Jürgen Walter

Verbrannte Schiffe


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saßen Miller und er in einem Bistro in der City. Miller, der Pastis mit Wasser trank, übergab ihm eine Liste der Hotels, in denen sie absteigen würden. Die Leute wirken ein wenig ungehobelt, sagte der Agentur-Mann mit feinem Lächeln, aber sie sind leicht zu lenken. Vor allem, wenn sie in einem Land sind, dessen Sprache sie nicht verstehen. Übrigens haben wir für Sie zwei Führer oder Assistenten, ganz wie Sie wollen, verpflichtet, zwei Spanier, die Mexiko gut kennen. Die beiden werden den Mannschaftsbus fahren, bei der Einquartierung helfen, Kontakt mit den Vereinen aufnehmen, bei denen die Freundschaftsspiele stattfinden, und Ihnen in punkto Freizeitgestaltung zur Hand gehen. Sie sprechen allerdings kein Deutsch.

      Er trank sein Bier aus und bestellte ein neues. Er hatte die Ungeduld in den Augen der meisten Fußballspieler gesehen, die Gier nach besoffenem Vergnügen und exotischer brauner Haut, nach all dem, was sie unter „Abenteuer“ verstanden, den libidinösen Amoklauf weit weg von Familie, Freundin oder Vorgesetztem. Und wortlos hatten sie ihm, den sie eigentlich eher für einen Pedanten und Spielverderber hielten, die Forderung gestellt, es sie erleben zu lassen. Ohne Rücksicht auf Verluste, ohne Schonung der Gastgeber, seien es Kneipenwirte, Geistliche oder indianische Nutten. Und er war verantwortlich für die Show, schließlich wurde er dafür bezahlt. Er betrachtete Millers Gesicht, das ewig um die schmalen Lippen spielende Lächeln, die linke Augenbraue ständig zu einem stumpfen ironischen Winkel hochgezogen, das energische Kinn auf eine schlanke Hand mit langen Fingern und perfekt manikürten Nägeln gestützt, und er wusste, warum der Mann nie selbst eine solche Himmelfahrtstour leiten, ja nicht einmal den Einsatz eines subalternen, aber unentbehrlichen Angestellten riskieren würde. Dennoch fragte er: Reizt Sie eine solche Reise nicht? Erstens ist Mexiko ein faszinierendes Land, zweitens handelt es sich doch um eine Art spannendes Gruppenexperiment. Miller erklärte, dass er genug damit zu tun habe, die einlaufenden Gelder zusammenzuhalten und zu reinvestieren. Dazu braucht man Ideen, sagte er, man muss ständig neue Events kreieren, neue Bedürfnisse schaffen, neue Nischen finden, die Durchführung planen, Kosten, personelle Ressourcen und Werbewirksamkeit im Auge behalten. Meine Abenteuer sind virtueller oder geistiger Natur, sagte er, sie spielen sich in meinem Kopf ab. Ich muss die Sponsoren finden, die Medien aufmerksam machen, die Akteure kontrollieren (ohne dass sie es merken), die Gewinnmarge berechnen und für einen Flop gerade stehen. Gerade jetzt habe ich eine Veranstaltungsreihe konzipiert, deren Formate ich als sophisticated, zumindest aber als fashionable bezeichnen würde, die meines Erachtens aber Massenpotential hat. Aber zurück zu Ihnen: Für Mexiko und das Fußballturnier habe ich Fernsehsender und sogar die überregionale Presse und für die Werbung etliche Firmen von der Schnapsfabrik über Fitness-Studios bis zu Großschlachtereien gewonnen, nur leider keinen Reiseveranstalter. Und so müssen wir auf das Know-how erfahrener, landeskundiger Fachleute zurückgreifen, um unsere Schäfchen sicher durch die wilden Kordilleren zu schleusen. Hier vertiefte sich Millers Lächeln, und zum ersten Mal schien er ehrlich belustigt. Und deshalb – er hob das Glas, wie um einen Toast auf einen gefeierten Stargast auszubringen – brauchen wir Sie.

      3

      Durch den diesigen Morgen, die wabernden Abgasschwaden der großen Stadt stachen bereits die satten Gerüche und Düfte nach Holzkohlenfeuer, gegrilltem Fleisch, Schwein, Iguan, vielleicht Hund, und gerösteten Kaffeebohnen, hier und da auch nach Kloake. Er ging noch vor dem Frühstück in einem Hotel, das er von früher kannte, durch Straßen, die er vor etlichen Jahren, so viel jünger und wissbegieriger noch, abgeschritten hatte, mit dem Staunen des Neuankömmlings und der Erwartung des Rastlosen: das Porträt des jungen Mannes als Reisender.

      Er begann, alt zu werden, und seit längerer Zeit hatte er das Gefühl, dass er sich jedes Jahr hart erarbeiten musste, als sei er ein Minenarbeiter oder ein Bauer mit steinigen Feldern, der sich am Ende jedes Zwölf-Stunden-Tages oder jeder Sechs-Tage-Woche sagte: es war eine Quälerei, aber es ist geschafft, für dieses Mal, zufrieden, es wieder überstanden zu haben, aber ohne Hoffnung, ohne innere Befriedigung oder bescheidenes Glücksgefühl. Seit langem lebte er allein, nicht weil er es so wollte, sondern weil sich ihm keine Gelegenheit bot, diesen Zustand zu ändern. Und wenn er eine Frau traf, bei der eine Gleichzeitigkeit von Sympathie, geistiger Neugier und sexuellem Begehren in der Luft zu liegen schien, entglitt ihm der entscheidende Augenblick, und er gestand sich, mit sich und seinem Versagen im Reinen, erleichtert ein, kein Talent für Erotik zu besitzen. Obwohl es ihm regelmäßig so vorkam, als sei es vor Urzeiten zumindest ab und zu anders gewesen. Manchmal träumte er noch von der erfüllten und vor allem andauernden Partnerschaft, träumte von den wenigen Frauen in seiner Vergangenheit, mit denen es – unter bestimmten Umständen – eine Chance gegeben hätte, und wenn er aufwachte, stellte er ohne Überraschung fest, dass er allein geschlafen hatte. So wie er von der Veränderung träumte, durch die diese dünne Talmi-Oberfläche von Erfolg, wirtschaftlich, gesellschaftlich, banal, zerrissen würde und alle Millers dieser Welt an den Pranger gestellt und dem Spott der Nachdenklichen ausgesetzt werden könnten, und niemand mehr für diese Millers arbeiten musste, so wie er jetzt für seinen Miller arbeitete. Keiner, den er kannte, glaubte mehr an diese Veränderung, die ihm heute im beginnenden Herbst seines Lebens wie eine grandiose, aber allmählich durchschaute Luftspiegelung in einer gnadenlosen Wüste erschien, doch er erinnerte sich an die Jahre, als er eigens auf diesen Subkontinent gekommen war, wo sich ständig etwas veränderte, zum Guten, zum Schlechten oder hin zum Stillstand, ließ sich auch nach näherer Betrachtung oft nicht sagen. Ganz hatte er die Hoffnung auf das unerreichbar Neue noch nicht aufgegeben; schließlich ist es eine Eigenschaft der Fata Morgana, ihre Opfer stets in Bewegung zu halten, kein Verharren auf einem Fleck zuzulassen. Allerdings schien es ihm, als bewege er sich seit geraumer Zeit kaum noch von der Stelle, zumindest seit er sich um seine Existenz nicht mehr perspektivisch, sondern im Monatsturnus Sorgen machen musste.

      Zurück in Mexiko also. Bis auf den Zwischenfall mit dem kleinen blutenden Mädchen, dessen untröstliches Gesicht er einfach nicht vergessen konnte, war nichts weiter passiert. Die Gruppe hatte sich einigermaßen zurückgehalten und auch nicht allzu viel getrunken. Wäre er allein gewesen, er hätte sich auf das Einchecken und die erste Nacht im Hotel gefreut, so aber fühlte er sich in seinen Reminiszenzen gestört. In einem Umschlag hatte ihm Miller die wichtigen Unterlagen und die Devisen ausgehändigt, ein Bündel Dollarnoten, einen Packen Traveller-Schecks, was angesichts der lateinamerikanischen Kreditkartenfeindlichkeit Sinn machte, mit der Mahnung, jedem hundert Dollar am Morgen für den Tag in die Hand zu drücken, wie es als Bestandteil des Preises vereinbart war, nicht im Voraus, damit keiner nach drei Tagen abgebrannt sei (und wenn einer damit das Luxusbordell nicht zahlen könne, sagte Miller, sei das seine Sache), die Versicherungsscheine, die Adressen und Ansprechpartner der Fußballvereine, die Voucher für die vier Hotels, die sie ansteuern würden. In Ciudad de México war es das Isabel la Cátolica, eines der alten Häuser im alten Teil der Stadt, die dem Erdbeben getrotzt hatten, während die modernen Klötze, eilends mit zu viel Gewinnmarge und zu wenig Zement hochgezogen, widerstandslos in sich zusammenbrachen, das Hotel, in dem er bei seinem ersten Aufenthalt hier vor Jahrzehnten und dann immer wieder gewohnt hatte, einmal sogar mit einer Frau, Alexandra, was bei seinem nicht gänzlich glücklosen, aber doch recht überschaubaren Liebesleben eine Gedächtnisnotiz wert war. Die Zimmer waren wie früher, ziemlich sauber, aber nicht mehr neu, verblichen, aber noch nicht verkommen; die abgetretenen Teppiche in der Lobby schienen noch von damals zu stammen. Und auch die Bar existierte noch, wie er gestern Nacht anlässlich der seltsamen Begegnung mit dem mysteriösen Briten hatte registrieren dürfen. Der Vorfall ließ ihn an diesem grauen Morgen nicht los, andererseits wollte er nicht darüber nachdenken, zumindest keine weitgehenden Schlüsse daraus ziehen. Er überquerte den Zócalo, ging an der Kathedrale, deren gruftartige Düsternis durch ein Konglomerat aus Kerzen, Kandelabern, starrer Religion und knochenbiegender Folter angereichert wurde, das bei seinem ersten und einzigen Eintreten in ihm eine Vorstellung von Weihnachtsbeleuchtung in der Hölle geweckt hatte, vorbei, schlug sich in eine der Nebenstraßen und fand den Park, das Rasengeviert mit ein paar kümmerlichen Blumenbeeten, nach so vielen Jahren wieder. Zwar eilten Städter, die schon so früh unterwegs waren, der Arbeit zu, doch noch machte ihm niemand den ruhigen Platz auf einer gusseisernen Bank streitig. Aber die Rastlosigkeit um ihn herum störte ihn in seinen sentimentalen Gedanken an das, was damals war, was sich hätte anders entwickeln können, aber vor allem daran, dass schon einmal etwas in seinem Leben passiert war. Und bald würden die Bettler kommen, weil