Jürgen Walter

Verbrannte Schiffe


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aufheben, das er dringend benötigte, um seine Einsamkeit zu verfluchen. Er stand wieder auf, bahnte sich den Weg durch die hektischen Massen, überquerte Straßen, in denen Fahrer mit dem Kopf auf der Hupe schliefen, während ihre Autos in Viererreihen zentimeterweit vorwärts geschoben wurden. Es gab kein Verweilen, keine Ruhe in diesem Moloch von Stadt, wo jeder Mensch in einer menschenfeindlichen Atmosphäre aus gelbgrauen Schwebstäuben täglich um sein Leben zu hasten schien. Er blickte in die Ferne oder vielmehr so weit, wie es der morgendliche Dunst und der industrielle Nebel zuließen: keine Spur vom gewaltigen Popocatépetl und „seiner Frau“ Ixtaccihuatl, nicht eine Ahnung von den mächtigen Gebirgszügen, die das Hochtal, das wie eine platte Ebene ohne Anfang und Ende wirkte, einrahmten, nicht einmal von der Sonne; man befand sich in den Tropen, und bekam einen Eindruck vom kalten, trüben Thule. Schließlich erinnerte er sich an eine Passage, unweit seines Hotels, wo er früher manchmal ein wenig Frieden zum Lesen gefunden hatte. Es war ein von ein paar sterbenden Bäumen flankierter Durchgang zwischen zwei wie üblich belebten Straßen hinter einem Sakralgebäude aus schwefelfarbigem Kalkstein, einer Kirche oder Klosterkapelle, den Rad- und Mopedfahrer ebenso mieden wie Händler mit ihren Karren und alte Leute, die nicht mehr gut zu Fuß waren, da mehrere kurze Treppen die Passage unterbrachen. Als er den Ort erreichte spielte nur ein Junge, der in der Schule hätte sein sollen, mit sich selbst Pelota, wobei ihn der gedämpfte Aufprall des weichen, mit flacher Hand geschlagenen Gummiballs auf den Kirchenmauern nicht weiter störte. Er setzte sich auf eine niedrige Vormauer, und obwohl es noch empfindlich kühl war, verfiel er in eine Art Halbschlaf, wobei ihm immer seltsam bewusst blieb, dass er sich den Grundstoff zu seiner Tagträumerei aus der eigenen Vorstellungswelt und vor langem gelesenen Geschichtsbeschreibungen zusammenholte.

      Wie musste der See im klaren Licht geglänzt haben, als Cortés mit seinen Truppen den Ufern entgegenzog und hinüber blickte zu der grandiosen Inselstadt, die über breite Dämme mit dem Festland verbunden waren. Nicht einmal einem Kurzsichtigem hätten Reichtum und kultischer Prunk von Tenochtitlan entgehen können, und kurzsichtig waren die Spanier nicht, zumindest nicht, wenn es um Gut und Gold ging. Die Azteken-Kapitale war mächtig, von zahllosen Kriegern verteidigt, durch ihre Lage nur schwer einnehmbar, aber sie bebte bereits, ihre Mauern atmeten den tödlichen Geruch einer Seuche aus, die, von den Sehern als göttliche Invasion angekündigt, trotzdem von den Kriegern bekämpft, wenn auch vergeblich, plötzlich und mit unfassbarer Gier nach dem Herzen des Landes griff. Und Cortés kam nicht allein. Am Ufer erschienen: Abenteurer, Söldner, Knechte, Rinderhüter und verarmte Angeber aus der Extremadura, jeder einzelne von ihnen noch wilder, verwegener und gieriger aussehend als ihr Anführer, der Erz-Conquistador, Abertausende von Indios, in der Mehrzahl Tlaxcalteken, die, von Cortés besiegt, geschont und zum Kriegspakt überredet, endlich die Gelegenheit sahen, ihre grausamen, wie sie meinten, schlimmsten Feinde, die übermächtigen Azteken ein für alle Mal in den Staub zu treten, nicht ahnend, dass auch sie bald als Leibeigene und Zwangsarbeiter den Weg in die Hölle würden antreten müssen. Die Spanier verhandelten und drohten, bauten Schiffe, machten Moctezuma zum Gefangenen, und das gewaltige Tenochtitlan zauderte, reagierte zu spät und verlor gegen die Zukunft. Auf dem Blutstaub, den pulverisierten Exkrementen und dem Salz des ausgetrockneten Sees errichteten die Nachfahren, nicht mehr ganz weiß oder rot von Angesicht, sondern mit fahlbrauner Hautfarbe, allmählich Megalopolis, das nach jedem Erdbeben, jeder Katastrophe größer und hässlicher wiederauferstand, das ein Zapata, der es erobert hatte, fluchtartig wieder räumte, weil er verhindern wollte, dass seine indígenas aus Morelos von dem Ungeheuer korrumpiert und verschlungen würden.

      Er hob den Blick. Vor ihm stand gebeugt ein dunkelhäutiger Mann in einer gestreiften Sarape , die nackten Füße in Sandalen, streckte ihm die Hand mit der Fläche nach oben und reckte ihm ein runzliges Gesicht mit Zahnstummeln in der Mitte entgegen. Ein ranziger Geruch nach Zwiebeln und schlechtem Magen streifte ihn, und als er den Bettler nach seiner Herkunft fragte, musste er erkennen, dass der Mann taub war. Er stammelte unverständliche Brocken und wies auf seine Ohren. Hastig fingerte er seine Geldbörse heraus, zog einen Schein aus dem Fach, drückte es dem Alten in die Hand, beinahe in Panik, da er weder Mitgefühl verraten, noch sich selbst eingestehen wollte, wie sehr ihm die späten Folgeerscheinungen der Conquista, so tief er sie auch bedauern mochte, auf die Nerven fielen. Der Mann, dessen Heimatdorf in Chiapas oder Quintana Roo liegen mochte, ein Maya-Nachkomme, der dunklen Hautfarbe, kurzen Statur und gestreiften Kleidung nach, humpelte davon, er aber erhob sich, denn der Strang seiner Phantasien war gekappt, Tenochtitlan konnte nicht gerettet werden; für wen auch?

      Er kehrte zum Hotel zurück, wo sich die ersten seiner Truppe zum Frühstück im Speissaal einfanden. Er erklärte ihnen, wie man Eier bestellt, huevos rancheros, Ochsenaugen in grüner oder roter Chili-Sauce, oder revueltos, Rühreier mit Maiskörnern und Paprika, begleitet von frijoles, brauner Bohnenpaste, an die sie sich schon noch gewöhnen würden. Er bezweifelte, dass sie sich am nächsten Morgen ihr Frühstück allein würden bestellen können, sie bauten auf ihn, schließlich „wurde er dafür bezahlt“. Mit einer gewissen Genugtuung bemerkte er, dass sie die Maistortillas und die Bohnen ebenso ablehnten wie er in früheren Zeiten. Sie hatten seine Erfahrung nicht: Die scheinbare Langweiligkeit des Geschmacks wich intensiv erinnerten Aromanuancen, wenn man erst einmal eine Zeitlang entwöhnt war. Wie ein Süchtiger versuchte man dann, irgendwo die runden Fladen und die zähe Pampe aufzutreiben oder ihren Geschmack in ähnlichen Zubereitungen wiederzufinden. Mit der Zeit lernte er, die Mitglieder der Gruppe zu unterscheiden, beobachtete einiges und erfuhr im Gespräch Weiteres. Ein rothaariger Freund des bulligen Torwarts Emil, einer der kleinen Scharfgesichtigen, fiel ihm unter den frühen Frühstücksgästen besonders auf. Die anderen nannten ihn Elvis, und er verfügte über einen schamlosen Slang und – vermutlich – über hohes Querulantenpotential. Der Mann mit dem dunklen Teint, der ihm in dem Zusammenschnitt des Endspiels aufgefallen war, weil er technisch gut spielte und kein Bier trank, dem sie, reichlich einfallslos, den Namen Ali gegeben hatten, obwohl er Rachid hieß, stammte aus Algerien, war aber schon mit fünf Jahren nach Europa gekommen, wie ihm erzählt wurde. Als die meisten im Speisesaal eingetrudelt waren, erläuterte er ihnen die Lage des Hotels und die interessanten Punkte in der Altstadt, das U-Bahn-System, warnte sie pflichtschuldig vor Taschendieben, Cantinas, dunklen Ecken, betrügerischen Geldwechslern, Nutten, die nicht nur HIV-positiv seien, sondern auch jede andere denkbare Geschlechtskrankheit übertrügen. Dann riet er ihnen, sich auf die Essgepflogenheiten der Einheimischen einzustellen und die comida corrida am Nachmittag zu nutzen, wenn alle Mahlzeiten besser und preiswerter seien als zu jeder anderen Tageszeit. Als er fertig war, merkte er, dass die Mehrheit nichts kapiert hatte oder zumindest nicht Willens war, irgend etwas vom Gehörten zu berücksichtigen. Mit einer gewissen Erleichterung sah er, dass er sich gar nicht erst als Fremdenführer, etwa für die Museen im Chapultepec-Park, anbieten musste; er hätte kaum einen Gefolgsmann gefunden. Er entließ sie in die große Stadt und sich aus der Pflicht, indem er ihnen viel Vergnügen wünschte, ein Faltblatt mit Lageplan des Hotels aushändigte und sie daran erinnerte, dass am nächsten Tag das erste Spiel bevorstehe. Anschließend hatte er frei, zumindest für drei Stunden. Dann nämlich sollte er die beiden spanischen Führer an der Rezeption des Hotels treffen.

      Immer wenn das graue Wetter in Ciudad de México herrschte, also die meiste Zeit, kam es ihm vor, als sei er nicht auf einem anderen Kontinent, sondern in einer alten übellaunigen Stadt Europas, Burgos in Kastilien oder Straßburg im Herbst, kurz vor dem Regen. Er hatte gelernt, dass Reisen zu einem Gutteil aus Vergleichen besteht, so wie das Leben aus Wiederholungen. Er kaufte sich eine Ausgabe von „La Jornada“ und trank einen starken Kaffee in einer kleinen Bar. Im Gegensatz zum frühen Morgen wusste er von jetzt an genau, wohin er wollte. Er sah auf die Uhr, die klassische Zeit für seine Cantina, der frühe Nachmittag, war gekommen. Der Lärm auf den Straßen hatte seinen alltäglichen Zenit erreicht; das Geschrei der Garköche, das Quietschen von Bremsen und Gejaule der Automaten aus den offenen Türen der Bars und Spielsalons begleiteten ihn auf seinem Weg, während das Geratter unsichtbarer Presslufthämmer ständig daran erinnerte, dass die Stadt eine der großen Baustellen der Welt war. Aber im Gegensatz zu diesem anarchisch wilden Leben stand ihre Bedeutung als gigantischer Friedhof der Hoffnungen junger Indianerinnen aus Tabasco, landmüder Campesinos aus Guerrero, ehemaliger Bergleute, die sich aus den Minen von Zacatecas und Guanajuato hierher geflüchtet hatten. Er konnte sie auf den Gehsteigen sehen, wie sie sich im scharfen Staub der