Jürgen Walter

Verbrannte Schiffe


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Doch die Wirkstoffe der blauen Agave sind tückisch und verwandeln Sentimentalität rasch in Zorn und Brutalität. Nun versuchte einer dem anderen ins Gesicht zu schlagen, was nicht leicht zu bewerkstelligen war, da beide weder sehr fest auf ihren Beinen standen noch besonders präzise mit ihren Fäusten zielen konnten. In diesem Augenblick stand der Engländer, dem der Mann hinter dem Tresen, ein langer schweigsamer Norteño, anscheinend der einzig Nüchterne in der ganzen Bar, gerade wieder das Glas vollgeschenkt hatte, leicht schwankend von seinem Hocker auf. Es geht los, sagte er und deutete mit dem Zeigefinger auf die Kontrahenten. Rurales, Faschisten, rief er, assesinos, cobardes, sie warten nur darauf, von hinten zuzustechen. Trotz des Tumults waren die englisch-spanischen Beleidigungen dank seiner Stentorstimme gut vernehmbar. Mittlerweile hatten sich Freunde der beiden Kämpfenden oder auch Außenstehende, denen mit dem Sprit die Kampfeslust in die Adern gefahren war, eingemischt, und nun floss auch Blut, denn ein Schwinger hatte eine Nase getroffen. Eben in diesem Augenblick hörten die Mexikaner den Gringo. Die meisten drehten sich um. Die Aufmerksamkeit verlagerte sich vom eigentlichen Geschehen weg zum Ursprung der Provokation. Sie waren als feige Mörder geschmäht worden, von einem Fremden, einem Nordamerikaner in ihren Augen. Mira este yanqui, hörte er heisere Stimmen, este hijo de puta. Rasende Wut und kollektive Aversion sprachen aus ihren Gesichtern, äußerten sich in den Drohgebärden, als sie näher rückten, um dem „Hurensohn“ die Beleidigungen zurückzuzahlen.

      Er hatte im Laufe der Jahre gelernt, sich aus Konflikten herauszuhalten, zumindest in Kneipen und in dieser Weltgegend. Von dem Norteñ0 hinter dem Tresen frühzeitig gewarnt, hatte er seinen Barhocker zur Seite geschoben, und jetzt beobachtete er quasi vom unbeleuchteten Bühnenhintergrund aus, wie sie den englischen Konsul, der über große Körperkräfte und einen erstaunlichen Widerstandswillen verfügte, niedermachten. Sein Blut färbte ungefähr den Umriss der mexikanischen Landkarte in die Sägespäne, die den Boden vor der Theke bedeckten.

      Diese beiden seltsamen, in keiner Weise zusammenhängenden Erlebnisse am Anfang der Reise erschienen ihm später, im selbstgewählten Exil, wie Zeichen einer grauen Vorbedeutung, die damals nur niemand zu erkennen vermochte: So wie die Gruppe, die er eigentlich durch alle gefährlichen Untiefen hätte führen sollen, mit einem Schiffbruch für die Rohheit dem verletzten Kind gegenüber büßen sollte, so war er selbst nach der lauen Indifferenz, die er an den Tag gelegt hatte, als dem Konsul der Schädel eingeschlagen wurde, dazu verurteilt worden, zu wandern, ohne Aussicht auf Rückkehr und mit Zielen vor Auge, denen er sich nicht einmal merklich annähern, die er geschweige denn jemals erreichen konnte. Und der Satz, den er sich später während der vergeblichen Schuftereien, der schon im Ansatz scheiternden Liebesbemühungen, in den Slums, in alten Bussen und heruntergekommenen Hotelzimmern, immer wieder, beinahe zwanghaft, ins Gedächtnis rief, lautete: Alles hängt mit allem zusammen.

      I. Megalopolis

      Wohin ist der See verschwunden, in deren Mitte die Stadt einst lag? Wenn der Wind die getrockneten und pulverisierten Fäkalien, die sie doch durch so endlos lange Rohre aus dem Moloch in weit entfernte Landschaften blasen, mit Staub und Salzen vermischt wieder zurückbringt und damit die Rachen ätzt und die Nasen bluten lässt, wenn hunderttausend Fabrikessen in die trübe Luft rauchen und fünf Millionen Volkswagen durch Straßenschluchten kriechen, wenn der Lärm von Motoren und Abspielgeräten jedes Wort erstickt, die Menschen vor voll besetzten Parkbänken Schlange stehen, weil sich nirgends im Gewühl ein Platz findet, wenn man Zeuge wird, wie sich der Ring der elenden barrios immer enger um die alte Stadt, die eigentlich auf den Ruinen einer noch älteren errichtet wurde, zieht, dann weiß man, Ciudad de México könnte eine zeitgemäße, also eine moderne, hässliche Heimat sein, ein Ort von dieser Welt. Und man sieht den bettelnden Indio-Frauen auf dem Zócalo zu, wie sie ihre verlausten Kinder inmitten der Massen füttern und in den Schlaf wiegen; das dürfen sie nämlich, das hat man ihnen erlaubt, den Urahnen der Herren dieses Landes, sogar im Schatten der Kathedrale und im Angesicht der Globalisierung, denn so lässt sich anhand dieser lebenden Relikte belegen, dass es früher hier auch schon etwas gegeben hatte, was nicht unbedingt humaner, aber zumindest ursprünglicher, dem Land eigentümlicher gewesen war. Nur vom Wasser der Lagune findet man keinen Tropfen mehr.

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      Oft noch, wenn er sich auf durchgelegenen Matratzen über dem gestampften Boden wälzte, in Bretterverschlägen, deren Fensterlöcher durch zerrissene Moskitonetze kaum abgedichtet waren, und auf das an- und abschwellende Sirren eines Blutsaugers, das gerade durch die fehlende Konstanz und den unvorhersehbaren Rhythmus so penetrant an die Nerven ging, lauschte, dachte er an den Tag, an dem die ihm unaufhaltsam erscheinende Lawine von Ereignissen, die ihn letztlich hierher nach Cali geschleift hatte, losgetreten worden war, und er sah sich in einem anderen Leben die große Straße im Zentrum einer Stadt, die er nicht als Heimat empfand, in der er aber doch geboren worden war und mehr Jahre verbracht hatte als sonstwo, entlang gehen, zwar mit der weißen Weste dessen, der sich noch nicht hatte schuldig machen können, aber auch damals schon ohne Hoffnung und Perspektive. Er ging an Banken vorbei, an Modegeschäften und dann wieder an Fastfood-Restaurants. Diese City, deren Entstehung im Geist der damaligen Zeit, in Form einer zweckmäßigen, kommerziellen Moderne, die bereits auf der Bauskizze schon verbraucht wirkte, er miterlebt hatte, war unbeschreiblich verwechselbar.

      Sein Ziel war ein Bürogebäude in ziemlich guter Lage, und dort die fünfte Etage. Die Tür mit dem kühlen Logo und der Aufschrift GERMAN MEGA öffnete sich mit dezentem Surren, und er durchquerte auf weichem Teppichboden ein Vorzimmer, das die Ausmaße seiner Wohnung haben mochte. Er nannte seinen Namen, und eine Dame von glatter Schönheit mit dezent modischem Outfit wies ihm den Weg zu einem Raum, dessen einziges Mobiliar aus ein paar Regalen, einem riesigen elfenbeinfarbenen Schreibtisch und zwei futuristisch anmutenden Sesseln bestand. An den Wänden hingen Werbeplakate für Veranstaltungen, die offenbar von der Agentur durchgeführt worden waren. Hinter der Schreibtischplatte, auf der sich ein mit „Event Manager“ beschrifteter Reiter befand und sonst nichts, erhob sich ein schlanker Mann mit kurzem, silbergrauem Haar, in schwarze Jeans und ein schwarzes T-Shirt gekleidet, aus seinem Sessel. Auf dem Shirt stand „I am MEGA“. Miller mein Name, Yves Miller, sagte der Mann und streckte die rechte Hand aus. Miller sprach leise, baute seine Sätze sorgfältig. Er dehnte die Vokale und Endsilben. Wie ein Arzt, der von verzweifelten Patienten Vertrauen und Anerkennung seiner Kompetenz einfordert, dachte er.

      Sie haben unser Inserat vermutlich genau gelesen. Sie wissen also, was wir fordern. Miller listete in verbindlichem Ton die offenstehenden Posten auf, die der Schuldner, den er zu beauftragen gedachte, begleichen musste. Spanisch wie ein Muttersprachler? Erfahrungen mit Reisen in Lateinamerika, vorzugsweise in Mexiko? Führerschein und die Bereitschaft, im Notfall einen Kleinbus durch chaotischen Verkehr und über abenteuerliche Pisten zu steuern – was allerdings im Normalfall der bereits engagierte Chauffeur tun werde? Talent, ad hoc ein Freizeitprogramm für die Truppe zu entwerfen und so weiter. Und das Wichtigste ist, dass Sie gute Nerven haben, sagte Miller zuletzt. Er musste von seinen Erfahrungen in Mexiko berichten, erklären, warum er für zwei Wochen aus der Stadt verschwinden könne, einfach so; warum er denn derzeit arbeitslos sei. Schließlich erklärte ihm Miller, dass er den Job haben könne, da seine „Qualifikationen“ passten, da sich nur wenige Bewerber, die „mobil“ wie er seien, gemeldet hätten, dass sie sich nun über die Rahmenbedingungen würden unterhalten müssen. Die Summe, die er nannte, war für den Job als Reiseleiter recht üppig, die nötigen Versicherungen werde die Agentur sogleich für ihn abschließen. Aber Sie müssen den Hintergrund der Tour kennen, sagte Miller, und etwas über die Personen wissen, mit denen Sie quer durch Mexiko fahren. Und nun erklärte der Event-Manager, wie seiner Agentur, eigentlich ihm selber, die Idee gekommen sei, die Verbindung von Sport und Public Relations auf eine „neue Ebene zu hieven“; nicht mehr die klassische Werbung an der Stadionbande, die TV-Spots in der Halbzeitpause eines Länderspiels, die sündhaft teure Verpflichtung eines unbegabten Superstars für einen Reklame-Sketch, nein, die Basis war einzubeziehen, die Leute sollten mitmischen, „endlos Fun haben“, und so seien als Sponsoren Konzerne gewonnen worden, deren Produkte sonst nicht unbedingt in Verbindung mit sportivem Geist gebracht würden. Das Ganze habe man optisch mit einem Schuss Erotik und einem „Feuerwerk von Gags“ aufpeppen müssen. Die Erfahrungen von GERMAN MEGA mit der Organisation von Belegschaftsfeten für Unternehmen seien da sehr