Melissa Jäger

Raetia


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Junge mit schulterlangen blonden Haaren. Er trug eine Tunika mit blau-rotem Rautenmuster, die von einem bronzeverzierten Gürtel zusammenhalten wurde und einen Kapuzenumhang, den Kapuzenmantel. Seinen Hals schmückte ein gedrehter Bronzering. In lässig schwingendem Gang kam er auf die Gruppe um Alpina und ihre Familie zu. Knuse legte ihm den Arm um die breiten Schultern.

      „Das ist Remi, mein Enkel. Ich denke, er kann seinen Vater nicht leugnen, oder Elvas?“

      Alpina sah Tränen in den Augen ihrer Mutter glitzern als diese den jungen Mann betrachtete. Mit belegter Stimme antwortete sie: „Oh ja! Remi, du siehst deinem Vater unglaublich ähnlich!“

      Neugierig betrachtete Alpina den jungen Mann, dessen Anblick ihre Mutter zu Tränen rührte. Seine tiefblauen Augen strahlten Ruhe und Gelassenheit aus. Auf seinen Wangen zeigte sich ein beginnender Bartwuchs, und die langen Haare hielt er mit einem Lederband über der Stirn im Zaum. Als er Elvas und Alpina begrüßte, entblößte er eine kleine Lücke zwischen den Frontzähnen. Höflich verneigte er sich und hörte sich pflichtschuldig die Erklärungen seines Großvaters an. Doch sobald dieser fertig war, verabschiedete er sich wieder und kehrte zu seinen Freunden zurück.

      Das Fest begann mit einem Eröffnungstanz der Frauen, der von einigen Musikern mit Flöten und Trommeln begleitet wurde. Rhythmisches Stampfen und Klatschen der Männer und wiederholte Positionswechsel im Kreis machten den Tanz turbulent. Schließlich wechselten die Männer ins Kreisinnere und drehten sich mit den Frauen sehr schnell im Kreis. Immer wieder wechselten die Tänzer aneinander vorbei, reichten sich die Hände, lösten sie wieder, lachten und sangen.

      Die jungen Leute klatschten und wippten im Takt mit. Nach einer Weile verstummte die Musik, und die Tänzer bildeten einen großen Kreis. Nun waren die jungen Leute dran. Estas nahm Alpina bei der Hand und zog sie in die Mitte. Mit denselben Tanzschritten wie vorher die Erwachsenen vollführten sie nun ihren Kreistanz. Die Musiker, die die Tänze begleiteten, gerieten ebenso schnell ins Schwitzen wie die Tänzer.

      Alpina haderte mit ihrem langen, ungewohnten Gewand und den neuen Tanzschritten. Bislang hatte sie nur zugesehen, und während Estas, Etuni und Secunda in den vergangenen Wochen Gelegenheit gehabt hatten zu üben, waren die Schrittkombinationen für Alpina neu. Doch bald lernte sie die Abfolge der Schritte, Drehungen und Wechsel. Sie begann Spaß am Tanzen zu haben. Als sie sich zum Ausruhen hinsetzte, lächelte Etuni ihr zu. „Du machst das schon richtig gut, Alpina!“, lobte das pausbäckige Mädchen mit den zwei langen blonden Zöpfen.

      Alpina bedankte sich und stürzte gierig das kühle Essigwasser hinunter, das Elvas ihr anbot. Die Bauch- und Kopfschmerzen waren vergessen.

      Wieder und wieder wurde sie aufgefordert mitzutanzen, und bald beherrschte sie die beliebtesten und wichtigsten Tänze.

      Gegen Abend wurde den Göttern für das gute Wetter gedankt, das die reiche Ernte möglich gemacht hatte. Brot, Getreide und Kränze aus Stroh und Blumen wurden geopfert. Dann entzündete Lasthe unter gesungenen Gebeten die Scheiterhaufen.

      Als Alpina an diesem Abend erschöpft ins Bett fiel, war sie sehr glücklich. Selten hatte sie so einen schönen Tag erlebt. Wenn das der Anfang des Erwachsenenlebens war, freute sie sich auf den Rest. In ihren Träumen tanzte sie weiter. Sie tanzte, tanzte, tanzte.

      Monat August, am III. Tag vor den Iden des August

      Die vierte Stunde musste bereits begonnen haben, denn die Sonne stand schon hoch am Himmel und wärmte das Langhaus am See der Wirmina. Vor der Tür des Hauses war das Alltagsleben in vollem Gange, als Alpina den Fuß über die Schwelle setzte. Ihre Augen mussten sich zunächst an den gleißenden Sonnenschein gewöhnen. Knuse und Remi hatten ihren Fang vom Morgen bereits auf der Darre ausgebreitet und eingeschürt. Dunkler Rauch stieg auf, und der würzige Geruch von geräuchertem Fisch zog in die Nase der Nachwuchshebamme. Remi schüttelte die blonden Haare und band sie mit dem Lederband erneut aus dem Gesicht. Er grinste Alpina an.

      „Na? Endlich ausgeschlafen? Ich habe bereits gefischt und dem Großvater beim Einschüren geholfen.“

      Sein freches Grinsen und die schalkhaft funkelnden Augen provozierten das Mädchen. „Willst du demnächst den Kindern auf die Welt helfen? Dann werde ich für dich Fischen gehen!“

      Remi lachte jetzt hellauf. „Oh, nicht böse werden! Ich gönne dir deinen Schlaf! Ich hätte heute auch gerne länger geschlafen, doch Großvater hat so eine Art inneren Gockel. Der weckt ihn immer zur gleichen Zeit.“

      Alpina setzte sich auf die Bank vor dem Haus und genoss den Blick über den See.

      „Wo sind Pertha und deine Mutter?“, fragte sie.

      „Die sind zum Beeren pflücken gegangen. Wenn wir Glück haben, gibt es nachher einen guten Kuchen!“ Er machte eine reibende Bewegung über seinem Bauch.

      Alpina war empört. „Ohne mich? Oh, wie schade! Da wäre ich gerne dabei gewesen!“

      „Das kannst du doch immer noch machen. Beeren gibt es noch länger. Ich dachte, weil es so heiß ist, gehen wir schwimmen. Du kannst doch schwimmen, oder?“

      Alpina schüttelte den Kopf. „Nein, woher auch. Bei uns im Likias ist es zu gefährlich, und in der Frauentherme ist keine Piscina. Ich war ohnehin noch nicht so oft dort.“

      Remi blickte zunächst ein wenig ratlos drein, dann lachte er. „Macht nichts! Ich bringe es dir bei, es ist nicht so schwer!“

      Alpina lief rot an. „Es gehört sich doch nicht für mich, oder? Ich muss mich doch ausziehen!“

      Der junge Mann zuckte die Achseln. „Kein Problem. Ich drehe mich einfach um, wenn du dich ausziehst, und im Wasser sieht man ohnehin nichts mehr. Der See ist viel zu trüb. Außerdem kannst du ja die Unterwäsche anlassen. Komm!“

      Er lief bereits los, und Alpina blieb nicht viel Zeit zu überlegen. Sie wollte ohnehin gerne schwimmen lernen. Na also, nun bekam sie die Gelegenheit dazu.

      Am Ufer zeigte Remi ihr zunächst einige Trockenübungen. Er demonstrierte den richtigen Arm- und Beinschlag und ließ Alpina üben. Um den Beinschlag zu trainieren, sollte sich Alpina bäuchlings über seinen Einbaum legen und wie ein Frosch strampeln. Beide kugelten sich vor Lachen. Dann ließ Remi den Einbaum zu Wasser und stieg ein.

      „Hier ist es sehr seicht. Du kannst bis fast zum Ende des Stegs gehen, ohne schwimmen zu müssen. Dort beginnen wir. Ich nehme den Stecken, mit dem ich sonst das Boot antreibe. Den halte ich vor dich hin. Wenn du nicht mehr kannst, greifst du zu und hältst dich fest!“

      Alpinas Augen weiteten sich vor Angst. Er hatte gut reden! Das klang so einfach, aber was, wenn sie es nicht schaffte?

      Remi redete ihr gut zu und stakte dann mit dem Boot ein Stück am Steg entlang.

      „Ich drehe mich jetzt um. Du kannst dich ausziehen und ins Wasser gehen. Wenn du soweit bist, dass du schwimmen willst, sag Bescheid!“

      Er drehte sich weg, und Alpina zog den Gürtel und die Tunika aus und legte beides beiseite. In Unterhose und Brustbinde stieg sie ins Wasser. Es war furchtbar kalt. Alpina biss die Zähne zusammen und watete ins tiefere Wasser. Der schlammige Seegrund presste sich zwischen ihren Zehen hindurch. Sie schauderte. Als das kalte Wasser ihren Bauch erreichte, quietschte sie hell auf. Remi lachte.

      „Nun los! Schnell rein, dann ist es nicht so schlimm! Geh einfach in die Knie, dann ist es gleich gut!“

      Alpina tat wie geheißen, stieß einen kleinen Schrei aus und war bis zum Hals im Wasser.

      „Du kannst dich umdrehen!“, lachte sie fröhlich.

      Remi drehte sich zu ihr. Er wiederholte die Anweisungen, wie sie schwimmen sollte, und Alpina versuchte es. Hektisch und viel zu schnell machte sie drei Schwimmzüge, schluckte Wasser und musste husten. Dankbar klammerte sie sich an den Stab.

      „Du kannst hier noch stehen. Probiere es mal!“

      Tatsächlich, ihre Füße fanden den Boden, der hier kiesbedeckt und nicht mehr