Eva Eichert

Alte Seelen I: Die Macht der Erinnerung


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Schankraum schweifen, beobachtete die blassen Gesichter der grölenden Menge und runzelte die Stirn. Auch der Band sah man mittlerweile eine gewisse Müdigkeit an, außer Bjorn, der jetzt erst richtig loszulegen schien.

      „Der Sog ist unglaublich“, murmelte Vivien.

      „Ich sagte doch: Er ist alt.“

      Sie nickte nachdenklich und nippte an dem Whisky, der ihr von Arthur gereicht wurde.

      „Er bringt uns übrigens noch einen vierten.“

      „Wer?“

      „Von Falkenberg.“

      Arthur runzelte die Stirn. „Seit wann interessiert sich der Snob für die Dormitoren?“

      Vivien warf ihm einen kurzen Blick zu, bevor sie den Rest des Glases hinunterstürzte und etwas zu laut auf dem Tresen abstellte.„Keine Ahnung. Aber irgendwas ist da im Busch. Jedenfalls trifft er sich immer häufiger mit Ernest.“

      „Vielleicht begibt er sich doch endlich mal unters niedere Volk.“ Arthur gab sich nicht die geringste Mühe, den Spott in seiner Stimme zu verbergen.

      Vivien lächelte. „Das wird sich wohl nie legen.“

      Er schielte sie über den Rand seines Whiskyglases an. „Was?“

      “Der Streit zwischen euch.“

      „Er ist ein arroganter Arsch“, murrte Arthur.

      Vivien hatte keine Lust, sich auf diese endlose Diskussion einzulassen. Statt zu antworten schulterte sie ihre Tasche und schob den Umschlag noch ein Stück weiter über die Theke.

      „Ach so, du weißt es vielleicht noch nicht, aber Ernest besteht auf ein Treffen.“

      „Wann?“

      „Morgen Abend. Viel Glück mit dem Jungen, Arthur.“

      Er griff über die Theke und hielt sie am Arm fest. „Ich muss dich noch um einen kleinen Gefallen bitten, Viv.“ Seine freie Hand holte unter der Theke einen Gegenstand hervor, der in ein fleckiges Küchentuch eingeschlagen war. „Könntest du das hier für mich zum Gut bringen? Vielleicht kann unser Nachtvogel was damit anfangen.“

      Vivien nahm es entgegen. „Was ist das?“

      “Bjorns Küchenmesser.“

      Sie nickte und ließ das Handtuchpaket in ihrer Tasche verschwinden. Arthur zwinkerte ihr zum Abschied noch einmal freundschaftlich zu, bevor er den Umschlag an sich nahm und mit ihm in einem kleinen, spärlich eingerichteten, staubigen Raum verschwand, welchen er als sein Büro bezeichnete.

      London, 08. August

      Bjorn tigerte durch sein kleines Apartment und kaute nachdenklich an einem Bleistiftstummel. Er hatte wieder intensiv geträumt, wie so oft nach erfolgreichen Auftritten, und war genauso enthusiastisch aufgewacht, wie er eingeschlafen war. Was ihn zum Schreiben weiterer Songtexte anregte, war eine merkwürdige Mischung aus Adrenalinrausch und dem, was er später als innigste Liebe erkennen würde. Bjorn war süchtig. Süchtig nach jener Musik, die ihm ein Gefühl gab, welches er andernorts bisher nie gefunden hatte. Das Gefühl, zu Hause zu sein.

      Die Türklingel riss ihn aus seinen Gedanken und löschte damit jene Zeile des Textes in ihm aus, an welcher er gerade noch zwanghaft festgehangen war, noch bevor er sie zu Papier bringen konnte. Bjorn fluchte leise in sich hinein und betätigte den Knopf der Sprechanlage.

      „Ja?!“, blökte er erbost.

      „Ich bin‘s“, hörte er die Stimme von Arthur Kruger, und seine Wut war genauso schnell erloschen, wie sie entfacht worden war. Er drückte den Knopf und ein ächzendes Knirschen verriet ihm, dass Arthur die marode Eingangstür aufgestemmt hatte. Einen kurzen Augenblick versuchte er, seine vorherigen Gedanken zu rekonstruieren, bevor er den Bleistiftstummel zwischen den bunte Haufen aus benutztem Geschirr, Zigarettenkippen, leeren Bierflaschen und Notizen warf, der sich auf dem Küchentisch angesammelt hatte, und die Apartmenttür öffnete.

      Es dauerte einige Augenblicke, bevor die muskulöse Gestalt Arthurs auf der Treppe auftauchte.

      „Morgen“, begrüßte ihn Bjorn freudig und trat ein Stück zur Seite, um seinen Gast einzulassen.

      „Na, Kleiner“, murmelte Arthur, während er den Jungen im Vorbeigehen mit leichtem, fast väterlichem Druck am Oberarm berührte.

      „Kaffee oder Bier?“

      „Kaffee!“ Arthur hob abwehrend die Hände. „Kaffee reicht, um die Uhrzeit.“

      Bjorn suchte zwischen den Müllbergen auf der Küchenablage seine einzige Tasse und spülte sie aus.

      Arthur räumte einige schmutzige Klamotten vom Sitz des einzigen, doch sehr wackligen Stuhls am Küchentisch beiseite und setzte sich.

      „Sorry, hab nicht mit Besuch gerechnet“, murmelte Bjorn etwas zu hektisch und füllte den Wasserkocher auf.

      „Kein Problem. Hat sich ja nicht viel verändert seit dem letzten Mal“, lächelte Arthur. Dass Bjorn durch seine Anwesenheit verlegen wurde, war ein gutes Zeichen.

      „Ist Instantkaffee okay? Ich hab keine Maschine.“

      Arthur machte eine beruhigende Geste. „Um sechs Uhr morgens trink ich alles, was Koffein enthält.“

      „Ich hab weder Milch noch Zucker.“

      „Bist ja auch kein Weichei“, brummte sein Überraschungsbesuch und schob einige Zigaretten­stummel beiseite, die immer wieder von dem Berg, welcher den Aschenbecher unter sich begraben hatte, herunterrollten.

      Bjorn stellte die Tasse vor ihm ab und griff nach dem obersten Blatt seiner Notizen.

      „Ist noch nicht fertig“, murmelte er und nahm es mit auf die verzweifelte Suche nach einem Löffel.

      Arthur zog ein Taschenmesser hervor und rührte damit seinen Kaffee um, bis sich das Instantpulver vollends aufgelöst hatte. Bjorn wurde endlich fündig, warf den Löffel jedoch achtlos in die Spüle, als er das Messer bemerkte.

      Der junge Musiker überlegte kurz, griff schließlich nach seinem einzigen übrigen Trinkgefäß, einem Bierkrug mit angetrockneten Schaumresten, spülte ihn kurz aus und rührte sich darin selbst einen Kaffee an.

      „Ich habe noch einiges aus meinen alten Beständen im Keller“, murmelte Arthur, während er seinen kochend heißen Kaffee schlürfte. „Tassen, Gläser, ein paar Stühle und so'n Zeug. Wenn du willst, kannst du dich da mal umschauen.“

      Bjorn schlürfte leicht angewidert an dem viel zu bitteren Gesöff, welches dennoch den Beigeschmack von altem Bier und schlecht abgespülter Seife nicht übertünchen konnte, und zuckte mit den Schultern.

      „Wenn du’s wirklich nicht mehr brauchst, gerne“, erwiderte er und griff nach dem Tabak, den er auf dem Kühlschrank abgelegt hatte. „Aber deswegen bist du nicht hier, oder?“

      „Nein, deswegen nicht“, lächelte Arthur und zog einen großen, leicht zerknitterten Umschlag aus dem Innenfutter seiner Lederjacke.

      Bjorn zog die Stirn in Falten. „Was ist das?“

      „Sieh es dir an.“

      Bjorn schob sich die inzwischen fertig gedrehte Zigarette in den Mundwinkel, nahm den Umschlag entgegen und zog die rechte Augenbraue nach oben, als er den Absender las.

      „St. George, Secondaryschool?“ Er blickte Arthur zweifelnd an. „Das ist nicht dein Ernst, oder?“

      „Mein voller Ernst“, erwiderte Arthur ohne eine Miene zu verziehen. „Na los, mach auf.“

      Bjorn öffnete den Umschlag und hielt einen Stapel von Informationsmaterial in den Händen, zusammen mit einem Brief, der ihm die Aufnahme aufgrund eines Schreibens bestätigte, welches er selbst nie abgeschickt hatte.

      „Nicht