Nieke V. Grafenberg

Die Efeufrau


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haben ebenfalls Touren gemacht, Tagestouren zu Fuß oder mit dem Auto“, antwortete Eva. „Abends waren wir immer erreichbar. Bei Bedarf hätte er im Hotel anrufen können, egal wo, in wenigen Stunden wären wir bei ihm gewesen.“

      „Hat er aber nicht gemacht. Er hat immer bis zum Endpunkt durchgehalten.“

      Ninas kleines Kinn hob sich dem Kriminalbeamten entgegen. Ihre Handrücken ruhten auf den Oberschenkeln, die Finger schlossen und öffneten sich, als wolle sie den Vater herbeiwinken. Sie sagte trotzig: „Er war nämlich topfit!“

      Der Beamte schien überrascht, seine plötzlich hellwachen Augen ruhten auf Nina, die wieder teilnahmslos aus dem Fenster sah.

      „Das ist wahr, er hat lange vorher dafür trainiert, ist gelaufen und Fahrrad gefahren“, schaltete Eva sich ein, „aber trotzdem. In Kärnten fühlte ich mich einfach näher für den Fall“, sie befeuchtete ihre trockenen Lippen, „nun ja, für den Fall, dass etwas passiert, das ist ja nicht immer auszuschließen! Und außerdem - das Hotel ist so schön, auch für die Jugend war immer was los!“

      „Aber in diesem Sommer, Frau Brandner, sind Sie nicht dorthin gefahren. Hat das einen besonderen Grund?“

      „Ja, schon. Meine große ... äh - unsere große Tochter Anna ist ...“

      Eva unterbrach sich. Das Sakko auf dem Linoleum, er bückte sich danach, hängte das lässige Kleidungsstück an das Drehkreuz des hohen weißen Fensterrahmens.

      Ernst mochte es nicht, wenn sie meine sagte. Meine Hochzeit, meine Kinder, mein Haus ... Er behauptete, dass es am Einzelkind lag, das sie war, das nicht teilen konnte. Was sie stets von sich gewiesen hatte, wollte sie sich doch keinesfalls als Egoist abgestempelt sehen. Es war nun einmal so, das Mein war ihr unendlich viel geläufiger als das Unser, aber Ernst wollte sich nicht damit abfinden, immer wieder hatte er sich beißend zur Wehr gesetzt.

      „Dein Kind hat angerufen, es kommt heute später“, oder „dein Kind hat eine Fünf geschrieben, es braucht Nachhilfeunterricht.“

      Sein: „Deine Tochter in Australien hat angerufen, du musst ihr Geld überweisen“, obwohl er alle finanziellen Angelegenheiten regelte, war noch gar nicht so lange her.

      Eva sah zu, wie der Beamte wieder Platz nahm. Sie krauste die Stirn und setzte neu an: „Anna ist für ein Collegejahr in Australien. Wir hatten verabredet, dass wir sie dort besuchen. Aber ... mein Mann“, ein Zögern, beinahe hätte sie unser gesagt, „mein Mann hat sich kurzfristig anders entschieden, er wollte nicht auf seine Wanderung verzichten.“ Sie sah dem Kriminalbeamten offen in die Augen. „Es ist mir nicht gelungen, ihn zum Mitkommen zu bewegen, und so ganz allein wollte ich nicht verreisen, eine Freundin begleitet mich jetzt.“ Seinem Blick folgend, nickte sie dem gesenkten Kopf ihrer Tochter zu. „Nina bleibt hier, wegen der Schule. Reisebeginn ist gegen Ende der Sommerferien.“

      Wenn mein Mann wieder da ist, hätte Eva gern ergänzt, fand es aber der Situation nicht angemessen. Also senkte sie die Augen und hielt den Mund.

      „Seine Pläne ...“, der angenagte Bleistift klickte ein paar Mal gegen die makellosen Vorderzähne eines kräftigen Gebisses, „könnte Ihr Mann seinen ursprünglichen Plan geändert haben? Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht?“

      Eva und Nina sahen auf.

      „Geändert? Er? Seine Pläne?“

      Verdattert blickte Eva erst ihn an, dann Nina, die mit offenem Mund dasaß.

      „Das kann ich mir nicht vorstellen. Er hat immer durchgezogen, was er sich vorgenommen hat!“

      Er sah sie schweigend an und plötzlich verstand sie. Sie waren absolut kein Einzelfall, im Gegenteil, sie waren tagtägliche Routine! Abwarten, der Mann dieser Frau ist erwachsen, kann machen, was er will ... Vielleicht ist der Kerl unterwegs versackt ... Oder er hat die Frau seines Lebens getroffen ... Nichts ist unmöglich, alles schon einmal da gewesen ... - das waren die Dinge, die ihm durch den Kopf gehen mussten!

      „Frau Brandner“, ein Ruck, sein Oberkörper kam ihr entgegen, „heute ist Freitag, und wie die Dinge liegen, sollten wir das Wochenende verstreichen lassen. Sagen wir Montag. Falls Sie bis dahin kein Lebenszeichen erhalten, rufen Sie mich gleich morgens an ... persönlich.“

      Er schob ihr sein Kärtchen hin: Rolf Zacher, Oberkommissar, die Durchwahl dick unterstrichen. Weil Eva auf ihrem Stuhl sich nicht rührte, erhob er sich halb aus seinem Sitz, reichte ihr quer über den Schreibtisch die Hand.

      „Ich verstehe ja, Sie machen sich Sorgen, aber in Ihrem Fall ist das wohl kaum angebracht.“

      Er nickte Nina aufmunternd zu.

      „Dein Vater ist gesund und fit, er wird sich bestimmt bald melden.“

      Dann wandte er sich an Eva.

      „In der Zwischenzeit sollten Sie sich trotzdem umhören. Freunde und Verwandte ... womöglich hat er sich ja bei jemandem gemeldet?“

      Er griff zum Telefonhörer und sprach hinein.

      „Wir sind hier soweit, schickt mir doch mal den Jan vorbei.“

      Aus und vorbei, sie waren entlassen.

      Der junge Polizist begleitete Mutter und Tochter zum Ausgang. Während sie schweigend den langen Flur durchschritten, dem Augen und anderen Sinnen entzogenen Sommertag entgegen, nahm Eva aus den Augenwinkeln die abweisend glatten Flurtüren wahr. Sieben Zellentüren, allesamt grau in grau. Zügig ließen sie eine nach der anderen hinter sich, rückten den wärmenden Sonnenstrahlen mit jedem Schritt ein kleines Stück näher. Ihr uniformierter Begleiter hatte den Kopf zur Seite gewandt, beäugte Nina mit unverhohlenem Interesse. In dem extrem weiten T-Shirt mit den verrutschten Schulternähten wirkte sie wie ein Kind, das Kleidung eines älteren Geschwisterteils auftragen muss. Abgetragene Joggingschuhe zu überlangen, ausgefransten Jeans erzeugten den Eindruck von Ärmlichkeit und täuschten darüber hinweg, dass ihr Aufzug keinesfalls zufällig war. Trotz des Sommertages trug sie Evas kratzige Burberry-Jacke lässig hingeworfen über eine eckige Schulter.

      Ninas Miene, wie sie so neben Eva her zum Auto trottete, war die eines verdrossenen, der Erwachsenenwelt überdrüssigen Teenagers, der jegliche Einsichtnahme in sein Innenleben verweigert. Während Eva den Wagen anließ, sprach Nina mit tonloser Stimme wie zu sich selbst:

      „Er hat sich so gut wie keine Notizen gemacht.“

      „Das macht er, wenn er für sich ist, da bin ich mir sicher!“, sagte Eva schnell und warf ihrer Tochter einen aufmunternden Seitenblick zu.

      „Macht er nicht, Mama!“

      Ninas Kopf flog in den Nacken.

      „Der denkt doch, der Papa ist abgehauen!“

      DREI

      „Bist du fertig mit essen?“

      Eva rang sich ein Lächeln ab. Sie erhob sich vom Küchentisch, tat die wenigen Schritte zur Terrassentür und wuchtete das mächtige Schiebeelement auf. Achtzehn Quadratmeter nicht überdacht, aufgrund der Hanglage ruhten die äußeren Ecken ihres Balkons auf Stockwerk hohen Pfeilern - wie eine Plattform schwebte er über Hortensienbüschen und Rasen. Jetzt, gegen Abend, lag er im Schatten des Nussbaums. Eine leichte Brise fuhr in seine Krone, Blattwerk raschelte, gierig sog Eva die frische Luft ein. Kopfschmerzen bahnten sich an, Nervenenden im Hirn lagen bloß, bei der geringsten Bewegung klickten sie aneinander wie die an Drähten baumelnde Stahlkugelriege auf dem eichenen Schreibtisch von Ernst.

      Klack – klack - klack ... fünf glänzende Kugeln, glatzköpfig, stahlhart. Plötzlich war Eva wieder ein Kind, sie musste die Finger zur Hilfe nehmen. Vater und Großvater, kleiner und Ringfinger, mit ihrer Umklammerung verbannte sie die Erinnerung. Der Mittelfinger kam dazu: Paul, der aus England stammte und sich wegen der großen Entfernung und einer quirligen Engländerin verabschiedet hatte, sie waren Freunde geblieben. Vor ihm und nach ihm und immerzu Till, viele lange Jahre. Evas Zeigefinger