Jürgen Walter

Verbrannte Schiffe


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Fünfzig, sechzig schaffte er nur, aber die Pyramide des Quetzalcoatl mit den Nachbartempeln und den Gängen und Tunneln ließ er unter einem Hügel begraben, der einzigen Erhebung im Umfeld, von einer Basilika zu Ehren des milden Gottes der Christen gekrönt. Von dieser Anhöhe sieht man weit ins Land, wie er sich erinnerte, aber allzu gut mussten die Augen nicht sein, im Westen die Hochhäuser und rauchenden Schornsteine von Puebla de los Angeles zu erkennen. Dort wurden sie zum nächsten Spiel erwartet, aber erst morgen.

      Sie waren in einer Motelanlage mit Bungalows für jeweils zwei Mann untergekommen. Das Glück wollte es, dass er wegen der mittlerweile ungeraden Zahl ein Häuschen für sich allein beziehen konnte. Roter Teppichboden bedeckte eine Art Wohnzimmer, von dem drei Stufen zum Bad empor führten. Sah man von den Kaugummiresten im Vlies und dem Staub in den Ecken sowie den vorprogrammierten Porno-Videos, von denen es sich nur mühsam auf die normalen TV-Kanäle umstellen ließ, war die Unterkunft ganz in Ordnung, er fand sie im Vergleich zu früheren Absteigen, die seinem bescheidenen Budget entsprachen, sogar ziemlich luxuriös. Nachdem sie ihre Zimmer bezogen hatten, machten die meisten mit ihm einen fünfminütigen Bummel zum Zócalo, wo sie sich in eines der Straßencafés setzten und ihr erstes Bier zu sich nahmen. Einige versuchten sogar in Bananenblätter eingeschlagene Tamales mit Hühnerfleisch, ohne sich zu beschweren. Danach verstreuten sie sich in kleinen Gruppen in die umliegenden Straßen. Er verschwand ebenfalls möglichst unauffällig in einer der schnurgeraden Straßen, um gleich danach ein Haken um zwei, drei der rechteckig angelegten Häuserblöcke zu schlagen. Er war Gesellschaft nicht mehr gewohnt. Seit einigen Jahren traf er sich zu Hause nur noch mit wenigen Leuten, und auch das nur sporadisch. Nicht dass er dieses Alleinsein seit der letzten kurzen Beziehung mit einer Frau, die auch schon einige Zeit zurücklag, gemocht hätte, doch fand er keinen Zugang zu Menschen, die er nicht kannte, und die meisten Menschen, die er als Freunde oder zumindest Bekannte bezeichnet hätte, waren tot oder weit weg. Und die hier, seine Reisegefährten, empfand er als Personal einer Schmierenkomödie, deren Ende er herbeisehnte. Er musste sie noch ein paar Tage lang begleiten, dann würde er keinen von ihnen je wiedersehen – jedenfalls nicht, wenn es sich irgendwie vermeiden ließe. So war er froh, dem Pulk entkommen und in die Stille des Provinzstädtchens eintauchen zu können. Allerdings machte ihm die Präsenz der beiden Spanier Sorge. Während er nicht daran zweifelte, einen Ort zu finden, wo ihn die Deutschen nicht stören würden, war er sich nicht so sicher, ob ihn nicht Hernan und Bernal würden aufspüren können, zumal in einem Kaff wie Cholula. Und er fühlte sich vor allem in der Gegenwart Hernans nicht wohl. Dessen kryptische Bemerkungen waren ihm unangenehm, ängstigten ihn geradezu auf eine seltsame Art. Zudem glaubte er stets, der Iberer wolle ihn aushorchen, lächerlich machen oder herumkommandieren. Er traute Hernan einfach nicht, mutmaßte, das dieser ein eigenes, schmutziges, Ziel verfolgte, dass er auf eigene Rechnung spielte. Gegen Bernal dagegen hatte er überhaupt nichts, würde ihn auch für einen Abend als Gesprächspartner akzeptiert, ja sogar gewünscht haben, doch traten die beiden Spanier fast nur als Duo auf.

      Er lief vielleicht zwei Kilometer, bis er fast die östlichen Außenbezirke erreicht hatte. Dann fand er in einer Seitenstraße ein kleines Hotel mit Bar und einer Art Biergarten. Ein halbes Dutzend Tische aus Pinienholz wurde in einem schattigen Patio durch Rosen- und Hibiskussträucher voneinander abgetrennt. Stechpalmenreihen verliehen den so entstehenden Nischen zusätzlich den Charakter diskreter Separees. In einer Ecke des Hofes lärmten ein paar angeheiterte Einheimische, doch er setzte sich abseits an einen Tisch, so dass er weniger zu hören und nichts von ihnen zu sehen bekam.

      Ein junges Mädchen kam, er bestellte Bier und eine Torta mit Schinken und Guacamole. Er aß und lehnte sich dann zurück, genoss die Ruhe und den Blütenduft. Geckos huschten über die Mauern des Patios, im Gebüsch raschelte ein kleines Tier. Ende nächster Woche würde er zurück in Deutschland sein, mit Miller anrechnen und sein Honorar kassieren. Dann hätte er glücklich alles hinter sich, würde sich aber auch darüber freuen können, dass er noch einmal in Mexiko gewesen war, womit er nicht mehr gerechnet hatte. Den Gedanken, dass er sich auch wieder auf dem Amt arbeitslos melden musste, verdrängte er. Vielleicht würde das Geld ja reichen, noch eine Woche nach Spanien oder Portugal zu fliegen.

      Nach einer Weile ließ ihn etwas aus seinen Tagträumen hochfahren. Das Bier war warm geworden. Der Garten hatte sich einigermaßen mit Leuten gefüllt, die zur comida corrida, dem billigen Nachmittagsmenü, gekommen waren. Aber es war nicht der übliche Stimmenlärm, der ihn aufgeschreckt hatte. Vom Nachbartisch zur Linken war er durch ein Adobe-Mäuerchen getrennt, auf dem Tonschalen mit großen blauen Agaven standen. Er konnte deshalb zunächst nicht sehen, wer dort Platz genommen hatte, so wie auch er von der anderen Nische aus schwer zu sehen war. Er fand eine Lücke zwischen den fleischigen Blättern und riskierte einen Blick auf die Gäste am Nebentisch. Sein Gehör hatte ihn nicht getäuscht, die Stimme, die sich in sein halbwaches Bewusstsein gebohrt hatte, gehörte Hernan, der auf gleicher Höhe mit ihm an der Stirnseite mit ihm an der Stirnseite des Nachbartisches saß, den Rücken der Hauswand zugewandt. Hernan sprach mit einer Person, deren Gesicht im Schatten lag. Es war nicht Bernal, sein ewiger Schatten, sondern eine Frau. Diesmal müsst Ihr mir noch helfen, Doña Marina, sagte Hernan mit gedämpfter Stimme, doch die kastilischen Lispellaute trugen weiter als die Vokale, ganz im Gegensatz zum gutturalen Tonfall der Frau, die im mexikanischen Spanisch, aber in jenem schleppenden Rhythmus, der oft Menschen zueigen ist, die eine Sprache beherrschen, aber nicht in ihr erzogen wurden, antwortete. Es wäre mir lieber, wenn du mich wieder Malinche nennen würdest, sagte sie, ich bin zu meinen Anfängen zurückgekehrt. Sie rückte ein Stück weg von Hernan, und einen Augenblick fiel Licht auf ihr Gesicht, das schön und alterslos war, aber dennoch verlebt wirkte, das Gesicht einer dunklen Mestizin, nein, verbesserte er, der Lauscher und Späher in seiner Nische, sich: einer indígena. Wie du willst, sagte Hernan, aber denk daran, was du mir verdankst! Was denn? entgegnete sie. Gut, ein wenig Land, zwei Diener, ein paar Goldpesos, aber was habe ich dagegen eingetauscht? Von meiner Familie, meinen Leuten ausgestoßen und gehasst, von deinen Leuten verachtet, weil sie mich nicht aufs Kreuz legen dürfen.

      Er hätte sich gern unbemerkt entfernt, noch lieber wäre er unsichtbar mit am Nebentisch gesessen, um kein Wort zu versäumen von einem Drama, dessen Hintergründe ihm dunkel, aber auf unerklärliche Weise nicht völlig fremd waren; er hätte sich gern eingemischt, denn es schien ihm, als ginge es um die Gerechtigkeit zwischen Völkern, auch wenn sie nur von einer indianischen Edelhure und einem abgehalfterten spanischen Impresario repräsentiert wurden. So blieb er ruhig sitzen, und beobachtete, wie Hernans sonst unzugängliche, finstere Miene einen zugleich devoten und fanatischen Ausdruck annahm.

      Sie sind gegen mich, sagte der Spanier, alle, die vorher von mir lebten und – als wir das Unmögliche schafften - ihren Besitz aus meinen Händen empfingen. In Veracruz werden sie schon auf mich warten. Kaum an Land gegangen, haben sie nur ein Ziel, mir das wegzunehmen, was ich erworben und aufgebaut habe. Sie intrigieren in Madrid, und sie schicken Killer. Wenn ich keine Unterstützung bekomme, bin ich verloren, seid ihr verloren. – Ich habe euch schon einmal geholfen, euch gerettet. Dafür werde ich für alle Zeiten von meinen eigenen Leuten verflucht. Andere in diesem Land haben euch geholfen, sie sind im Elend gelandet. Nicht aus eigener Schuld, sondern weil sie betrogen worden sind, von dir. – Es war heiliges Gesetz, ich war das denen über mir und meinetwegen auch Gott schuldig. – Ohne mich wärst du verreckt, verscharrt und vergessen, aber während du deine Privatfehden geführt hast, bin ich ehelos, kinderlos geblieben, war das auch deinen Herren oder Deinem Herrn geschuldet? – Lass mich nicht im Stich, bleib bei mir, dieses eine Mal noch; wir werden ein anderes Leben führen, wenn alles ausgestanden ist. – Ich zweifle an einem anderen Leben für mich, an einem anderen Leben mit dir zweifle ich noch viel mehr. Aber gut, ich werde darüber nachdenken, und dir in Tlaxcala Bescheid geben, aber mach dir keine Hoffnungen. So, ich habe keine Zeit mehr.

      Es gibt nichts Schlimmeres, als einen Menschen, dessen inhumaner Willenskraft und Bedenkenlosigkeit man fürchtet, seit man ihn kennt, plötzlich verzweifelt zu sehen, mit flehender Stimme sprechen zu hören. Kurze Zeit überwiegen die Schadenfreude und das Vergnügen, eine eherne Fassade als Gips bröckeln zu sehen, dann aber schleicht sich die Erkenntnis ein und nimmt Besitz von Herz und Hirn, dass man ein ziemlicher Wurm gewesen sein muss, vor dieser erbärmlichen Figur zu zittern, und noch schlimmer: dass man nicht sicher ist, ob sich der Wurm einem selbst gegenüber nicht wieder zu einer ehernen Figur aufrichten