Eva Eichert

Alte Seelen I: Die Macht der Erinnerung


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bissig, weil er dir nicht traut.“

      „Das ist sein Problem.“

      „Kannst du nicht einfach mal mit ihm reden? Ich meine, ohne ihn gleich zu beleidigen.“

      Nathaniel wandte sich um und lächelte verächtlich. „Und dann was? Soll ich dem Hund einen Knochen schenken, damit er mit dem Schwanz wedelt, wenn er mich sieht?“

      Vivien öffnete den Mund, fand jedoch keine Worte.

      „Einen schönen Abend, Vivien.“

      „Aber …“

      Der Chauffeur ließ Nathaniel einsteigen, ohne sich seine Mütze endlich aus dem Gesicht zu ziehen.

      „Er wird irgendwann vergessen, dass ihr auf derselben Seite kämpft!“, rief sie ihm beinahe flehentlich hinterher.

      „Wenn es soweit ist, werde ich ihn nicht vermissen“, gab Nathaniel zurück, bevor der Fahrer die Wagentür auf sein Zeichen hin schloss und seinerseits einstieg.

      Steve Harsen

      Plymouth, 14. August

      In Devon konnte man in diesem Sommer von einem typischen Londoner Regenschauer nur träumen. Seit Wochen war keine Wolke mehr am Himmel zu sehen und das Dartmoor wirkte wie eine ausgetrocknete Savanne. Die unzähligen Wildpferde rückten den umliegenden Höfen immer näher und mischten sich frech unter die Weidekühe, um sich an deren Tränken zu laben. Die Bauern waren die sommerlichen struppigen Gäste bereits gewöhnt und fühlten sich mehr geehrt als beraubt, dass die scheuen Tiere sie besuchten.

      Wenn man in die Küstenstadt Plymouth hineinfuhr, stellte man schnell fest, dass die erhoffte Abkühlung durch die Atlantiknähe ausblieb. Die Luft hatte zwar ihren typischen salzigen Geschmack, doch zwischen den Häusern der Innenstadt war es nahezu windstill. Die einzigen, die sich über das Wetter freuten, waren die unzähligen Touristen aus aller Herren Länder, die sich entweder an dem steinigen Strand tummelten oder sich in den kühlen Gemäuern der Sehenswürdigkeiten aufhielten.

      Steve Harsen lungerte am Hafen von Plymouth herum und beobachtete gedankenversunken die Dockarbeiter, die bei jeder noch so kleinen kühlen Brise vom Meer erleichtert inne hielten. Der Neunzehnjährige interessierte sich nicht für die Seefahrt oder irgendetwas, das damit zu tun hatte. Dennoch zog es ihn immer wieder hierher, wo er neidvoll die abfahrenden Schiffe beobachtete, wie sie den Hafen verließen und irgendwann in weiter Ferne hinter dem Horizont verschwanden. Obgleich er England noch nie verlassen hatte, konnte man die Sehnsucht in ihm nicht anders denn als Heimweh bezeichnen, und er konnte sich nicht erklären weshalb. Irgendwo hinter dem großen Ozean, wo der ewige Streit mit seinen Eltern in weiter Ferne liegen würde.

      Er hatte keine Ahnung, wieso er immer so gereizt auf sie reagierte. Manchmal reichte schon die Frage, was er gerne essen würde, damit er aus der Haut fuhr, und er hatte weder für sie noch für sich selbst irgendeine Erklärung für sein Verhalten. Er fühlte sich wie ein Puzzleteil, das von einem ungeduldigen Spieler mit dem Absatz seines Schuhs in ein völlig anderes Bild gehämmert wurde, nur um ein Loch zu stopfen. Er blickte auf seine Armbanduhr, griff grübelnd in seine Hosentasche und betrachtete die Handvoll zerknüllter Scheine in seiner Hand. Man könnte es vielleicht Harmoniebedürfnis nennen, das ihn dazu veranlasste, seiner Mutter einen Strauß Blumen zu kaufen, um den gestrigen Streit über die üblichen Banalitäten zu schlichten. Es war nun einmal so, dass sie zusammen leben mussten, und wie so oft, war er entschlossen, dass es so nicht mehr weitergehen konnte. Vielleicht sollte er sich endlich auf eigene Füße stellen, oder für ein Jahr in die USA gehen und herausfinden, wieso es ihn so sehr dorthin zog.

      Eine Stunde später schlenderte Steve die Citadel Road hinunter. Er freute sich bereits auf ihr Gesicht, wenn er ihr den hübschen Strauß überreichte, und grübelte über die richtigen Worte nach, als ein ohrenbetäubender Knall ihn aus seinen Gedanken riss.

      Schwarzer Rauch stieg hinter der Straßenbiegung auf. Im ersten Moment dachte er an die Saint Andrews Primary School, doch die lag noch weit dahinter. Es war mehr in der Nähe seines Wohnhauses. Steve spürte seinen Herzschlag bis zum Kehlkopf hinauf, während ihn seine Füße immer schneller die Straße entlang trugen. Das war bestimmt die Bäckerei nebenan, versuchte er beim Rennen sich selbst zu beruhigen, als er mit voller Wucht gegen einen ausgestreckten Arm prallte, der aus dem Windfang einer Eingangstür hervor geschnellt war. Einen Augenblick lang folgten seine Beine noch ihrer ursprünglichen Geschwindigkeit, bis sie begriffen, dass der Oberkörper ihnen nicht mehr folgte. Steve krachte rücklings auf den steinigen Boden und schlug hart mit dem Kopf auf den Pflastersteinen auf. Keuchend versuchte er seine Atmung wiederzufinden, als eine verschwommene Gestalt in einem langen dunklen Ledermantel ihn packte und mit gekonntem Griff über die Schultern legte. Steve röchelte, während ihn die Gestalt in eine schwarze Limousine setzte und die Tür von außen schloss.

      „Fahr los“, wies Herr von Falkenberg seinen Fahrer an, und die Limousine setzte sich mit quietschenden Reifen in Bewegung.

      „Halten Sie sofort wieder an! Meine Eltern sind da drin! Halten Sie verdammt nochmal an!“ Steves Stimme überschlug sich vor Angst.

      Die Limousine schlingerte, als sie den entgegenlaufenden Passanten auswich, die in Richtung des Brandes rannten.

      „Du kannst ihnen nicht mehr helfen.“

      Der Heranwachsende kniete sich auf die Rückbank. Verzweifelt versuchte er irgendwo zwischen den Schaulustigen seine Eltern zu entdecken. Im rauchenden Schatten der Eingangstür bewegte sich eine Gestalt, doch es war ein Fremder, der aus dem Haus trat. Er schien vollkommen unverletzt, hustete noch nicht einmal. Als er sich umsah, trafen sich einen kurzen Moment ihre Blicke, und Steve hatte den Eindruck, dass der Mann nicht erfreut war, ihn in dem Wagen zu sehen.

      „Sie … sie sind nicht draußen …“, Steve ließ sich kraftlos auf den Sitz zurück rutschen.

      „Du hast sie doch sowieso nicht geliebt“, behauptete Herr von Falkenberg mit eisigem Lächeln, während der Wagen in den Kreisverkehr der Milbay Road abbog und das Geschehen hinter sich zurückließ.

      „Sie waren das!“ Die Worte pressten sich nur mühsam an dem stetig wachsenden Kloß in Steves Hals vorbei.

      Nathaniel lehnte sich entspannt zurück, während der Fahrer den Wagen gekonnt um die nächste Kurve schlittern ließ, und gleich darauf das Gaspedal erneut bis zum Boden durchtrat.

      Steve starrte ihn fassungslos an. „Ich habe Sie was gefragt!“

      Als sein Gegenüber noch immer nicht antworten wollte, holte er wutentbrannt mit der Faust aus. Doch bevor er zuschlagen konnte, stürzte er in eine bodenlose Finsternis. Unheimliche Stimmen flüsterten ihm in einer grauenerregenden Sprache zu. Steve merkte, wie alles in ihm bleiern schwer wurde.

      Als er wieder zu sich kam, hatte er jegliches Zeitgefühl verloren, doch die Stimme von Falkenbergs ließ ihn aufhorchen.

      „… eine Bombe. Seine Eltern sind dabei umgekommen.“

      „Oh, mein Gott. Und der Dormitor?“, fragte eine knisternde Stimme aus dem Lautsprecher.

      „Ist bei mir.“

      Steve lag auf der ledernen Sitzbank entgegen der Fahrtrichtung. Langsam setzte er sich auf. Die Sonne war mittlerweile untergegangen, und das Dartmoor schlummerte unter einer Decke nächtlicher Nebelschwaden.

      „Sie haben sie umgebracht.“ Seine Stimme war so heiser, dass sie kaum mehr als ein Flüstern war.

      Statt einer Antwort legte sich der Mann nur mit einer kurzen Geste den Zeigefinger auf die Lippen, um ihm anzudeuten, dass er still sein solle.

      „Wie geht es ihm?“, wollte die Stimme wissen.

      „Er ist gerade wieder zu sich gekommen.“

      „Hört er mit?“

      „Ja.“

      „Steve?“, wandte