Nieke V. Grafenberg

Die Efeufrau


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für den täglichen Wasservorrat und sah an ihm vorbei aus dem Fenster. „Der Rucksack ist ziemlich schwer, weil er immer sein Zelt dabei hat.“

      „Was wiegt der denn so, haben Sie eine Ahnung?“

      „So um die zweiundzwanzig Kilo“, gab Eva zur Antwort und sah Ernst zuerst ohne, dann mit Rucksack ihre Personenwaage besteigen.

      “Ist er häufig allein unterwegs?“

      „Erst in den letzten Jahren ...“, Herr Kommissar lag ihr auf der Zunge, aber das Schildchen, es fehlte, nichts deutete auf seinen Dienstgrad hin, „ ... erst seit er regelmäßig wandert.“

      Sie holte tief Luft.

      „Er geht allein, damit er sein Tempo selbst bestimmen kann.“

      Und weil er nicht reden will, fügte sie im Geiste hinzu, jedenfalls nicht mit mir.

      „So, so.“ Sein gespaltenes Kinn hob sich, er wiederholte wie zu sich selbst: „Hm, ja, er geht also gern allein. Und der Zeitraum seiner Abwesenheit, war der vorher genau festgelegt?“

      „Haargenau. Mein Mann druckte aus, an welchem Wochentag er sich wo befinden wollte. Reliefkarte und Zeitplan, ich kann sie Ihnen zeigen. Schon seine erste Wanderung kam auf den Tag genau hin. Nina ...“ Eva wandte sich ihrer Tochter zu, konnte deren Blick aber nicht einfangen, „Nina hat damals täglich Fähnchen gesteckt, und als er das erste Mal anrief, stimmten sie in jedem Punkt mit seinem Streckenplan überein. Mein Mann ist auf die Stunde genau im Urlaubshotel eingetroffen.“

      Abgemagert, durchtrainiert und sexuell ausgehungert. Eva ertappte sich, wie sie auf den gebräunten Hals ihres stämmigen Gegenübers starrte. Wie eine römische Säule ragte er aus dem weit geöffneten Hemdkragen. Sie errötete, als sie seinem aufmerksamen Blick begegnete. Rasch senkte sie die Augen auf ihre fest verschränkten Hände.

      „Das war unser Urlaubshotel in Kärnten. Eine Familienwoche im Anschluss, darauf haben wir uns alle gefreut! Und mein Mann konnte sich, wenn er denn wollte, bei weniger anspruchsvollen Wanderungen erholen.“

      Als er schwieg, fuhr sie hastig fort: „Im Jahr darauf haben die Kinder und ich dort wieder die Ferien verbracht. Im selben Hotel, denn die zweite Wanderung, die führte meinen Mann nach Genua. Von dort aus nahm er den Abendzug nach Villach, wo wir ihn abgeholt haben.“

      Wandern macht süchtig, Eva meinte es zu wissen. Ernst war süchtig geworden, wie berauscht war er aus dem Zug gestiegen, hatte sie alle umarmt und im selben Atemzug angekündigt, dass er jetzt jedes Jahr losziehen wolle. Sie könne ja mit, obwohl er wusste, ihre Begeisterung für das Wandern hielt sich in Grenzen.

      „Hat er sich denn damals gleich gemeldet?“

      Der Beamte wippte mit der Rückenlehne. Er wippte und schaute von Nina zu ihr, diesmal blieb sein Blick an Nina hängen. Die sah aus, als sei sie den Tränen nahe. Sie presste die Lippen zusammen, schüttelte heftig den Kopf, brachte aber kein Wort heraus, und Eva beeilte sich mit der Antwort: „Nein, nicht gleich. Ich habe alles versucht. Er schien sich nicht vorstellen zu können, dass wir uns Sorgen machten!“

      Nina zog geräuschvoll die Nase hoch, Eva unterbrach sich. War das ein Zeichen, dass das Kind doch noch sprechen würde? Doch Nina wischte sich nur mit dem Handrücken die Nase und sah den Beamten von unten herauf schief an. Ihr beharrliches Schweigen füllte den Raum. Und während er ungerührt ihren Blick erwiderte, kroch es wie Nebel in alle Ecken, wurde undurchdringlich wie schmieriger Londoner Fog. Evas Hand fuhr zum Hals, als drohe sie zu ersticken. Dann erinnerte sie sich, wo sie war. Sie riss sich zusammen und ließ die Hand in den Schoß sinken.

      „Selbstverständlich fürchteten wir, es könne ihm etwas passieren, so allein. In den Medien wird ja häufig genug von Bergunfällen berichtet. In meiner Not habe ich ihm sogar gedroht, wir würden die Bergwacht informieren, falls er sich nicht alle zwei Tage meldet!“ Eva schüttelte ratlos den Kopf. „Ich hatte gehofft, das würde ihn aufrütteln, aber auf dem Ohr war er taub. Ob im Ernst oder Spaß, kein Versuch hat gefruchtet. Wie sollen wir ruhig schlafen können, habe ich zu bedenken gegeben, wenn du dich wochenlang so allein in den Bergen amüsierst und nicht meldest!“

      Der letzte Satz, er klang irgendwie falsch, der Beamte hob seine Brauen. Wieder wollten Evas Füße sich selbständig machen, sie zwang sich zur Ruhe, noch musste sie ausharren, an Flucht war nicht zu denken.

      Wenn du dich wochenlang so allein in den Bergen amüsierst ...

      Hier im faden Neonlicht des streng möblierten Büroraums klang die Formulierung viel zu neckisch - ein misslungener Versuch zur Diplomatie, die ihr ohnehin nicht in die Wiege gelegt war. Dem Wesen nach war sie viel eher geradeheraus, nicht unbedingt jedermanns Sache, das wusste sie wohl. Aber Ernst hatte so seine wunden Punkte. Wie oft in der Vergangenheit hatte sie sich Kontrollversuche vorwerfen lassen müssen, wie oft hatte sie sich gezwungen gesehen, ihn bei Stimmung zu halten! Einmal schlecht gelaunt, verzog er bei der pragmatischsten Frage den Mund. Ihr: Wo gehst du hin? zum Beispiel, wenn er mit dem Schlüsselbund rasselte! Hatte sie seinen bitterbösen Blick verdient, nur weil sie wissen wollte, wie lange er wegblieb, und ob sie pünktlich zum Essen mit ihm rechnen konnte?

      „Mein Mann wehrte sich dagegen, seine Route, wie er es nannte, nach Telefonzellen auszurichten. Sein Tagespensum hatte Vorrang, das spulte er ab. Und wenn es dunkelte, baute er sein Zelt auf, damit er hineinkriechen konnte, bevor es endgültig finster war.“

      „Trug er denn keine Taschenlampe bei sich?“

      Ungläubig runzelte der Beamte die Stirn, als Eva den Kopf schüttelte. „Und ein mobiles Telefon, wie ist es damit? Haben Sie ihm das niemals vorgeschlagen?“ Er angelte sich einen angenagten Bleistift und kaute selbstvergessen darauf herum.

      „Selbstverständlich“, sagte Eva mit Nachdruck, „und nicht nur einmal! Nein, nein, der Rucksack sei schwer genug. Er würde sich rechtzeitig melden und basta. - Nun ja“, seufzte Eva, „drei oder vier Tage ohne Nachricht - ob es uns passte oder nicht, damit mussten wir uns abfinden!“ Sie suchte Ninas Blick. „Natürlich haben wir ungeduldig auf seinen ersten Anruf gewartet, aber Sorgen im eigentlichen Sinn haben wir uns keine gemacht. Bisher ist ja auch alles gut gegangen.“ Evas Stimme wurde flach. „Aber acht Tage ohne Lebenszeichen, das ist noch nie dagewesen!“

      Der Beamte schien unbeeindruckt, ein neues Strichmännchen gesellte sich zu den anderen. Ein Nachbar hatte sich interessierter gezeigt.

      „Hat Ihr Mann angerufen? Kommt er gut voran?“

      „Ich denke schon ... na ja, eigentlich warten wir noch auf Nachricht.“ Eva hatte herumgedruckst und sich gewunden. „Wissen Sie, er ruft nicht allzu oft an, wenn er wandert ... Ich nehme an, er wird sich heute noch melden.“

      Sie hatte zusehen können, wie seine freundliche Miene sich verdüsterte. Weil du zu Hause bleibst - der geheime Vorwurf stand ihm auf die Stirn geschrieben. Sie hatte sich unwohl gefühlt, als er in sie drang: „Haben Sie denn gar keine Lust mitzuwandern?“

      „Hatten Sie denn nie Lust mitzuwandern?“

      Eva schrak zusammen. Konnte ihr Gegenüber Gedanken lesen?

      „Mitwandern? Ich?“, echote sie. „Ja, vielleicht! Aber wenn, dann ohne Gepäck!“

      Sie zögerte, lächelte ein wenig verlegen.

      „Na ja, abends möchte ich duschen können, daraus habe ich nie ein Hehl gemacht. Und warm essen. Mein Mann hingegen liebt es ganz ursprünglich. Und seinen Tagesdurchschnitt, den schaffe ich ohnehin nicht. Dreißig Kilometer und mehr, je nachdem, damit wäre ich total überfordert gewesen.“ Eva rutschte auf ihrem Stuhl hin und her. „Ich hätte mich als Klotz am Bein gefühlt.“

      Lächelte der Beamte in seinem Drehstuhl? Er legte den Bleistift aus der Hand, streckte die Beine unter den Schreibtisch, führte die Hände im Nacken zusammen und dehnte sich ausgiebig. Als er die Arme auf die Stuhllehnen sinken ließ, rutschte sein Sakko auf den gesprenkelten Boden.

      „Und was haben Sie üblicherweise gemacht, während er weg war?“