übernachtete, hielt sich momentan wohl sonst wo in der Festung auf. Sie würde ihre Ruhe haben - hoffentlich. Sie war nicht hier, um Freundschaften zu schließen. Ein paar Tage, dann war sie weg. In der Festung herrschten strikte Verhaltensregeln, insbesondere, was das Verlassen des Stützpunktes anging. Niemand ging einfach so nach draußen. Sie würde sich gedulden müssen, bis sie einen entsprechenden Ansprechpartner gefunden hatte, mit dem sie über ihren Wunsch, Gut Hohefeld aufzusuchen, sprechen konnte.

      Der Flughafen war im Inneren nicht mehr wiederzuerkennen. Hier mussten heftige Kämpfe stattgefunden haben. Vielleicht ganz zu Beginn der Katastrophe, als etliche Maschinen Untote auf die Rollbahn und in den Flughafen entließen. Charlotte drängte die Bilder, die in ihrem Inneren aufstiegen, zurück. Sie dachte an das Amulett, das ihr verstorbener Freund Peter ihr für seinen Sohn mitgegeben hatte. Die ehemalige Lebenspartnerin von Peter sowie der Junge sollten sich irgendwo im Stützpunkt aufhalten. Charlotte hasste es von jeher, schlechte Nachrichten zu überbringen. Wenn ihr hier schon die Hände gebunden waren, wollte sie diese leidige Angelegenheit möglichst schnell aus der Welt schaffen. Sie kannte die Lebenspartnerin von Peter nicht, trotzdem war es Charlotte unangenehm, der Frau das Amulett zu übergeben. Was sollte sie mit ihr reden? Sie war eine Fremde - und Charlotte hatte ganz gewiss anderes im Sinn, als einer Trauernden seelischen Beistand zukommen zu lassen. Sie hatte mit sich selbst mehr als genug zu tun.

      Charlotte suchte erneut einen der vielen Infoterminals auf. Überall standen Menschen herum, die verzweifelt nach Angehörigen suchten. Kinder weinten, eine Frau verlor die Fassung und schrie einen Bediensteten an. Sofort näherten sich einige Männer und Frauen des Wachpersonals. Nach einer Weile war Charlotte endlich an der Reihe. Die Frau hinter dem Infoschalter wirkte völlig übermüdet, trotzdem blieb sie höflich. Peters Lebensgefährtin war schnell gefunden. Ihre Unterkunft befand sich im östlichen Teil des Flughafens. Charlotte überlegte noch einmal, ob sie zu einem späteren Zeitpunkt zu der Frau gehen sollte, entschied sich aber dann dagegen. Es machte keinen Sinn, unangenehme Dinge vor sich hinzuschieben. »Bring es hinter dich«, murmelte sie vor sich hin, als sie durch die spärlich beleuchteten Korridore ging. Und danach würde sie dafür sorgen, dass sie so schnell wie möglich aus dem Stützpunkt rauskam. Hier waren viel zu viele Menschen. Zu viel Gestank, zu viel düstere Atmosphäre. Irgendetwas stimmte nicht. Charlotte hatte an verschiedenen Stellen Gespräche mitgehört, dass erneut große Herden von Untoten unterwegs waren, obwohl der letzte Angriff noch nicht lange zurücklag. Doch da war noch etwas anderes: Marodeure, Plünderer, die immer wieder in den Stützpunkt einzudringen versuchten. Charlotte hatte nicht viel mitbekommen, doch was sie herausgehört hatte, verursachte bei ihr ein mehr als ungutes Gefühl. Wie es schien, gab es in der City von Frankfurt verschiedene Gruppen, die versuchten, an Lebensmittel und Medikamente des Stützpunktes heranzukommen. Es war zu mehreren Zwischenfällen gekommen, bei dem es viele Tote gegeben hatte. Die Marodeure schienen nicht zimperlich zu sein. Vor allem aber gab es Anzeichen, dass sich einige der Gruppen zusammengeschlossen hatten. Es hieß, die Leute wären paramilitärisch organisiert und akzeptierten nicht den militärischen Oberbefehl über die Festung. Das heißt Ärger, dachte Charlotte. Sie musste an Seamus Abigail denken, den selbst ernannten Senator von Chesterville, der Imperator seines Empire of Pan America hatte werden wollen. Warum sollte es in Deutschland anders sein? Vielleicht gab es auch hier irgendeinen Großkotz, der sich zum neuen Kaiser der Welt ausrufen wollte ... Und Charlotte hatte wirklich keine Lust, erneut zwischen die Fronten zu geraten. First things first, sagte sie sich, als sie die Tür zur Massenunterkunft im Ostflügel erreicht hatte. Erneut waren einige Menschen vor ihr zurückgewichen, aber wenigstens war es zu keiner Panik gekommen. Ich hänge mir am besten ein Schild um den Hals: Bin kein Zombie, ich kann sprechen!

      Charlotte grinste ironisch vor sich hin, dann ging sie nach rechts. An den Markierungstäfelchen, die überall an den Sperrholzwänden angebracht waren, konnte sie Gang und Bettengruppe ablesen. Sie war richtig. Bring es hinter dich, jetzt ...

      Keine Stunde später befand sie sich auf dem Rückweg in ihre Unterkunft. Das Zusammentreffen mit Peters Lebensgefährtin war vollkommen anders verlaufen, als Charlotte es sich ausgemalt hatte. Die Frau hatte Peter schon fast vergessen. Der gemeinsame Sohn war behindert. Er litt an einer speziellen Form von Autismus und reagierte so gut wie gar nicht auf seine Umwelt. Charlotte hatte der Frau das Amulett übergeben, einige warme Worte gewechselt, dann war sie wieder gegangen. Ohne zynisch sein zu wollen, dachte Charlotte, dass Peter sich eine riesengroße Illusion konstruiert hatte: Mama und Papa und der gemeinsame Sohn; eine gemeinsame Zukunft. Charlotte war es fast so erschienen, dass die ehemalige Lebenspartnerin von Peter ihn schon lange abgehakt hatte. Auch das Leiden ihres Sohnes schien die Frau nicht wirklich zu interessieren. Denk an deine eigenen Sprösslinge und das damit verbundene Chaos!, sagte sich Charlotte, als sie ihre Unterkunft erreicht hatte. Sie war wohl die Letzte, die andere Menschen und ihre Beziehungen zu ihren Kindern verurteilen sollte. Wie hieß es nicht so schön: Kehre zuerst einmal den Dreck vor der eigenen Tür. Und genau daran hielt Charlotte sich schon lange.

      »Bist du wirklich sauber?«, fragte der dicke Mann, der angezogen auf dem Nachbarbett lag. Charlotte fuhr zusammen. Ihr Mitbewohner schien zurückgekehrt zu sein. Sie war so in Gedanken gewesen und derart hundemüde, dass sie ihn beim Hereinkommen gar nicht bemerkt hatte. Einige Minuten später war sie schlauer. Er hieß Erwin und schien ein gemütlicher Zeitgenosse zu sein. Nicht unbedingt der Hellste, bestimmt nicht der Schönste, aber hoffentlich pflegeleicht.

      Charlotte