Eva Eichert

Alte Seelen I: Die Macht der Erinnerung


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auf die Küchenablage. „Ich wäre also nicht der einzige Volldepp.“

      „Wenn ich das glauben würde, wäre ich nicht hier.“

      „Und was soll ich damit? Ich bin Musiker, verdammt!“ Es war das erste Mal, seit er den hartgesottenen Altrocker kannte, dass er sich nicht verstanden fühlte. Schlimmer noch. Arthur hatte ihn einfach ohne zu fragen angemeldet. Bjorn fühlte sich hintergangen!

      „Genau deswegen“, erwiderte Arthur ruhig. „Du hast ein unglaubliches Talent, Junge. Aber für manche Dinge reicht das allein nicht aus.“

      „Was meinst du damit?“, patzte Bjorn zurück.

      „Dass es in der Musikbranche nur so von Arschlöchern wimmelt, die clever genug sind, um dein Talent in Gold zu verwandeln und dich wie eine Kuh zu melken.“ Arthur stand auf, griff nach den Unterlagen und drückte sie Bjorn unsanft vor die Brust. „Das hier ist dein Schlüssel zur Unabhängigkeit. Denk also darüber nach, welche Art von Musiker du sein möchtest. Einer, der auf alle anderen scheißen kann, oder eine missbrauchte Hure, die irgendwann auf den Müll geschmissen wird.“

      Mit diesen Worten verschwand er ohne sich zu verabschieden und ließ Bjorn grübelnd in seinem Apartment zurück.

      *

      In stimmungsvoll gedämmtem Licht saß Ernest Bernstein am Abend in seinem alten Ohrensessel im Wohnzimmer seines Hauses, vollkommen in die melodiösen Worte Shakespeares vertieft. Er liebte den alten Meister, dessen Stücke so voller Leidenschaft schicksalhafte Ereignisse erzählten. Geschichten, in denen der Triumph des Guten mit dem tragischen Tod der Helden einherging.

      „Und wessen Worte haben dich dieses Mal daran gehindert, mich zu begrüßen?“

      Ernest ließ das Buch auf seinen Schoß sinken und sah auf. Nathaniel lehnte mit verschränkten Armen am Kaminsims und lächelte geduldig.

      „Shakespeare, König Lear“, antwortete er andächtig

      „Ah … Halt, was du verheißt – Verschweig, was du weißt – Hab mehr, als du leihst...“

      „Du hast es gelesen?“

      „Gesehen.“

      „In meinen Augen seine beste Tragödie.“

      „Die größte Tragödie ist die Schwäche des Königs.“

      „Er ist nicht schwach, Nathaniel. Nur ein alter Mann, der geliebt werden möchte.“

      „Macht und Liebe passen nun mal nicht gut zusammen.“

      „Wie konnte ich nur annehmen, dass du das verstehst?“, schmunzelte Ernest.

      Nathaniel verzog den Mundwinkel und blickte zu der großen Standuhr, die hinter Ernest mit schwerfälligem Pendel auf neun Uhr zuächzte.

      „Ist es wahr, was ich gehört habe?“, fragte er leise, ohne seinen Blick von der Uhr zu wenden.

      Ernest musterte ihn neugierig. „Was hast du denn gehört?“

      “Einer der Dormitoren wurde von einem Schemen angegriffen?“

      Der Buchhändler nickte und griff nach Pfeife und Tabak.

      „Beunruhigend“, murmelte Nathaniel und Ernest stimmte durch ein erneutes Nicken zu, während er alte Tabakreste aus der Pfeife kratzte und sie über dem Aschenbecher ausklopfte. „Offensichtlich wird die Sphäre immer dünner. Das ist jetzt schon der sechste Angriff dieser Art.“

      Von Falkenberg sah Ernest erstaunt an. „Der sechste?“

      “In Deutschland und in Kanada gab es ähnliche Phänomene. Aber das war das erste Mal, dass sie auf einen Dormitoren los sind.“ Ernest sog an seiner Pfeife.

      „Man könnte fast meinen, dass der Astralraum aus allen Nähten bricht“, warf Vivien ein, die gerade in der Tür auftauchte und die letzten Fetzen des Gesprächs mit angehört hatte.

      Nathaniel begrüßte sie mit einem respektvollen Nicken.

      “Was ist mit Arthur?“, wollte Ernest von ihr wissen.

      “Ist auf dem Weg hierher“, entgegnete sie.

      Eine halbe Stunde später waren endlich alle im Wohnzimmer versammelt, und Arthur berichtete von seinem Besuch bei Bjorn.

      „Und was ist, wenn er sich dagegen entscheidet?“, fragte Vivien, als er geendet hatte.

      „Das wird er nicht, glaub mir.“

      „Gut.“ Ernest goss sich einen Tee ein und stellte die Kanne zurück auf den Tisch. „Dann haben wir sie ja zusammen. Albert wird sich darum kümmern, dass die beiden in der Klasse irgendwie zusammenfinden, und Vivien sorgt für die Annährung. Fehlt nur noch der Dormitor, den Nathaniel aufgespürt hat.“

      „Ich werde ihn in wenigen Tagen abholen“, erwiderte Nathaniel.

      „Darf ich mal fragen, seit wann du dich um Dormitoren kümmerst?“ Arthur warf Nathaniel einen heraus­fordernden Blick zu.

      „Nur, wenn ich der Meinung bin, dass es sich um jemand Besonderes handelt.“

      „Erzähl mir keinen Scheiß. Wenn es tatsächlich so wäre, hätte sich deine Aufmerksamkeit wohl eher auf Bjorn gerichtet.“

      Von Falkenberg linste mit einem leicht spöttischen Lächeln zu Arthur hinüber. „Nur weil er irgendwann einmal ein dreckiger kleiner Häuptlingssohn aus einem Volk war, dessen Name sich unter anderem durch ihre Trinkgefäße verbreitete?“

      „Was willst du damit sagen?!“

      „Du redest wie ein Greis, der versucht, durch seine Enkel seine eigene ruhmreiche Jugend zurück zu holen“, erklärte Nathaniel. „Es ist nun mal nicht jeder, der in irgendeiner längst vergessenen Inkarnation zu den Nordmännern gehörte, in diesem Leben zu großen Taten bestimmt. Und um dir diese Tatsache einmal deutlich vor Augen zu führen, fällst du mir als bestes Beispiel ein.“

      Es war nur der Bruchteil einer Sekunde, die das stolze Feuer vergangener Zeiten brauchte, um Arthur auf die Beine zu bringen und Nathaniel den Kaffeetisch mit einem wütenden Brüllen entgegen zu schleudern. Der Bruchteil einer Sekunde, der für Ernest und Vivien vollkommen ausreichte, ihren Tee aus der Gefahrenzone zu retten.

      Mit einer schlichten Geste ließ Nathaniel den Tisch in der Luft zerbersten, noch bevor er ihn erreichte. Durch die Splitterwolke hindurch schnellte Arthur ihm entgegen und packte ihn an der Gurgel.

      „Das hätte ich schon viel früher tun sollen“, grollte er und drückte mit eisernem Griff zu. Doch das Lächeln Nathaniels wollte nicht verschwinden. Stattdessen schlängelten sich in dessen Augen pechschwarze hauchdünne Gebilde. Arthurs Geist verlor sich in einer immer dichter werdenden Finsternis. Jeder Muskel in seinem Körper erschlaffte, bis er kraftlos zu Boden sank. Er röchelte leise, während sich die Wirkung langsam auf seine inneren Organe ausbreitete und selbst Lungen und Herz ihren Dienst zu versagen drohten.

      „Nathaniel!“ Ernest warf ihm einen scharfen Blick zu.

      „Wenn du meinst“, murmelte er. Die Schwärze verschwand aus dessen Augen, und gab die Energien des Altrockers wieder frei.

      Arthur atmete tief durch, bevor er überhaupt versuchte, sich wieder auf die Füße zu stellen.

      „Ich denke, dieses Treffen ist damit beendet“, erklärte Ernest, „und von dir erwarte ich morgen einen neuen Tisch, Arthur.“

      Von Falkenbergs Limousine parkte gegenüber dem Haus. Sein Chauffeur hatte es sich auf der Motorhaube bequem gemacht und die Mütze weit ins Gesicht gezogen. Als sich sein Arbeitgeber nährte, sprang er sofort auf und deutete mit zwei Fingern ein militärisches Salut an.

      „Nathaniel!“ Vivien eilte hinter ihm her.

      Von Falkenberg hielt inne.