Jürgen Walter

Verbrannte Schiffe


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brutal und hinterlistig. Er wies auf die gegnerischen Spieler, die auf der anderen Seite im Schatten kauerten und Tortillas mit Salz und Chili-Schoten aßen. Vorgestern haben sie noch ganz gehorsam gewirkt. Aber spätestens in Puebla treffen wir auf diszipliniertere Krieger.

      Bernal rief die Mannschaften wieder auf den Platz. Bis zur Pause waren die Deutschen nur eins zu drei hinten gelegen, ein achtbares Resultat angesichts der Umstände; jetzt aber zehrte die dünne Luft an ihrer Lungenkraft, fehlte der Sauerstoff, der fatalerweise durch Partikeln aus Ruß, Schwefel und anderen unzuträglichen Substanzen ersetzt wurde. Ihre Pässe gingen ins Leere, weil keiner sie mehr erlaufen konnte, stattdessen rollte eine Attacke nach der anderen auf ihren Strafraum zu. Mittlerweile spielten die Angreifer beinahe körperlos, konnten ihnen doch die Gringos nichts mehr entgegensetzen, weil sie viel zu beschäftigt damit waren, auf die Alarmzeichen ihrer erschöpften Physis zu lauschen, und nun vermochten die Opfer der ersten Halbzeit sich der flinken, konditionell überlegenen Einheimischen nur noch zu erwehren, indem sie alles taten, um sie von den Beinen zu holen, durch böse Grätschen, was allerdings wegen der mexikanischen Schnelligkeit selten gelang, oder indem sie den Ballführenden auflaufen ließen, ihn mit der höheren Masse des eigenen Leibes zu Boden stießen. In anderen Hemisphären der Fußballwelt hätte ein derart überlegenes Team die unbeholfenen Regelverstöße ignoriert und die eigene Spielkunst zelebriert, doch diese Männer aus den barrios waren keine Ästheten, kannten nur die direkte Antwort mit gleicher oder besser: härterer Münze, ließen nichts, nicht einmal den Fehlversuch einer Attacke, auch nur zwei Sekunden ungerächt. Und so musste es schließlich passieren.

      Kaum hatten sich die kleinen braunen Männer mit den fadendünnen Schnurrbärten von der ersten Überraschung durch den in Zeitlupe vorgetragenen furor teutonicus ihrer Gegner erholt, erklang ein widerlich an Schlachtung durch Bolzenschuss erinnernder Knall über den ganzen Platz, und Flügelstürmer Stan, der Erfolgreichste und immer noch Schnellste der Deutschen, wenn auch nicht mehr schnell genug, um den feindlichen Tritten zu entgehen, wand sich laut schreiend im Staub. Er lief auf das Spielfeld, ohne auf Hernan zu achten, der plötzlich neben ihm aufgetaucht war und ihm etwas von „Jetzt nehmen sie Rache“ ins Ohr geschrien hatte. Er sah, dass der durch keinen Beinschoner geschützte Unterschenkel durch den Tritt einen sacht stumpfen Winkel eingenommen hatte; ein Schienbeinbruch, wie er wenig später erfuhr. Stan schrie markerschütternd, bis ihm der Atem wegblieb, und er nur noch ein ersticktes Stöhnen ausstoßen konnte. Ihm selbst gingen die absurden Kommentare abgestumpfter deutscher TV-Reporter durch den Kopf. Ein bitterböses Foul, kein Kind von Traurigkeit, verdient die dunkelrote Karte... Bernal aber hatte weder gelbe noch rote Karten zur Hand. So wies er den Übeltäter mit großen Gesten vom Feld. Der wiederum zeigte auf seinen Oberschenkel, wo noch die Abdrücke fast sämtlicher Noppen eines Fußballschuhs zu sehen war, und weigerte sich zu gehen. Während sich zwei besonnenere Deutsche, die beiden Verteidiger, um den Verletzten kümmerten, kam Emil wie ein wilder Stier aus dem Tor und attackierte drei Mexikaner, die um Stan herum standen, mit den Fäusten. Otto mit den abstehenden Ohren, der dicke Dirk und Ingo, der zu Hause Rottweiler züchtete, wie er bei allen möglichen Gelegenheiten zu erzählen pflegte, griffen ebenfalls ein, und da einige Gegenspieler den Attackierten zu Hilfe eilten, ballte sich ein Knäuel von Leibern, schlagenden und krallenden Gliedern zusammen, das sich aus eigener Kraft hin- und herschob und mehrmals den am Boden Liegenden zu überrollen drohte. Dann kam der plötzliche Auftritt von Hernan, der ihn trotz seines mürrischen, unsozialen Wesens für den Rest des gemeinsamen Weges zu einem geachteten, über jede Kritik erhabenen Mitglied der Gruppe machte, von ihr sogar in stillschweigender Übereinkunft als Anführer im Kriegsfall angesehen wurde, eine Funktion, die er nie ausüben sollte, da er von jetzt ab den Eisenkäfig seiner einsamen, archaischen Gedanken vor ihren Blicken und Forderungen verschloss.

      Als sie am nächsten Tag in der Cafeteria des Hotels frühstückten, verkatert, lädiert und deprimiert, aber mit der ebenso vagen wie unausrottbaren Hoffnung, dass alles besser werden könnte, wenn sie nur erst diese bedrückende Riesenstadt verlassen hätten, fehlte Stan. Die vorsorglich von Miller für alle abgeschlossene Reisekrankenversicherung ermöglichte ihm den Aufenthalt im Zweibettzimmer einer Klinik, die von der deutschen Botschaft empfohlen worden war und den baldigen Heimflug mit einer Liniengesellschaft. Als er Stan am Vorabend gefragt hatte, ob sie alle vor der Abfahrt ihn noch einmal besuchen sollten, hatte dieser ihm, der von Bernal chauffiert, Sanitäter aufgetrieben, die diplomatische Vertretung befragt, Miller und die Versicherung während der Fahrt informiert und das Hospital inspiziert hatte, nur kurz und grob geantwortet. Leckt mich alle am Arsch, hatte Stan, auf dem Krankenhausbett liegend, gesagt und sich vorsichtig mit dem Gesicht zur Wand gedreht.

      Mit Erleichterung stellte er fest, dass sich die Stimmung der Truppe noch nicht eindeutig gegen jemand, und dies hätte bedeuten müssen: gegen ihn, richtete. Noch standen sie alle unter Schock, doch er versuchte, ihre Grimassen und Gesten zu deuten, lauschte auf die Nuancen ihrer Äußerungen, da er es nur für eine Frage der Zeit hielt, wann sie nach dem Schuldigen suchen würden. Vielleicht half ihm der Umstand, dass die meisten dem irrigen Glauben anhingen, Miller „der Lackaffe von der Agentur“ habe die Spiele von Deutschland aus organisiert. Für ihn stand der eigentlich Verantwortliche des gestrigen Desasters fest: Hernan, der von GERMAN MEGA beauftragt worden war, geeignete Gegner für eine Hobby-Mannschaft mit geringen sportlichen Ambitionen und noch dürftigeren athletischen Qualitäten auszusuchen, hatte wissen müssen, dass ein hungriger, bösartiger Haufen aus den Slums den harmlosen Spaß in Entsetzen verkehren würde. Doch für die Mannschaft war Hernan gestern zum Helden aufgestiegen und somit von jeder möglichen Schuld freigesprochen.

      Als aus dem Gerangel auf dem Spielfeld eine brutale Prügelei geworden war, in die auch immer mehr mexikanische Zuschauer eingegriffen hatten, versuchte zunächst Bernal in seiner Funktion als Schiedsrichter, mit enormer Kraft und schnellen Fäusten, die feindlichen Parteien zu trennen, was misslang, da sich der anfängliche Pulk in mehrere Kampfgruppen aufgelöst hatte und er nicht überall sein konnte. Er selber hatte sich darauf beschränkt, beide Seiten in zweisprachigen Appellen zum Frieden aufzurufen und ab und zu einen Arm zurückzuhalten, der drohte, mit der Wucht einer Axt auf das Gesicht des gefallenen Kontrahenten niederzufallen. Hernan aber war wie aus dem Nichts aufgetaucht, hatte sich in die Mitte des Handgemenges geworfen und zunächst mit den Fäusten, dann mit einem Knüppel, der von wer weiß woher, in seinen Besitz gelangt war, Gassen zwischen die Feinde geschlagen und die verbissen wie hungrige Ratten ringenden Einheimischen zurückgedrängt – keinen Augenblick zu früh, denn jetzt tauchten bei diesen die ersten Messer auf. Dann hatte er mit Hilfe einer Pistole, von der auch später niemand zu sagen wusste, woher sie gekommen war, und seines Adjutanten Bernal, dem plötzlich ein Stilett in die Rechte gewachsen war, den Rückzug zum Mannschaftsbus gedeckt. Nachdem sie Stan ins Fahrzeug geschleppt hatten, übernahm er selbst zum ersten Mal wieder die Verantwortung, indem er hastig durchzählte und feststellte, dass keiner fehlte. Bernal startete blitzschnell und raste in derartigem Tempo davon, dass die von Hernans furiosem Auftritt noch einigermaßen schockierten Mexikaner kaum Zeit fanden, Steine, Flaschen oder Erdklumpen aufzuheben, um sie gegen die Karosserie zu schleudern. Ein paar Beulen gab es, doch die würden beim gegenwärtigen Zustand von Lack und Blech dem Vermieter bei der Rückgabe des Busses nicht weiter auffallen, zumal die Fensterscheiben heil geblieben waren.

      Überhaupt ihr Transportfahrzeug: Ein früherer Schulbus war innen umgebaut worden, indem man einfach jede zweite Sitzreihe entfernt hatte, was mehr Beinfreiheit zuließ, aber nichts daran änderte, dass sich ausgewachsene Männer in Schalensitze zwängen mussten, die für kleinere Hinterteile entworfen worden waren. Motor und Bremsen waren in Ordnung, wie Bernal nach einer Inspektion erklärt hatte, aber das Äußere wirkte, als stamme das Fahrzeug aus einem Kriegseinsatz. Die Karosserie wies tiefe Dellen auf, und wo ihn kein rotbrauner Rost durchbrochen hatte, war der grüne Lack mit Inschriften und Flecken in den verschiedensten Farben so dicht überzogen, dass man einen Tarnanstrich hätte vermuten können. Bernal, der sich bei aller Leichtfertigkeit in technischen Dingen als erstaunlich umsichtig erwies und später auch als sicherer Fahrer die Voraussagen Hernans widerlegen sollte, hatte sogar die Reifen überprüft und ihren Zustand für befriedigend befunden.

      Doch kurz bevor sie losfuhren, gegen Ende des gemeinsamen Frühstücks, geriet er doch noch in die Schusslinie. Elvis, der ihn nicht leiden konnte, wie einige andere auch, die dies aber weitgehend für sich