Jo Caminos

Tempus Z


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du vorhin gefragt …« Sie überlegte kurz, dann hatte sie eine Idee. Sie nahm ihr Gebiss heraus und grinste den dicken Mann breit an. »Hascht du schon einmal einen Zschombie geschehen, der schein Gebisch herauschnehmen kann, Alder

      Der Mann stutzte, dann begann, er brüllend zu lachen.

      »Du bist mir eine Type«, sagte er glucksend.

      Charlotte nickte nur. Sie setzte ihr Gebiss wieder ein, wälzte sich dann auf den Rücken und schloss die Augen. Morgen, sagte sie sich. Morgen muss ich hier raus.

      Erwin schien sich unterhalten zu wollen. Er ächzte kurz und nahm eine neue Position auf der unbequemen Liege ein.

      »Du, Charlotte. Ich glaube, die Marodeure werden bald wieder angreifen. Was denkst du?«

      Charlotte wollte eigentlich ihre Ruhe haben, trotzdem drehte sie sich zur Seite und sah Erwin ins Gesicht. Marodeure … Sie hatte einige Gespräche mitverfolgt, und was sie mitgekriegt hatte, verursachte bei ihr eine Gänsehaut. Einmal zu oft wurde sie an Chesterville und Seamus Abigail erinnert.

      Das seltsame Gefühl war wieder da, diffus, irgendwo im Hinterkopf nagend. Gefahr! Es war fast so wie ein innerer Radar. Etwas braute sich zusammen, und es war bestimmt nichts Gutes.

      »Wie schlimm sind die?«, fragte sie.

      »Ziemlich schlimm. Die kennen kein Pardon. Zuerst schießen, dann fragen. Die machen alles platt, was sich ihnen in den Weg stellt. Das sind Nazis, die wollen die Uhr zurückdrehen und ein neues Reich hochziehen. Einer der Anführer kommt aus dem Osten, heißt es. War ein großes Tier bei den Rechten, bevor die Welt den Bach runterging. Irgendwie hat er überlebt, als der Großraum Berlin im Chaos versank. Jetzt sieht er offenbar seine Chance gekommen, hier sein großes Ding zu drehen. Ich hab kein gutes Gefühl.«

      Charlotte stöhnte unterdrückt. Es hätte sie auch gewundert: Seamus Abigail und seine Ableger. Die Welt war im Arsch, und trotzdem gab es noch genügend Idioten, die diese Welt erobern und beherrschen wollten.

      »Hast du keine Angst?«, fragte Erwin.

      Charlotte grinste. »Ich hab einiges hinter mir. Abgesehen davon: Ich will hier weg. Und das so schnell wie möglich.«

      »Weg?«

      Charlotte verdrehte die Augen. »Erwin, ich bin müde. Ja, ich will weg. Ich will auf den Hunsrück zu meiner Familie. Reden wir morgen weiter, wenn es sein muss ...«

      Erwin richtete sich auf der Liege auf. Er wirkte geradezu entsetzt. »Du bist wirklich bekloppt! Auf dem Hunsrück gibt es nur noch einige wenige Lebenszonen, aber da sieht es nicht gut aus. Die militärische Führung wollte die Leutchen in die Festung umquartieren, doch die haben sich geweigert. Und da willst du hin?«

      »Jaaaaa!«, erwiderte Charlotte gedehnt. »Familiensache.«

      Erwin zuckte mit den Achseln. Er grinste. »Ein Gutes hat die Zombiekrise doch. Meine Frau und meine bekloppte Schwiegermutter hat es ganz am Anfang erwischt. Ich hätte nicht geglaubt, einmal im Leben so viel Glück zu haben.« Er gluckste, als hätte er einen Witz gerissen.

      Charlotte schmunzelte. Tja, so hatte selbst die Zombiekrise für einige noch ein Gutes. Sie drehte sich um, untrügliches Zeichen, dass sie ihre Ruhe haben wollte. Erwin schien ein Einsehen mit ihr zu haben und schwieg.

      Charlotte trieb in Gedanken ab. Joshua, Candy und Huntington, der Psychiater, die nach Lake Winnepesaukee aufgebrochen waren ... Gesichter, Stimmen, Erinnerungen. Dann sah sie vor ihrem inneren Auge das Gesicht eines Mannes. Es war kein hübsches Gesicht, doch für Charlotte war es der attraktivste Mann, den sie in ihrem Leben getroffen hatte: Otis Flanagan, Sonderagent irgendeiner dubiosen Sicherheitseinrichtung einer nicht mehr existenten Regierung. Was mochte er machen? Lebte er noch?

      Sie seufzte. Ja, Otis lebte noch. Irgendwie wusste sie es. Sie kam sich dämlich dabei vor, für einen Mittdreißiger zu schwärmen. Andererseits: Warum nicht? Otis hatte ihr ja klipp und klar gestanden, dass er auf ältere Frauen stand.

      Du bist meschugge!, schalt sie sich selbst. Otis war am anderen Ende der Welt. Es war wohl eher unwahrscheinlich, dass sie ihn in diesem Leben jemals wiedersehen würde. Und selbst wenn: Diese Welt der Untoten hatte keinen Platz für Liebesgeschichten, hier ging es ums Überleben. Das war alles.

      Erwin schnarchte mittlerweile.

      Charlotte verdrehte die Augen. Bei dem Gesäge würde sie keinen Schlaf finden. Sie schwang sich aus dem Bett, zog sich eine Jacke über und beschloss, etwas durch den Stützpunkt zu wandern. Die Müdigkeit war plötzlich wie weggeblasen. Marodeure, Übergriffe auf die Festung - dann dieses komische Gefühl. Vielleicht schadete es nicht, Augen und Ohren offen zu halten. Sie hatte zwar vor, Frankfurt so schnell wie möglich zu verlassen, aber wer konnte schon sicher sein, dass sich diese seltsamen Marodeure, die sich in der verfallenen City herumtreiben sollten, mit dem Flughafen zufriedengeben würden. Zuerst den Flughafen, dann den Rest der Welt ...

      Dieses fiese Gefühl schien sich in ihrem Nacken festgesetzt zu haben. Es ließ sie einfach nicht mehr los. Wieder sagte sie sich, dass es ein Fehler war, nicht mit den anderen nach New Hampshire zum Lake Winnepesaukee geflogen zu sein. Joshua, Huntington und Candy waren so etwas wie ihre Familie geworden. Vielleicht mehr Familie, als sie im wirklichen Leben jemals gehabt hatte. Ihre Mutter, ihre Schwester ... Es war alles so verdammt lange her. Es hatte zu viele Konflikte, zu viel Streit, zu viel Entfremdung gegeben ...

      Hör auf, rührselig zu werden!, schimpfte sie mit sich selbst. Sie war mittlerweile in einer der alten Abflughallen angekommen und trat an die großen Fenster, die teilweise zu Bruch gegangen und mit Holzlatten verschlossen worden waren. Es zog. Die Landebahnen waren nur zum Teil beleuchtet. Offensichtlich wurde eine Maschine erwartet. Sicherheitspersonal stand dort unten in Bereitschaft. Ebenso einige Panzer und Mannschaftstransporter.

      Für einen Moment überkam sie die irrwitzige Idee, dass Otis in einer der Maschine sitzen würde. Charlotte schüttelte schmunzelnd den Kopf. Es war nicht zu glauben, der verfluchte Kerl ging ihr wirklich nicht aus dem Sinn.

      Bring dich auf andere Gedanken!, sagte sie sich und setzte sich in Bewegung. Zeit, die Lauscher auf Empfang zu schalten. Man konnte niemals genügend Informationen besitzen, besonders nicht in Zeiten wie diesen.

       USA - Kasachstan

       An Bord eines hypermodernen Tarnkappenjets

       Spätsommer

      Der Mann und die Frau schwiegen. Es gab für sie nichts zu tun. Sie konnten nur abwarten, bis sie ihr Ziel erreicht haben würden, das im fernen Kasachstan lag. Der Bestimmungsort befand sich geschätzte 150 Kilometer von der Stadt Scheskasgan entfernt in der kasachischen Steppe. Die Besatzungsmitglieder der ISS würden dort in den Sojuslandekapseln niedergehen. Der Auftrag war klar umrissen: Bergung der Besatzungsmitglieder und sofortige Rückkehr in die USA.

      »Mich macht das langsam nervös, einfach nur herumsitzen zu müssen und auf die KI der Steuerungsautomatik zu vertrauen«, sagte der Mann mit rauer Stimme. Ein leichtes Rauschen erfüllte die Kabine, LEDs blinkten. Hin und wieder erklang ein Klicken. Die Beleuchtung war auf Nachtmodus geschaltet, ein warmer Orangeton zeichnete die Gesichter und die mattschwarzen Armaturen weich. Der Name des Mannes war Otis Flanagan, und wie auch seine Kollegin, Jessica Warden, die sich mit ihm an Bord des ultramodernen Tarnkappenjets aufhielt, gehörte er einer geheimen Subdivision des AFISR, also der Air Force Intelligence, Surveillance and Reconnaissance Agency, an.

      Ein feines Lächeln erschien auf Jessica Wardens vollen Lippen. Sie schwang mit ihrem Sitz herum und sah Otis ironisch von der Seite her an. »Bleib ruhig. Zur Not fliege ich die Kiste auch manuell. Der Vogel ist zwar hypermodern, aber trotzdem nur ein Flugzeug. Mehr nicht …«

      Otis verzog das Gesicht. »Du hast nie erwähnt, dass du ausgebildete Pilotin bist. Und dass du Russisch nebst Kasachisch sprichst, ist mir auch neu ... Dieser Scheißvogel riecht einfach ekelhaft neu. Ich kann so